Rudolf Jankowsky
Mein Masurenbummel
Meine Reise, oder richtiger gesagt, mein Bummel durch Masuren im Sommer 1897, soll in den nächsten Zeilen von mir erzählt werden. Auch meine tief innersten Gedanken bei den mannigfachen Eindrücken sollen verschwommen auftauchen; damit ich später mein kalt und alt gewordenes Herz erfreue an meinen Jugendfreuden und Jugendträumen. Sollte einer meiner Freunde dieses zu lesen bekommen, so lege er es sofort hier aus der Hand, falls er ästhetische, kritische, moralische und faustische Betrachtungen anstellen will.
O selig ein Fuchs noch zu sein!
Schon lange lebte das Sehnen in meiner Brust, zu wandern, zu wandern, so weit der Himmel blau, das Feld so grün ist, und es freundliche Menschen gibt. Und als dann die vielen Studentenlieder, eines schöner wie das andere, mein Herz und Sinn gefangen nahmen, da war es beschlossene Sache, in den Sommerferien nach dem viel gepriesenen Masurenlande aufzubrechen und das viel besungene Wandern und so es sich fügen sollte, auch die Liebe "in praxi" durchzumachen.
Doch handelte es sich noch immer um das "Wie", denn etwas Geld musste ich doch haben, um nicht gleich von vorn herein alle Puste zu verlieren. Da muss sich meiner ein Gott Hermes erbarmt haben, wie einst des Odysseus, denn er schickte mir einen Rehbock im Walde in den Weg, ein so auffälliges und dort seltenes, wie willkommenes Ereignis. Was soll ich über meine Freude sprechen; wer nicht selbst mit verbissener Zähigkeit dem Wilde nachgestellt, wer nicht selbst das Herzklopfen und das Blutrauschen gefühlt hat, während er anschlug, dem würde ich ja doch unverständlich sein. Hier sprach nun der materielle Wert auch mit. Endlich hatte ich doch einige Mark bei mir, unabhängig von meinem Vater, dem das Geldgeben von jeher ein Greuel gewesen ist.
Mit Windeseile versuchte ich meinen Rower, die alte treu gediente Dürrkopps-Diana reitfähig zu machen, vergebens und wieder vergebens. Da, ein Fußtritt, und per pedes los. Zwar konnte das Geld nicht ausreichen, aber erstens wollte ich pumpen wo es möglich war und zweitens verließ ich mich darauf: Ist das Geld zu Ende, so vermietest dich auf irgendeinem Hofe auf drei Tage als Arbeiter und machst weiter. Die erste Meile von Hause konnte ich zufällig auf unserem Fuhrwerk fahren. Während nämlich mein Vater, der mir die Reise strenge untersagt hatte, auf dem Felde war, winkte ich mir einen Jungen heran, ließ den Kleinwagen anspannen und hast du nicht gesehen, schon war ich davon. Später konnte er ja doch nur gute Miene zum bösen Spiel machen und "absolvo" sagen. Als ich den Wagen verließ und so mir das letzte Stück von "Zu Hause" unter den Füßen entschwand, ach, wie federten die Schritte dem nächsten Reiseziel Gumbinnen zu, wie leicht schwang ich den wuchtigen Knotenstock, der ein ganz passendes Gegenstück zu meiner ledernen Tasche und meinem lieben alten, verblichenen, grünlich aussehenden Hute bildete, um mich einem reisenden Handwerksburschen höchst ähnlich zu machen. Doch umso lieber war es mir.
Ich hätte fliegen mögen weit über die rauchige Stadt da unten, über die Wälder drüben am Horizonte, immer weiter und weiter. Denn nun musste es ja kommen, das Einnehmen der Mädchenherzen im Fluge, und das Abschiednehmen mit einem Küsschen für den Mund, einer Knospe fürs Knopfloch, einem lachenden Lockenbild für die Erinnerung und einem neuen Liebessprudelchen im Herzen. Doch trotz meines wilden Heißhungers nach Erlebnissen, mit dem ich gierig umherspähte, konnte ich außer einem alten Mütterchen mit erschrecklich vielen Runzeln und einer Krähe nichts Bemerkenswertes entdecken; und so schwang ich mich kurz entschlossen auf einen Wagen, der mich einholte, zu einem verdutzten Bäuerlein.
Nachdem ich ihm mit der wichtigen Miene eines alten, gewiegten Praktikers einige Belehrungen über Landwirtschaft erteilt hatte, schieden wir. Doch nach einem merkwürdigen Umstand: Beim Hereinfahren in die Stadt kam das ebenso dumm wie hochmütige Frl. K. in einer Karosse angefahren. Ach wenn ich nur hätte ausdrücken können, wie sehr wurscht es mir war, dass sie mich in dem unansehnlichen Wagen sehen konnte und ihr hochmütiges Schafsgesicht aufzusetzen Gelegenheit hatte. Und doch stieg ich in einer der ersten Querstraßen ab, weil mir der Aufzug zu wenig prunkvoll war.
Nach einigen Besuchen traf ich auch meinen ehemaligen Freund, den jetzigen Masuren B. doch wie anders war mir schon da, obgleich wir auf der Schule ein Herz und eine Seele gewesen waren. Einen feudalen Hut und Rock, tadellose Beinkleider, durchaus schneidige Haltung zierten ihn; mein vergrünter Hut, das verwilderte (beinahe) Wettergesicht passten allerdings wieder besser zu meinen Idealen vom Burschentum, von urwüchsiger Ungebundenheit. Kurz er "Korpsstudent" und ich "Fahrender Schüler".
Und so war denn auch das erste Wort: "Mensch, in so einem Hut würde ich mich schämen auf die Straße zu gehen". Doch in Erinnerung der alten Zeiten blieb ich ihm zu Liebe den Nachmittag und Abend in Gumbinnen.
Zusammen ging es zu dem so genannten Schlachtkonzert, dieser Titel ist gewissermaßen das Sammelsignal für die Gumbinnener bessere Jugend, die sich dabei in einem Poussier-Korso herumbewegt. Dabei hatte ich von neuem Gelegenheit zu sehen, wie viel dem Menschen die Wirklichkeit und wie viel der Poesie und seine Gedanken wert ist. Denn die sehnsuchtsvollsten Melodien, die noch am meisten den Weg zum Herzen gefunden, verhallten nur von wenigen gehört, von einzelnen empfunden. Rastlos bewegte sich der Corso der Jünglinge und Jungfrauen durch Blicke und Winke die Sehnsucht befriedigend, die in dem jungen, blühenden Menschenleben wohnt.
Die schöne Nacht lud mich ein, die 4 Meilen nach Darkehmen zurückzulegen, doch nahm ich das Anerbieten einer befreundeten Familie an, bei ihnen zu übernachten, und erst am nächsten Morgen früh erst dorthin mit einem ehemaligen Schulkameraden zu gehen. Er sang und pfiff Märsche immerzu, schrie Commandos; und machte sich in jeder Weise auf der öden Chaussee bemerkbar.
Die Sonne versendete glühenden Brand und nach 3 Meilen ermattet sanken die Knie. Doch nahm uns jetzt ein des Weges daher kommender Zug auf und fuhr nach Darkehmen, über eine sehr kurze, aber 90 Fuß tiefe Eisenbahnbrücke, die höchste in Deutschland, die zweithöchste der Welt, wie die Darkehmer voll Selbstgefühl jedem Fremden versichern. Vom Bahnhofe geht es dann noch 2 - 3 km bis zur Stadt, (wahrscheinlich hat man auf ein sehr schnelles Aufblühen derselben gerechnet).
Ach, die wurden heiß und lang. Endlich und plötzlich erschien die kleine Stadt selber in der Thalsohle der Angerapp, wie eine rote Perle in grüner Schale, dieser Vergleich drängte sich mir geradezu auf. Schön ist die Lage von Darkehmen im Thal.
Zu einem Apotheker, oder vielmehr zu dem Apotheker ging ich hinein, die Adresse meines Bekannten Post-Beamten Herrn Riel zu erfahren. Der war nicht zu Hause und in der freundlichsten Art nötigte mich indessen der Apotheker zu Mittag. Ich aß ein ganzes Huhn auf und sättigte den furchtbaren Hunger. Dann schleifte mich der Apotheker in das Hotel, wo ich auf seine Kosten durch mächtiges Saufen imponierte. Dann fand sich auch Riel ein, der einzige annehmbare Verehrer in Darkehmen, der aber auch nun in folge dieser Männerteuerung beneidenswert beschwärmt wird.
Den Nachmittag benutzten wir zu einem Ausfluge nach einem 3/4 Meilen entfernten Gutshofe, dessen junger Sohn mit mir geochst hatte ... Der Vater groß, mit einigem Wissen für Politik, praktisch wie selten einer, die Mutter klein und kleinlich, die Söhne nicht besonders begabt, so wie es auf manchem Gutshofe aussehen mag. Wir blieben da zur Nacht, um nächsten Morgen unaufhaltsam aber auch ungehalten nach Darkehmen zurück zu fahren. Denn dort hoffte ich doch endlich das Mädchen näher kennen lernen zu können, das oft so wonnig errötete, auch gestern beim Vorbeigehen. Eine Menge Vorzüge hat sie sicher, abgesehen von ihren rosigen Wangen, ihrem wonniges Gesichtchen, dem feinen Mund, der so klar von ihrem weichen tiefen Gemüte spricht, ihres Auges süßer Macht, darin ich schon manchmal mich hätte hinein versenken können. Dann manche resolute Züge die ich erfuhr, die mich wieder umso mehr erfreuten. Doch musste auch diesmal wieder so geschieden sein aus Darkehmen.
Den Abend verbrachten wir zusammen auf der Kneipe und ich lernte das Leben und Treiben kennen. Dasselbe Streben, Rivalisieren in der Gesellschaft wie in der großen Welt nur gewissermaßen mikroskopisch klein. Auch sogar Comment, Ehrenhändel, Liebeshändel wird hier in idyllischer Perspektive geübt, und einige versauerte Akademiker haben den staunenden Spießern auch eine ungefähre Vorstellung von dem Werte der Semester beigebracht; und so lebt alles in dem rosigen Neste im grünen Thale versteckt und gemütlich weiter. Da gibt es keine Agitation, "dort kann man gar nicht reden", möchte ich den parodierten Tannhäuser parodieren. Aber das Glück, das hohe, tiefe Glück, dort wird es durch die kleinen Kleinigkeiten des Charakters, den man viel nennt und wenig kennt, doch zernagt und unmöglich gemacht. Auch dort gibt es klatschsüchtige Frauen, mürrische Vorgesetzte usw.
Und wenn man dann nachts von hohem Berge so ein kleines friedliches Nestchen daliegen sieht, halbversteckt im grünen Thale, umschlängelt von einem spiegelklaren Flüsschen und wenn dann so ein leises Weben rings von der Welt herauf geht, das dieser sagt: "zufrieden atmet die Natur", nein, der tiefe Schmerz ist es, der alle Kreatur durchzittert, der über das dunkle Erdenrund schwebt; da unten in den kleinen dunklen Hütten, da ruhen die Tagelöhner. Tagsüber haben sie in viehischer Stumpfsinnigkeit die Bäume an der Chaussee geschlagen, um Brot zu haben, der tadellose Lehrer kam mit seinem wohl gepflegten Bauche, sagt sie haben ihre Pflicht getan, es sind brave Männer: Dieser Hohn, der viel zu ernst ist, um ihn lächerlich zu nehmen; sprich doch mal mit einem dieser Leute ob er's aus Pflichtgefühl tut. Ein wahnsinniges Gelächter würde er anstimmen , wenn er seine Unrast ganz erfassen könnte und dir seine blutigen Fingernägel, seine verwitterten Hände vor die Augen halten könnte und würde dir seine Hütte zeigen mit der Armut und dem widerlichen Geruch der Armut.
Und fragen würde er dich klugen Mann: Was tust du denn für größeres Stück in der geistigen Arbeit dass du vor uns soviel voraus hast. Oder so ein anderer kluger Mann der Katheders äußert sich über die Streikenden: Ganz gemeine wortbrüchige Menschen sind es - Ach es muss ja dahin kommen; wie einst die beleidigte Natur das Vorrecht der Geburt (Adel) vor Hundert Jahr wütend zerbrach, so wird es auch hier bald heißen. ... Arbeit ist Arbeit, und jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert.
Was haben ferner jene Unglücklichen gethan, die dort in den Giebelfenstern ihr Licht brennen bei Romanen oder sonst, dass sie ihr Leben vertrauern müssen, die lieben alten Jungfern. Wenn man sich doch stets gegenwärtig hielte, welch ein reiches Liebesbedürfnis diesen einsamen Menschen meistens inne wohnt, dass sie ihre Hunde und Katzen haben müssen, um doch etwas lieben zu können, das sich ihre Liebe nicht verbittet das auch nur die geringste Dankbarkeit zeigt, wie diese tief, tief zu beklagen sind, wie eben die Menge der unsäglichsten und einschneidensten Enttäuschungen, die schmerzliche Mundwinkel nur schaffen konnten. Und da will man ihnen noch das einzige praktische Glück, Arbeit und Wissen verschlossen halten. Ein tiefes unglückliches Sehnen wohnt so in jeder Brust.
Selbst die Kreatur, was hat die gethan, dass sie unter den grässlichen Schmerzen ihr Leben lebt? Es gehört in der That sehr viel Egoismus, Phantasie und behagliches Leben dazu, um sagen zu können: Das Leben in der Welt ist wunderschön.
Stets wenn man solchen Gedanken nachgehangen hat, tritt ein Höhepunkt ein, und dann die Reaktion. Kaum klapperten meine Stiefel auf dem Pflaster, als ich mich schon behaglich an dem behäbig vor der Thür auf der Bank, in der Dämmerung hinduselnden Hausbesitzern erfreute, die Mädchen kritisierte und ähnliches Zeug, das man treibt beim gemütlichen Hinschlendern.
Am nächsten Morgen hieß es aber aufbrechen. Nach einem herzlichen Abschied von meiner Wirtin, die den fahrenden Schüler noch reichlich mit Wegzehrung versorgte, nachdem sie ihn den Tag vorher beköstigt und beherbergt hatte, alles in der gütigsten Weise, ohne dass ich sie vorher gekannt hätte, überließ ich mich der Post.
Das viel besungene Horn erklang und rumpelnd und schunkelnd ging's hinaus zum Thore, an den niedrigen Häusern und neugierig hineinsehenden Mägdelein vorbei, hinein in den trüben regnerischen Morgen. Jetzt musterte ich meine Reisegesellschaft: Ein Herr und eine Dame. Unwillkürlich fragte ich mich, "warum wohl die Weiber das schöne Geschlecht hießen"? Ich konnte es nicht ergründen. Kraft und erhabene Eleganz gehört doch wohl vor allem zur Schönheit? Aber diesen schlenkernden Filzklumpen mit den breiten, unschönen Unterleibspartien, dem weichen, schlappwärzigen Gesicht soll man zum schönen Geschlechte zählen. Das Wetter klärte sich auf, und schleunigst verließ ich den wagen, um zu Fuß weiter zu wandern nach Angerburg zu.
Nun wurde auch schon die Gegend schöner, ferne und nahe Thäler verschwammen im feuchten blauen Dufte, und zeigten sich wieder. Und während das Auge über die welligen Wälder hinein, über Kuppen und Wiesen geht, hat es wohl dasselbe angenehme Gefühl . An Haus und Hof und anderen schönen Dingen ging's vorbei, weiter und weiter.
Aus einem Dorfe schallte mir eine schwermütige Walzermelodie einer Drehorgel entgegen. Da dachte ich daran, wie ich oftmals als Kind in schöner stiller Sommernacht den Liedern der in ferner Lust wandelnden Mädchen lauschte, immer waren es nämlich solche schwermütigen Lieder gewesen. Es ist, als ob der Lebensmut dieser so lustigen und doch so armen Wesen sich gar nicht froh zu werden getraut. 6 Tage haben sie gearbeitet, und wie! Dann endlich erschließt sich auch ihnen das Thor ihrer Freude; jubelnd drehen sie sich im Tanze, um es umso gründlicher auskosten zu können. So wie der Mühlenbach das angestaute Wasser um rauschender, glänzender übers Wehr schickt, je länger es in seinem Laufe verzögert wurde.
Und wenn dann in der blühenden Jugend, in der Sehnsucht nach Glück und Vergnügen, so ein Ding wieder nach dem Apfel greift, wer will den ersten Stein auf sie werfen. Der schwarze Mann, vor dem sich alle fürchten, der spricht: Wer die Dirnlis freit, kommt in die Höll'. Auch sie zählen zu den Unglücklichen, die die Mängel von Gesetz, Sitte und Religion dazu machen.
Mit diesen Gedanken schritt ich die Dorfstraße entlang und war nun gespannt auf die Gestalt des fahrenden Sängers, den meine optimistische Phantasie auch schon auszustatten begonnen hatte. Doch wie musste ich mich auslachen, als ich ihn endlich sah und schimpfen hörte: Na diese Unverschämtheit habe ich im Leben noch nicht gesehen, "So lange lässt mich das Volk spielen und nachher geben sie mir 2 Pf. Ich streute dann meinen vorigen "edlen Gefühlen" Weihrauch und gab ihm um deretwillen 10 Pfg, für ihn ein großes Geschenk, denn auf meinen Wunsch spielte er mir die mir jetzt reizlose scheinende Melodie vor - solange er mich Enteilenden sehen konnte.
Ein gut eingewirtschaftetes Gut zog dann meine Aufmerksamkeit auf sich, durch seine Grüße, wie Eleganz. Ein Fleischermeister, der gerade von dort herkam, nahm mich nun mit und sein erstes Wort war: "Nein, solch stolzes Volk!" Er hatte Kalk mit dem Gutsbesitzer zusammen bestellt, zu billigen Preisen wahrscheinlich. Doch das war dem "Herrn" nachher wahrscheinlich nicht standesgemäß vorgekommen und so hatte er es einfach unterlassen. Ferner waren mehrere Kälber krank. Er hatte sie kaufen und ausschlachten wollen, dem Herrn war das nicht standesgemäß vorgekommen; und er ließ die Kälber lieber draufgehen.
Ein flottes Fuhrwerk mit paar forschen Pferden holte uns ein; es war der "Herr" mit feinen Handschuhen, einem Gesicht, auf dem so noch die ganze "Junkerei" geschrieben stand. Ein hochmütiger Blick streifte uns beide, ein dummer Mund, und dann über den ganzen überfirnißten Habitus so ein Bedauern und Sehnen nach dem "ius primae noctis" das er wahrscheinlich mit großer Gewissenhaftigkeit ausüben möchte. Und dann erzählte der Fleischermeister mir weiter von den Bedrückungen und Klagen der Leute; die Faust ballte er hinter ihm her und doch war es eine gute Seele, die auch mir, den fremden Handwerksburschen, wofür er mich hielt, unterstützen wollte. Und da dachte ich an die Träume der 48er, an die Gesetze von 1890.
Durch das niedrige und rauchige Angerburg mit einigen Gläsern Bier hindurch, denn schauerlich öde sah es aus, suchte ich neugierig den Austritt der Angerapp aus dem Mauersee auf und war entzückt über die Klarheit des Wassers. Ich konnte mich nicht enthalten und bald schlich ein Adam durch das Schilf gebückt dem tiefen Wasser zu und schwelgte in wohligem Behagen. Bald weidete sich das Augen, bis zum unteren Lid im Wasser, an dem blinkenden Strahlengewimmel auf den Wellen, bald in einer Schilfnische zurückgegangen hörte ich träumend auf das leise Schilfgeflüster und sah zu, wie die hohen Wellen aus der See hier in den Winkeln sich gemütlich und spielend gleichsam verliefen.
Frohlockend schlüpfte ich dann wieder in meine culturelle Hülle und dann auf nach Lötzen, wohin es noch 4 Meilen waren. Bald kam ich an ein gemütliches Dörflein im Norden eine Hügelwelle, auf der Südseite der hier glatte See. So klar und so blau wie man hier nur im Frühling zuweilen den Himmel sieht; und dann erst in größerer Entfernung tief, so dass die lieben Dorflümmelchen sich jauchzend darin herumtummeln konnten.
Ach wenn ich doch da wäre aufgewachsen, dann hätte ich nicht stundenlang an meinen düsteren Dorfteichen liegen brauchen und mich nach einem See oder Fluss, jedenfalls einer größeren Wasserfläche sehnen brauchen. Überhaupt drängte sich mir dieser Wunsch noch öfter auf, überall wenn ich die schönen blauen Seen zwischen Hügeln und Wäldern halb versteckt hervorlugen sah. Dann ließ ich mich über einen Seearm übersetzen, wobei ich die Wahrnehmung machen konnte, dass es gar nicht so leicht ist mit einer feschen Dorfschönen in ein interessantes Gespräch zu kommen.
Nun begann eine langweilige, wie mühselige Wanderung bis Sonnenuntergang längs worin die einzige Abwechslung bot, eine heitere Mädchenschar, die froh ihre Lupinen ausriss, sowie zwei Schwäne die majestätisch in einiger Entfernung vom Ufer dahin zogen. Moor, Erlen, Wiesen durchquerte ich auf Fußsteigen, vergebens nach einem anständigen Hause spähend, wo ich etwas essen könnte, denn fürchterlich knurrte der Erbfeind .
Abends gelangte ich auf einen Bauernhof, wo ich flugs einkehrte. Ein kleiner Balg, der vor der Treppe spielte, lachte mich freundlich an und rief schleunig "Olgachen" herbei, die ein starkes Pfannenschmirgeln in der Küche offenbar verursachte. War ich nun schon durch das kleine Mädchen überrascht, so noch mehr von dem nun erscheinenden holden Mädchen von ca. 18 Jahren, das in dieser Umgebung überraschend und daher doppelt reizend erschien. Die Schürze (übrigens sehr weiß) bauschte sich auf der Brust, das nette Stumpfnäschen, die braunen Augen, die Haare, die freundlich ihre ebene Stirn umwehten, die Proportion des Wuchses, kurz wo ich schaute eitel Lust.
So war denn auch mein Diener ein besonders tiefer, meine Bitte um Auskunft ein demutsvolles Flehen und wohlgefällig ruhten unsere Blicke ineinander. Doch ich musste mich schließlich verabschieden; kaum vom Hofe herunter ging ich noch einmal zurück, um noch ein mal meine Reiseroute zu ändern, doch da kam der Vater vom Felde nach Haus. Ich verwickelte ihn in ein längeres Gespräch, wobei ich begriff, woher die Schnittigkeit des holden Masurendirnli stammte, deren tiefer weicher Alt mir noch lang im Ohr lag. Doch der Alte wollte offenbar nicht meine Blicke verstehen, die "Behalt mich zur Nacht" sagen sollten. Obwohl wir uns als Gesinnungsgenossen offenbarten, musste ich mich wieder nur mit Blicken begnügen; das Mädchen ging nämlich immer zum Brunnen, und zwar für immer.
Ich brach mutig auf. Doch endlos wurde mir der Weg, an den vielen Merkzeichen vorbei, denn morgens eine Tasse Kaffee und ein Ei und dann eine Wanderung von 59 km; ich wollte den sehen, der da über allzu große Völle des Magens klagte.
Ich war müde, und wollte schon in einem Strohhaufen Vergessenheit meiner Qualen suchen, da tauchten nachts die ersten Lichter von Lötzen auf, und neu belebt suchte ich das Hotel auf, wo ich mich stärkte, dann zu einem Schulfreunde dem Post-Beamten Dormin eilte, den ich nach mannigfachem Kreuz- und Querfragen, sogar mit einem Kusse, endlich glücklich erreichte. Nachdem er das übliche Staunen schwerer Gemüter bei unerwarteten Begegnungen überwunden hatte, legte ich mich im Zickzack auf das kleine Sopha und schlief nach kurzen Träumereien von dem holden Mädchen, dass ich zu gern noch einmal gesehen und gesprochen hätte, fest und fester ein, bis am nächsten Morgen mich der Bekannte zum Kaffee weckte.
Mit einer Masuren-Weg-Karte bewaffnet, beschloss ich einen kleinen Abstecher nach Kl. Gablick zu machen, um dort einen Inspektor Karl R., auch einen Schulkameraden zu besuchen. Bald rollte ich in einem Eisenbahncoupe 4. Klasse zwischen einem alten stänkerigen Fischweibe und einem hoch bepackten Maurer, während zwei geradezu ideale Juden mir gegenüber ihre schrecklichen Gesichter zeigten, zur nächsten Bahnstation von Kl. Gablick, die ich ersehnte, endlich erreichte. Dann begann eine einstündige Wanderung durch den Masurensand. Ich war müde zum Umfallen. Ein Schatten spendender Baum befreite mich auf einige Zeit wenigstens von der lästigen Hitze; ein Stückchen rohes Schinkenfleisch zog ich hervor, ach wie schmeckte das ohne Butter und ohne Brot. Bedeutend frischer legte ich den übrigen Teil des Weges zurück, und erfreute mein Auge an dem hübschen Kieferngrün der Thäler, in denen fast überall im Grünen ein hübscher See seinen weißen, klaren Leib gefällig gelagert hatte.
Ein Schornstein, der über den Wald hervorragte zeigte mir das Gut an, das sich dann auch bald mit seinem Park, seinem prächtigen Hof und dem geräumigen herrschaftlichen Wohnhause darbot. Mein R war auf dem Felde, ich ging ihm natürlich dahin entgegen, und schon von weitem sah ich ihn in seinen langen Stiefeln rüstig auf dem Felde umhergehen, unter den Arbeitern und Weibern wie ein Hirte der Völker. Er ersah mich schon von weitem und dachte: "Na, ist er's, oder ist's ein anderer? Doch wie soll der hier herkommen?" Er drehte sich ab und gab da einige Anordnungen, dann sah er wieder neugierig nach mir, der ich nun 20 Schritte entfernt war.
"Herr Gott, Jankeleit! wie kamst du hier her?" Hinter einem schattigen Strohhaufen saßen wir dann, bis er zu Mittag gehen musste. Ich ging zum Kruge, da ich mich so ohne weiteres der Gutsherrschaft nicht vorstellen lassen wollte. Wohl aber geschah diese zum Kaffee.
Ich fand in der Frau eine vornehme Erscheinung, schon ältlich, aber umso mehr mit dem Schein der Güte und Freundlichkeit, das an Müttern mir von je her besonders lieb gewesen ist. Die Tochter ein herziges, lebenslustiges, 16 1/2 jähriges Fräulein, mit den allerliebsten Schelmenäuglein und dem silberhellsten, anmutigen Lachen, leider schon verlobt mit dem anderen Inspektor, Herrn H., der zwar sehr reich, auch klug war, aber ein so hartes Gesicht hatte mit solcher großen Nase, solcher harten Stimme, dass ich die liebe blühende Rose immer wieder bewundern musste, die diese Kälte einst, ihre jetzt so schönen Blütenträume von Glück und Liebe und Leben zerstört zu sehen. Dann wird auch bald die äußere Schönheit folgen; diese weiße klare Stirn wird wahrscheinlich früh runzlig werden, und dieser kussliche Mund, der nur zum Lächeln geschaffen zu sein scheint, wird tiefe Falten haben. Von diesen Gedanken deprimiert, besah ich mir das Paar, das sich jetzt so harmlos bewegte.
Wir verabschiedeten uns zur Jagd. Ich hatte das Glück eine Ente zu erlegen, vergebens aber war unser Mühen auf den Rehbock, dann gingen wir auf Hause zu und besprachen gerade wie wir den Abend verbringen wollten, da klagte er mehr und mehr über Leibschmerzen, auf seiner Bude "unter Mühe und Not" endlich angekommen, wirft er sich wütend aufs Bett, um bald vor Schmerz bald wie rasend zu brüllen bald sich das Haar auszuraufen und mit den Fäusten um sich zu schlagen. Ich konnte nicht den besonders starken Magenkrampf konstatieren, da ich von diesem noch nie etwas gehört hatte. Heiße Umschläge ließen bald Milderung eintreten und der sofort geholte Arzt konnte auch nur konstatieren, dass es ein Magenkrampf gewesen sei.
Welche Empfindung aber ich während dieser einstündigen Leidensperiode gehabt habe, wird nur der verstehen, der selbst ratlos so und geängstigt an einem Krankenbette gestanden hat. So wohl wie nach einem Gewitter verzehrte ich darauf das Abendbrot unten und alle freuten sich ihres Daseins.
Am nächsten Morgen ging es dann nach Lötzen zurück, mit gewinnender Freundlichkeit von der Mutter, mit einem warmen Händedrucke von deren Tochter verabschiedet.
In Lötzen ließ ich mich noch frisieren, trank Kaffee u.s.w., und brach nach vier Uhr auf nach Rhein.
An der Brücke hielten die Fischer und hatten einen 1ÿ1/2ÿm langen Wels mit dem Strick durch die Nase im Wasser, der sich nun unten augenscheinlich großen Schmerzen wand. Es standen viele Menschen herum, Frauen gewöhnliche und Damen, Kinder und es fehlte auch nicht die kalte Hundeschnauze eines Referendars. Während nun mir die verschiedene Art der Betrachtung zwischen den Kindern, den Fischern, den Frauen und Damen, Referendar und mir auffiel dachte ich: Edel sei der Mensch, hülfreich und gut, denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen die wir kennen. "Wer war nun edel von dem ganzen Haufen? Eine Arbeiterfrau, die sagte "Ach Gott, das arme Tier" kann ich nennen. Während ich mir nun den widerlichen Eindruck weg zu philosophieren suchte mit der allgemeinen Weltordnung, die es erfordere usw. und den Schmerz in seine mechanischen Bestandteile zerlegte, hatte ich bald die lindenalleen-artigen Anlagen, die sich in jeder Stadt finden, durchschritten, nach Rhein zu.
Ein Bauer nahm mich mit und erzählte mir von seinem Fohlen, das besonders groß gewachsen wäre. Da fiel mir die außerordentliche Liebe des Mannes zu seinem Tier auf. Wie liebevoll verfolgte er den Gang, den Aufschlag der Hufe; ganz genau beschrieb er mir die Gesichter der beiden Pferde; es war überhaupt ein empfänglicher Mensch, der auf alles hörte was man ihm sagte und sich so von allem einen ungefähren Begriff zu machen wusste, indem er sie mit bekannten, in seinem Ideenkreise liegenden Dingen verglich. Mit den freundlichsten Worten schieden wir voneinander.
Mehrere Dörfer hatte ich hinter mir gelassen und näherte mich mehr und mehr einer Hügelkette (Stürlaiker) in der Mitte zwischen Lötzen und Rhein. Da sah ich am Rande der Chaussee einen Juden sitzen, der ausgezeichnet in ein Märchen hineingepasst hätte. Ganz und gar abgerissen, mit langem grauem Bart, mit Häuten und Pungeln von oben bis unten beladen; barfuß, die Stiefel auf dem Rücken. Ich setzte mich zu ihm hin und fragte ihn aus, woher, wohin, wer, wie, was? u.s.w. Da hat dieser alte Mann von Schmallmingken aus eine Reise von über 20 Meilen gemacht, um seine Tochter zu besuchen; was das aber heißt, zu Fuß 8 Tage lang hin und 8 Tage zurück! Auch sonst war die Treuherzigkeit und Anhänglichkeit des Mannes an seine Religion, allem was ihm lieb und wert war, geradezu rührend.
Überrascht aber war ich über seine Unwissenheit von der Bibel:
Rebekka sei schwanger gewesen und habe Jakob an der Synagoge geboren, und Christus (von Esau wusste er nichts) an der Katholischen Kirche; und dann sei Christus abgefallen und habe gesagt er sei selbst Gott. Andererseits wieder diese Ansicht: Alle Menschen, auch die Christen kommen in den Himmel, wenn sie nur an Gott glauben. Dagegen dürfe er mit einem Menschen, der nicht an Gott glaubt nicht gehen, der schlägt mich tot, das ist ein Mörder, er glaubt nicht Gott.
Auf meine Bekehrungsversuche antwortete er oft nur mit singendem Tone: Als Jude will ich leben, als Jude will ich sterben, sonst bin ich verfallen. Erzählte mir viel von der Judengemeinde in Königsberg, dass ich erstaunt war über seine Bewandertheit in diesen Verhältnissen. Er hatte mich ganz lieb gewonnen. "Sie sind doch a a Jüd" fragte er mich, und "So doch a Christ" antwortete er auf mein höfliches Bedauern. Mit einem "Behüt Sie Gott, junges Leben" verabschiedete er mich.
Jetzt begann der Aufstieg zu den Styrlacker Hügeln. Um den Magen auf billige Weise zu befriedigen betrat ich ein Bauernhaus, das innen das alte, mir so wohl bekannte Aussehen zeigte. Auf meine Bitte holte sie mir ein Stück Brot und Butter und etwas Milch aus dem Keller und nahm natürlich nichts. Sie sei genannt: Frau Druwies, Kl. Stürlack. Ein fürstliches Geschenk wird sie einst, so Gott will, dafür belohnen.-
Eine hohe kahle Kuppe, die als die höchste erschien lenkte meine Aufmerksamkeit und bald auch meine Schritte zu sich hin und als ich oben war, wie schön war's mir da, die glänzende Sonne in der Vesper nach Osten und Norden die Hügel, die Täler bald sichtbar unten mit einem See, bald enger und bewaldet, und sich mit seinem idyllischen Aussehen nur erraten lassend. Die zahlreichen Weiher besonders fielen mir auf, überall, wohin man blickte, sah man ihre Blänken hinter Hügeln, aus Wäldern hervorlugen, und selbst am Horizont zeigten sich ihre silbernen Streifen. Nach Süden zu wurde das Land mächtiger, wuchtiger geformt, die Hügel schienen sich immer überbieten zu wollen an Ausdehnung und auch Höhe.
Dazu wird's rauer und steiniger, öder, am Horizonte streckte der Kirchturm von Rhein seine Finger empor, und auf ihn stürmte ich nun los über Berge und Thäler, jauchzend, allein in der Wildnis. An Bergen mit Schluchten kam ich da vorbei, dass der Wunsch thatsächlich wie eine Ameise dazu aussah. Eine malerische Herde mit Hirt und Hund und Alpenstock erfreute mich unter anderem. Hier wuchsen auch die Kadiksträucher in solcher Zahl, dass der Bergrücken wie mit Flitzläusen davon übersät erschien.
Allmählich wurde mir dies Klettern, bald wieder Hinabrennen im Galopp doch etwas sehr beschwerlich, und ich war sehr froh als ich auf einer sehr cultivierten Landschaft wieder in anständiger und ruhiger (Ruhe ist ja die Haupterfordernis des Anstandes) Weise meine Ständer bewegen konnte.
Mittlerweile war es Abend und beinahe Nacht geworden, und die Bewohner kurz vor Rhein und der ersten Häuser in Rhein werden wohl sehr erstaunt gewesen sein über den Menschen, der mitten auf der Straße auf dem schrecklichen Pflaster mit dem Wanderknüttel in langen Schritten daherkam und mächtig sang aus voller Brust mit langen Tönen: "Wohlauf die Luft ..."
Zum Pfarrer Henkel vom alten, frommen Mütterchen sehr bald gewiesen, fand ich ihn jedoch nicht zu Hause.
Sein milder Amtsbruder saß dagegen mit den Häuptern seiner Lieben vor der Thüre. (Natürlich nur Töchter, und züchtig in weißen Miedern) Mich musste er nun für ein sehr räudiges Schaf der Kirche halten, denn auf meine demütige Anfrage nach Pfarrer Henkel schnauzte er sehr unpriesterlich: "Was wollen Sie jetzt von ihm? Was wollen Sie? Wer sind Sie überhaupt?" Ich sprang ihm mit poetischem Aufputzer ins Gesicht: "Bin ein fahrender Schüler", u.s.w. "Wo man singt, da lasse ich mich nieder", was diesen sauren lockigen Streiter Gottes zu dem Wortspiel geführt: "Ja, Ja, wo man sinkt, das ist wahr, ha, ha, ha. Na, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, ich bin gern bereit", u.s.w. Kurz der Mann zeigte jetzt sehr menschliches Rühren.
Zur Nacht dazubleiben, rieten mir meine schielenden Blicke nach der Bank vor der Thüre ab, so suchte ich dann nach einem herzlichen Abschiedshändedruck den Amtsrichter a.H. Gröck auf.
Das Haus war zu und finster. Doch vorläufig gab ich meinen Mut nicht auf. Ich besah es von allen Seiten und sah auf der Hofseite Licht. Flugs hinüber über den hemmenden Zaun und schon stand ich in der Küche vor einem Dienstmädchen, das erschreckt die baumlange wilde Gestalt vor sich sah. "Gehen Sie zum Herrn Amtsbruder und sehen Sie, ob er noch auf ist. Dann sagen Sie: ein Franke möchte ihn sprechen."
Die Donna verschwindet und sagt: "Ein Franke schickt mich, ich soll ...", u.s.w., Sie kam raus und sagte, ich möchte von vorn herein gehen. Na, und bald kam auch a.H. Gröck, der heute zufälliger Weise früher zu Bette gegangen war, und bei einer Flasche Wein saßen wir, beinahe der älteste und beinahe der jüngste Semester d. Franconia zusammen und lachten und waren guter Dinge. A.H. Gröck ist ja wegen seiner untadligen Eigenschaften bekannt.
Ein wohliges Bett nahm schließlich den Wanderer auf, der bis zum hellen Morgen hineinschlief, bis a.H. Gröck ihn zur Hühnerjagd weckte.
Mittags kamen wir dann zurück und aßen das untadelige Mittag. Ich ging dann zum Vater des a.H. Henkel, einem ehemaligen Schullehrer, zwar mit einem Contor-Gesicht, aber eine so fröhliche biedere Haut wie selten. Revolution, Ritterschloss in Ortelsburg, und alles Mögliche besprachen wir.
Dann ging ich zu einem Schuster, zog meine Stiefel aus und ließ sie besohlen, denn sie waren total heruntergekommen. Der Schuster, etwas unzufrieden, dachte immer im geheimen an Amerika, aber sonst ein fröhliches Gemüte, kappte meine Stiefel zurecht, dass es nur so brummte,
Es war ein Schuster, wie alle Schuster. Er fragte mich worauf ich reise, ich sagte: "Auf chinesischen Tee, Pfd. zu zehn Mark. Er sah mich wieder ein gutes Teil ehrfurchtsvoller an, fragte nach diesem und dem aus meiner Branche, und ich blieb die Antwort nicht schuldig.
Nach einem gemütlich verbrachten Abend bei a.H. Gröck, und ebenso wohliger Nacht wie vorher, schüttelte ich morgens noch der Frau Amtsrichter die Birnen ab, ging dann zu a.H. Henkel, der heute zu Hause war, mich in den Krug einführte und mit dem dicken, durstigen Apotheker, dem Wirt und ähnlichen Proleten bekannt machte und mich halb eingetrunken entließ nach Nikolaiken zu.
Munter gingen meine Schritte, froh besah ich Seen, Felder, Wälder, sah zu, wie ein eleganter Edelfalke einen schweren Bussard neckte und belästigte, musste dabei an Heine denken, der kraft seines genialen Fluges manchen schweren gekrönten Leib arg neckte und hackte, und doch so frei und kräftig that, was er wollte, da fragt man sich: "Was ist Macht?"
Lange sollte übrigens mein Vergnügen nicht dauern, denn schwarz und grollend zog es über den See heran, so rasch, dass ich nicht mehr das zum Obdach ersehene Dorf erreichen konnte, sondern im Laufschritt zu dem Chausseehäuschen zurückstürmte, in dem ich mich nach dem nächsten Dorfe erkundigt hatte.
Jetzt schlossen diese Menschen aber voller Furcht die Thüren zu und in meiner Angst, (erschreckt platschen schon die Tropfen hörte) stürmte ich auf den Hof und dann in den Hühnerstall. Dort saßen die Hühner auf einer Leiter und einer Stange, flatterten wild mit den Flügeln und erst auf gütliches Zureden von meiner Seite schienen sie meine Ungefährlichkeit eingesehen zu haben. -
Doch es regnete sehr lange, ich sah zu wie der letzte Prozess des Stoff-Werdeganges bei den Hühnern sich vollzieht, wozu mich besonders die Enge des Raumes ermahnte, wie ferner unten zwei junge Hunde miefend aneinander eine Mutter zu finden suchten, vertiefte mich ganz und gar in diese Beobachtungen, bis dann Jupiter Pluvius Einsehen hatte. Ich konnte weiter wandern.
Bald lachte wieder die Sonne und wer die glänzende, blinkende Welt nach dem Gewitter gesehen und die Luft geatmet hat, der wird's verstehen, wenn ich jetzt: "Wohl auf, die Lust geht ..." mit voller Brust anstimmte.
Als ich durch ein Moor hindurch kam setzten sich einige Wildenten (Pracht-Exemplare) in der Nähe der Chaussee in einen Graben nieder. Ich musste sie aufstehen lassen, es ging nicht anders. Ich hatte dabei einen Graben zu überspringen und scheuchte sie nun auch auf, legte meinen Stock an und rief: "Puh, Puh." Da sah ich einen Wagen gefahren kommen und wollte mitfahren und beeilte mich rasch auf die Chaussee zu kommen. Der Graben jedoch musste wieder übersprungen werden.
Ich setzte an und sprang, der tückische Grund gab nach und plumps lag ich bis zum Bauch im Wasser. Was war zu tun? Vom Knie abwärts waren die Hosen voll Torfdreck. Also Stiefel runter und setzte mich auf einen trockenen Rand des Grabens, der wie alle Torfstiche tief aber auch senkrecht sind. Hing die Füße ins Wasser und schlenkerte mit die Beene. Gut ausgespült und ausgewrungen so gut es ging; Stiefel rauf und los nach Nikolaiken.
Eine Mutter, (ein junges üppiges Weib) trug ihr Kind hinterm aufgespannten Regenschirm, der den Wind abhalten sollte, dann einen schweren Korb und was der Dinge mehr sind, die so ein Landfrauchen trägt. Ich nahm ihr den schweren Korb ab und unterhielt mich mit ihr: sie war ein ganz puseliches Weibchen.
Ein Mädchen trieb vergebens eine Sau nach Nikolaiken. Sie war hübsch verbrannt. Ich sagte ihr auf Polnisch. "Du bist hübsch", und half ihr die Sau treiben.
Ich dachte an meinen lieben Couleurbruder Saage, was der wohl sagen würde, wenn er das Bild sehen würde. Eine dreckige Sau, hinten rechts das Weib mit dem Kind, barfuß, links das sechzehn bis 18-jährige Jöhr, die mich immerzu verschmitzt anzwinkerte, und in der Mitte ich, mit den nassen, aufgekrempelten Hosen, dem Knotenstocke über die Schultern daran der Korb der Frau, den Hut in den Nacken, und links und rechts scharmutzierend.
Beim Eintritt in Nikolaiken trennten wir uns und ich suchte nun a.H. Amtsrichter Fuhrmann auf, fand ihn nicht zu Hause, sondern erfuhr dass er in Popielnen wäre, sechs Kilometer davon. Bestellte dann noch Grüße an eine bekannte Dame in Nikolaiken, die mich leider nicht zur Nacht behielt. Ich amüsierte mich dann noch einige Male an hübschen Mädchengesichtern, die hier so lebenslustig mit ihren Stumpfnäschen in die Welt schauen und so freundlich sind. Schließlich entschloss ich mich kurz und brach nach Popielnen auf, obwohl es Abend war.
Der Weg, stets durch Wald war bald gefunden und lustig ging es los nach Popielnen. Der Wald sehr hochstämmig hatte ein lange hallendes Echo und ich marschierte daher unter: "Wohlauf die Luft geht ..."
Leider wurde der Abend durch einen milden, aber umso innigeren Landregen gesegnet, das Gehen schaffte nicht, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich an die Übersetzstelle von Wierzba anlangte und total finster war es auch. Wie ein breiter Fluss mit waldigen Ufern lag der breite Seearm vor mir.-
Jetzt näherte sich meinem Standorte ein eigentümliches Geschrei. Es war eine polnische, kecke Frau, die lauter Stimme den Fährmann hatte rufen wollen. Jetzt erschien sie auf der Bildfläche und "Hoap hao" ließ sie hören, dass einem es durch Mark und Bein ging. Bald erschien dann auch aus dem jenseitigen Dunkel ein Kahn.
Der Fährmann, schweigsam und ruhig unterhielt sich nur durch Grunzen, die Frau taxierte mich für einen Studenten oder einen Offizier in Zivil, wie ich aus den aufgeschnappten Brocken verstehen konnte.
Zufällig ging sie auch nach Popielnen. Ich versuchte meine polnischen Kenntnisse zu vervollständigen. Denn hier hatte ich schon oft Leute getroffen, die kein Wort deutsch verstanden. "Ich will dicke Milch essen" "Ist der Herr Amtsrichter Fuhrmann zu sprechen" "Wohin geht der Weg" "Wie weit Ihr bis dahin", alles hatte ich bald zur Zufriedenheit kapiert.
Endlich erscheint Popielnen. Nicht ein größeres Dorf, sondern ein einsam liegendes Gut. Dunkel heben sich die Gebäude vom Himmel ab, durchs Tor auf den Hof gekommen sehe ich das Wohnhaus noch erleuchtet. Ich tappe mich stolpernd in der Finsternis nach dem Hause, während die Hundebestien anschlagen, ein Mordsspektakel aufführen, besonders der eine schien das Zerreißen der Kette durchaus anzustreben.
Ich erreiche auf die Treppe. Es kommt ein Dienstmädchen im Hemde heraus, sieht mich, kreischt los und futsch ist sie. Drinnen fängt nun auch eine Dogge der Stimme nach sehr respektabel zu bellen und endlich öffnet sich ein Fenster, ein Mädchen fragt nach meinem Begehr, polnisch natürlich. Ich stotterte nun nach dem Herrn Fuhrmann, aber nun durch den Lärm verwirrt sagte ich die andere Redewendung, welchen Satz ich mir besonders fest eingeprägt hatte. "Was?" fragt sie, "Was?"; ich besinne mich auf meinen Fehler, stottere, stottere ..."kurz und gut, ich kann nicht polnisch" schnauzte ich sie an. "Na dann reden Sie doch Deutsch" antwortete sie.
Nun waren wir bald einig. Sie geht und meldet "Der Briefträger ist mit einer Depesche da und will den Herrn Amtsrichter sprechen". Der kommt und fragt nun sehr erregt: "Was gibt's?"; ich stehe in dunklen Hausflur und beginne: "Gestatten Sie, dass ich mich als Fuchs der Franconia vorstelle. Ich reise jetzt durch Masuren und wollte mir das Vergnügen nicht entgehen lassen einen alten Herrn kennen zu lernen. Ich heiße Jankowsky". - "Na, das ist schön".
Wir tasten uns im Dunklen nach den Händen, ich fasste seinen Arm endlich und hatte nun auch bald die Hände, die wir uns schüttelten. Er zog mich drauf, (ich sträubte mich pro forma) hinein, um seiner Gutsherrschaft mich vorzustellen, zuerst durchs Mägdezimmer.
Da lagen zwei kichernde und kosende Jungfrauen in der Schlafbank, die halb zu war und sahen durch die Ritze durch und schabberten allerliebst. Eine andere verschämte Daphne flüchtete gerade bei unserem Eintritt in einen Winkel hinter einen Kleiderhaufen der dort hing.
Dann hatte ich die Ehre der Frau, eine dicke Landpastete mit großem Willen, der Tochter des Hauses, einer ganz hübschen Brünetten, sowie der üppigen Frau Amtsrichter vorgestellt zu werden. Dann wurde Bier aufgetragen und die Tochter, etwas landsch, goss das landsche Bier ein in landscher Weise.
Auch ein Abendbrot (sehr mäßiges) schindete ich, redete noch eine Weile klug und erhielt dann ein Bett. Hatte ich sowieso auf die Tochter Eindruck machen können, da sie mit einem "er" geneckt wurde, so sah ich diese Unmöglichkeit erst recht ein, als ich abends mein Chemisette besah. Durch den Riemen der Tasche verursacht zog sich ein schwarzes Torfcouleurband darüber von erster Güte. Na ich dankte Gott, dass mir a.H.F. eins leihen konnte.
Nächsten Morgen früh stacherten wir in den Spirding-See hinein, um auf wilde Enten zu fahnden, vergebens. Dann besah ich mir froh gemuten Herzens das schöne Gut mit seiner schönen Jagd (wunderschön), kam hinauf zum Kaffee (ganz gut), sah mir das Getriebe der Leutchen an und setzte mich auf das Fuhrwerk, das der triste, unansehnliche Inspektor dirigierte und fuhr nach Nikolaiken.
Dort stand ich nun, ich armer Tor, und war so klug als wie zuvor! Ich hatte eine Mark bei mir, davon gingen 60 Pfg. drauf zum Fouragieren des Inspektors. Mit 40 Pfg. wanderte ich wieder nach der Brücke zu, bis zum Walde und überlegte nun, was sollte ich machen? Die Wasser rannen so lind beschienen vorüber, aber herz- und mitleidlos erschien mir alles.
Zunächst beschloss ich ein Butterbrot zu essen, was ich auch ausführte, aber bald stand ich abermals auf der Nikolaiker Brücke und hatte nun noch 20 Pfg. Na vielleicht sind, fiel mir ein, die 5 M mit der Post angekommen, die ich vor einigen Tagen von einem per Post pumpen wollte, aber die Post ist auf, weiß aber von nichts, endlich besinnt sich das Scheusal, die Anweisung war aber auf dem Amtsgericht und es war Sonntag.
Wie durch einen Zufall bekam ich nach mannigfachen Kreuz- und Querfragen und Drohungen mit a.H. Fuhrmann die Postanweisung zur Hand. Mit der eilte ich nun wieder zu dem Schalterstumpfbock, stahl mich rasch hinein und präsentierte ihm die Anweisung. Als ich auf meine Studentenkarte gezeigt hatte, erhielt ich das Geld, nicht ohne den Hinweis, dass es erst 3/4 4 und nicht 4 Uhr (Zeit des Dienstanfangs) sei und er eigentlich gar nicht verpflichtet sei mir jetzt schon das Geld auszuzahlen.
Nachdem ich das Geld hatte und ihm noch einige wütende Blicke zugeworfen, stieg ich dann wieder auf die Brücke, aber jetzt, juchhe wie lacht der Sonnenschein.
Nun fragt es sich nach Hause zurück? Nee nach Hause geh'n wir noch lange nicht! Nach Rudzanny? Oder Ortelsburg? Von Rudzanny könnte ich mit der Bahn fahren, doch das kostet Geld und ich erreiche heute nicht mehr den Zug. Möglichst billig bis nach Ortelsburg. 50 km sind's! Nun, wenn ich die Nacht durchwandere bin ich morgen früh sicher in Ortelsburg! Wie wird der Weski staunen, wenn ich ihn aus dem Schlafe wecke! Also auf nach Ortelsburg. Mit langen Schritten ging's hinab in den Wald, während "Wohlauf, die Luft geht ..."
Da sehr viele Rehe, wie aus den Spuren zu sehen war, hier waren, so wurde ich jetzt still und spähte umher. Bald hatte ich auf einer Schneise ein Kitz entdeckt. Ich pürschte mich auf 25 Schritte an, stellte mich ganz frei hin und wartete bis es mich sehen würde. Es ("äst für den Jäger") graste ruhig näher und hebt Kopf: Schnob los und machte einen Satz rückwärts, als wollte es auf den Rücken fallen. Noch einige erschreckte Sätze und dann staunte es mich an und ging erst Schrecken zu Holz als ich mich anschickte weiter zu gehen. Noch mehrmals machte ich mir denselben Spaß, bis Sonnenuntergang.
Die Nüsse, die ich mir suchte, waren leider alle taub und gewurmt und war ich dann schon sehr begierig auf das Ende des Waldes. Als es dunkel war kam ich an einer selten schönen Stelle vorbei. Der Hochwald fiel zu einem Thälchen ab und darin mit Schilf und Seerosen ein schöner See, die weitere Umgebung auf der entgegen gesetzten Seite bildeten Erlen, mit ihrem geheimnisvollen dunklen Grün.
Lebhaft und eigentümlich wirkten auf mich zwei Schwäne, die drüben langsam und still einher zogen, während mir die Seerosen und Mummeln aus der Nähe in die Augen fielen, das, weißes Gefieder geisterhaft in der Dämmerung herüber schimmerte, im schönen Contrast mit dem dunklen Erlengrün, das Ganze mit feuchtem, leisem Abendduft umwoben.
Doch nun wurde es immer nötiger, dass ich meine Füße regte, denn dunkler wurde es nun auch. Nun stellte sich aber ein Übelstand ein: meine Stiefel waren von dem taufeuchten Grase auf dem Wege ganz und gar durchnässt und bekamen an den Zehen Blasen.
Mit Mühe und Not erreichte ich das erste Dorf nach dem Walde, das aus ebenso vielen wie kleinen Hütten bestand. So war auch das "Gasthaus": die Tische graurig; in Ermangelung von Stühlen waren Heringsfässer an die Wand gerollt. Um das ganze Nest voll von wilden, polnische Gestalten, die mich verwundert betrachteten und besprachen. Besonders der eine lange Kerl mit Händen wie Kalbsviertel, führte das Wort.
Ich drückte mich, der ich mich neben einigem trotz meiner langen Gestalt wie ein Kind ausnahm scheu in eine Ecke, verlangte Butter Käse und Milch. Nachdem ich mich gesättigt hatte, verließ ich das Lokal, in dem in der Nacht zu bleiben ich mich nicht entschließen konnte, trotz meiner schmerzenden Füße. So schritt ich denn weiter in die Nacht hinein.
Zwei glühende, sich bewegende Punkte zeigten mir zwei Leute mit brennenden Cigarren an, die ich nach den Dörfern bis Ortelsburg und den Weg befragte. Dann tappte ich weiter auf dem ruppigen Wege, ohne Steg ohne Baum ohne Graben in der Finsternis, dass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte.
Ein angenehmes Bangegefühl beschlich mich, spornte aber auch noch mehr meinen Mut an. Trübe ging jetzt der Mond auf und beschien mich den Dahinstolpernden. So ging es wieder 5 km etwa.
Da tauchte ein ganz tadelloses Dorf mit patenten Krügen und Gasthöfen auf, und ich atmete auf, zu früh. Alle Häuser waren zu. Also weiter; einige Knechte sprachen mich an und versprachen mir ein Nachtlager auf ihrem Heuschober, als sie meine Lage erfuhren.
Sie schlugen einen Fußweg ein zu ihrem Dorfe, das Gott sei Dank das nächste meiner Tour auch war. Doch an ihrem Zischeln und Polnisch sprechen, merkte ich bald, dass sie mir nicht trauten. So etwas war ihnen in ihrer Praxis noch nicht vorgekommen. Als ein Wagen vorbeikam, der nach demselben Dorfe fuhr, sprangen sie auf und ließen mich da stehen.
Ich dachte so sind ja alle Menschen und sah mich nach dem Dorfe um, das ich fern am Horizonte sich schwach abheben sah. Weiter daraufhin musste ich und kam endlich auch dorthin.
Nun aber vor allem Wasser trinken. Ich kletterte auf alle Höfe, Brunnen ja, kein Eimer. Endlich entdeckte ich auf einem Hofe einen Eimer, aber keinen Brunnen, ging auf einen anderen Hof, schöpfte, trank, trug den Eimer sorgsam zurück und brach nach einer Conferenz mit dem freundschaftlichen Nachtwächter nach Puppen auf, d. nächsten Bahnstation und Ort. Das etwa 17 km entfernt war, während es bis Ortelsburg noch gut 30 km sein konnten. Wohlgemut und ohne Durst machte ich mich auf.
Der Morgenwind frischte stark auf. Nun kam ich durch ein endloses Moor hindurch, dann schloss sich eine hohe kahle Hügelkette rechts an, über die der Wind daherwehte vor mir links lag ein Kirchhof mit zerzausten Kiefern noch weiter links breitete sich ein schilfiger See aus, auf dem der Mond einen bleiernen und fahlen Schein erzeugte, der erst recht den schauerlichen, ossianschen Eindruck vervollständigte.
Wie immer wenn ich nachts an einem einsamen Kirchhofe vorbei komme, stehen die bleichen Gebeine der unten Liegenden mit den grinsenden Schädeln deutlich und klar mir vor Augen, und stets muss ich sie mir denken, als die erste Liebe in ihnen erglühte, wie sie an manchem Sonntagmorgen zur Kirche gegangen sind, und dann nachmittags getanzt, gejubelt haben in Freude und seliger Lebenswonne und das jetzt.
Warum?
Worauf es eben nur die eine Antwort gibt:" Es ist bestimmt in Gottes Rat dass man vom Liebsten, was man hat muss scheiden." -
So wanderte ich stetig weiter, noch ein Kilometer nach dem anderen; die Mühseligkeiten an den Füßen und die Müdigkeit wurde immer größer; da schwenkte ich dann zu einem Heuschober der am Ufer eines Sees stand. Ich kletterte hinauf, wühlte mich ganz bequem in das warme, duftige Heu ein und war bald im Reich der Träume.
Beim Einduseln stand mir noch die Stube meiner Eltern vor Augen, die jetzt wahrscheinlich ruhig schliefen, oder dachten sie an mich? Auch manches lieben Kindes dachte ich noch, dass jetzt wahrscheinlich seine schönen Gliederchen mollig dehnte und streckte, während ich hier unter Wind und Wetter kampieren musste.
Während ich auf den Wind hörte, der bald stärker bald schwächer an meinem Zudeck zauste, schlief ich ein. Morgens als ich so halb aufwachte und natürlich mich zu Hause im Bette wähnte, hörte ich ferne einen Hahn krähen. Ich richtete mich auf, und war nicht wenig erstaunt, mich auf dem Heuschober zu sehen, und vor mir den See und das lispelnde Schilf.
Neu gestärkt konnte ich nun meinen Weg fortsetzen; im Osten die Morgenröte; vor mir bald der duftige Wald. Und wie dann die goldene Sonne aufgeht und golden wird die Welt, wenn alle Thäler noch in blauem Dufte schwimmen, die fernen Bergesspitzen glimmen das Sonnenlicht sich flutend durch die Bäume bricht - ach ich rief mein Juhu und Juchhe in die Welt über die Welt, dass es schallte weit hin ... trunken hüpfte und jauchzte ich auf meinem Weg. Jedes Käferchen, jedes Bäumchen mit liebevoller Aufmerksamkeit begrüßend; durch Puppen mit dem schönen schlängelnden See hindurch kam ich zum Bahnhofe, um nach 3/4 Stunden in Ortelsburg zu sein.
Waski nicht zu Hause, so suchte ich dann a.H. Bräutigam auf, der verwundert den Wanderknab mit Wanderhut und Wanderstab betrachtete, aber ihn bald trotz seines Wettergesichtes als einen braven Fuchsen "und eine biedere Haut" erkannte, ihm zu seinem besseren Fortkommen 20 M vorschoss und dafür stets ein dankbares Andenken in mir haben wird.
Zunächst bummelte ich noch in Ortelsburg umher, ging dann nach den Kasernen raus, bog nach links und ging hinter einen Strohhaufen daselbst, stellte meine Füße mit Vogeltalg wieder her, ging nach links weiter, verabschiedete mich von a.H. Bräutigam und rutsche los nach Rudzanny. Von dort ging ich nach Nieden das scheußlich langweilig war, denn es regnete gottsjämmerlich.
Ich kehrte in Nieden ein und fand vier allerliebste Puselchen von 16 - 21 Jahren. Aber alle Gespräche, Blicke waren vergebens. Ich erhielt ein Bett mit so einem "von der Bahn"; er hatte einen modernen Anzug über seinen Leib gehängt, und um den Hals einen funkelnagelneuen Schlips gelegt; aber aus dem Rocke stach so ein dämlicher Kopf hervor und aus den Ärmeln hingen solche langen großen und roten Hände, dass ich mich graute mit dem Menschen zu schlafen.
Ich legte mein Geld in den Strumpf unters Laken und erzählte ihm vor dem Schlafengehen, ich hätte sehr unruhige Träume, er soll bloß nicht in der Nacht an mein Bett kommen, es könnte ihm sonst sehr schlecht dabei gehen.
Halb ausgezogen sah ich zufällig nach den Fenstern (die ohne Laden waren) und sah einige Mädchengesichter mit an der Scheibe platt gedrückten Nasen, die nun plötzlich kichernd davonrannten. Nun löschte ich erst die Lampe und legte mich dann unter größter Vorsicht ins Bett-Gestell. Viel war da nämlich nicht, doch ich war nicht verwöhnt und hatte schon schlechteres gekostet, schlief aber ganz gut bis zum Morgen.
Nach Begleichung der Zeche zog ich nach Rudzanny zurück. Der Himmel so trübe wieder, dazu mehr und mehr Sehnsucht nach Hause, ich setzte mich in die Bahn und fuhr stracks nach Darkehmen in einem Zuge.
Dort besuchte ich sofort meinen Freund Riel, der mich abends zu der Philisterkneipe mitnahm. Das war ganz interessant: der fromme, treuherzige Bürgermeister, der jüdische, atheistische, dicke Amtsgerichtsrat, der sich stets auf den Standpunkt der Gebildeten stellt, der Arzt, der logisch seine Ansicht entwickelt, dazu noch einige Proleten, an denen nichts besonderes hervorstach, die eben nur ihren Leib in gewöhnlicher Weise ernähren.
Ich erregte durch eine Bemerkung über die größere Bedeutung des Arztes oder des Pfarrers einen furchtbaren Streit, der umso mehr an Ausdehnung und Hitze zunahm, je weniger diese Kämpen ihre Meinung ausdrücken und andere begreifen konnten; bis der dicke Amtsgerichtsrat Lewi (mit Stolz hörte er sich Löwe nennen) alles niederschrie, dass das Echo über den weiten Markt geschwätzig zurückkam. Rings auf dem Markt wurden die Fenster erleuchtet, (wir saßen auf der Veranda) und angstvoll lauschten die Einwohner und Einwohnerinnen Darkehmens auf den Streit ihrer Gewaltigen.
Halb und halb durch das Bier erwärmt, zog man sich ins Innere des Kruges zurück und wohlgefällig und würdevoll hörten die Spießer auf die munteren Kneiplieder, die mein Genosse Riel und ich, junges Semester, vortrugen. Dann verleitete ich noch alle mit Ausnahme d. streng. Bürgermeisters zu einer Bummeltour, oder vielmehr es gibt nur eine schlechte und eine schlechtere; und schwer bezecht suchte man die Lagerstätten auf.
Am nächsten Vormittag sah ich noch einmal das süße Geschöpfchen, um dann wieder unbefriedigt nach Goldap zu fahren. Von dort galt's 6 1/2 Meilen nach Szittkehmen zu gehen. Ein ebenso anstrengender wie schöner Gang war es aber doch.
Je weiter ich mich der Grenze näherte, desto hügeliger wurde es. Dann sah ich schon von ferne einen Hügel ragen auf den ging ich die Augen zu Boden gesenkt hin auf. Oben hob ich dann die Augen an und war doch noch übertroffen in meinen Erwartungen von dem Anblick der sich mir darbot.
Nach Süden senkte sich mein Hügel ziemlich steil weit, weit hinunter, unten lief dann die Thalsohle etwa eine Meile ziemlich eben weiter, bis dann eine neue gewaltige Hügelgruppe sie nach Westen und Süden abschloss.
Über dieser weiten Thalsohle, mit seinen Höhen, Flüsschen, Wäldchen, kleinen Erhebungen stand nun die Sonne, alles überstrahlend, es war so, als ob sie ein blaues nebliges aber um so glänzenderes Fluidum ausgösse strahlenförmig über mich, über den Hügel über das Thal, über die fernen Hügel über die ganze Welt. Nach Norden und Osten schlossen waldige Höhen die Fernsicht ab.
Ich wanderte rüstig weiter an einem gewaltigen Felsblock vorbei, erhielt von einem Mädchen eine Blume geschenkt, und sah mich kurz vor Sonnenuntergang auf einem Berge, über der Rominter Heide. Dieses dunkelblaue Waldmeer, denn einem Meere war es frappant ähnlich, mit seinem lichten fernen Streifen, die sich desto inniger blau färbten je mehr sie sich zu mir herzogen war mir wie ein Märchen; und geradezu märchenhaft war die Verwandlung die nun folgt. Die Sonne beschien plötzlich noch einmal dies ganze Meer. Und alles erschien jetzt in einem lila Glanz gehüllt.
Lange schwelgte ich in diesem Anblick, bis ich herunterstieg und nach Szittkehmen zuging. Bis abends 10 war ich dort, hatte Gelegenheit die Hirsche zu sehen; mein Onkel wohnt aber in S 5 km entfernt davon und die sollten nun auch noch durchmessen sein. Abends oder nachts unter Herauspolterung eines Schulmeisters, unter Befragung einiger alter Frauen die des Brotbackens wegen aufgeblieben waren kam ich hin, klopfte ans Fenster und sagte "ein armer Reisender bittet um Unterkommen".
"Das wird der versoffene Braun sein" meinte der Onkel, während die Tante: "Na dazu ist doch das Gasthaus". Ich bat und bat, und schließlich verriet mich meine Stimme. Nun ging's ans Erzählen und auch Gott sei Dank ans Essen.
Den nächsten Tag schlief ich beinahe fortgesetzt. Den übernächsten nach Heim zu. In Szittkehmen befragte ich den Ober-Controlleur nach dem Wege durch die Rominter Heide. Und das Wort "Ich bin ein fahrender Schüler", das auf dem ganzen Wege mir alle Herzen erschlossen hatte, bewährte sich auch hier wie eine Zauberformel. Zum Frühstück lud er mich natürlich ein. Ich schmauste Vorrat von herrlichen Sachen, erzählte der Frau von Königsberg, und zog nach einem herzlichen Abschied nach Rominten zu. Theerbude war bald erreicht, an der Kaiserfichte vorbei, aß und trank und sah mir auch das Schloss an, bat vergebens das hübsche Mädchen um einen Kuss, das mich führte.
Von Theerbude nach Jagdbude verirrte ich mich und ging an der Meile 6 Stunden. Von dort um Sonnenuntergang aufbrechend gelangte ich nach zwei Stunden nach Rominten, das ich vor 4 oder 5 Jahren einmal gesehen hatte; Interessant war es mir, wie alles genau in die Erinnerung hineinpasste obwohl es dunkle Nacht war; Von da ging ich nach Kiauten um meinen Schulkameraden E. Hinz aufzusuchen.
Ich traf ihn schon im Bett, aber noch aufgerichtet: "Na Jankeleit, wo kommst Du hierher?" Dann zog er sich einen Schlafrock, an nahm eine Lampe und dann setzten wir uns in den Garten und tauschten Erinnerungen und Erlebnisse aus.
Am nächsten Morgen begleitete er mich. (übrigens morgens kam ein Müllergeselle schreckensbleich zu den Haus gestürzt: "Herr Jeses, Herr Jeses, da liegt ein fremder Kerl im Bett.")
Wir sprachen über Philosophie und alle andren schönen Dinge, dann trennten wir uns.
Ich wanderte nach Gumbinnen, teilte den Pennälern meine Ankunft mit, die mit dem größten Interesse meine Fahrt verfolgt hatten. Wenn ich eine Karte geschrieben hatte, so wurde das in d. Klasse vorgelesen und besprochen.
Abends ging ich nach Hause, beobachtete eine Feuersbrunst; hörte in Gedanken Pfosten stürzen, Balken krachen, Kinder jammern, Mütter irren, Tiere wimmern unter Trümmern. Dieses ferne Feuer und die Rauchsäule sind beinahe schrecklicher als das Feuer aus der Nähe. Dann steigt die Säule langsam, feurig und still in die Höhe, so erbarmungslos, so mächtig. Dagegen wenn man die Anstalten sieht, die überall getroffen werden, ist es gar nicht so aufregend für mich, besonders wenn man noch mithilft.
Der Kutscher einer mir sehr wohl bekannten Familie nahm mich mit. Er riet mir sofort und prahlte mir seiner Herrschaft Tochter zur Frau an. Bis ich ihn endlich verließ.
Zu Hause angekommen, fand ich Besucher vor, die mich mit Hallo empfingen, und es gar nicht glauben wollten, dass ich zu Hause wäre. Ich wollte es auch nicht glauben, als ich in stiller Nacht, leis wie einst Odysseus auf den Hof trete, wieder die alten lieben bekannten Umrisse sehe, und dieselbe Luft atme. Die Hunde schlagen an, ich rufe sie und beruhige sie und sie freuen sich und ich freue mich auch, dass sie mich erkennen und mich begrüßen.
Was war das Facit, Endresultat?
Auf die Bierkarte schrieb ich:
Ich habe 20 & abgenommen
doch war es so übel nicht,
denn ich hab manch hübschen Gipfel erklommen
und schaute manch hübsches Gesicht.
Und das stimmt. Das ästhetische Gemüte mag es sich
in anständiges Gedankendeutsch umwandeln.
* R.J.: "Analogie des geistigen und körperlichen, Spinoza"
* R.J.: Zitat aus Geibel auf Napoleon "Furchtbar dräute der Erbfeind"
* Pungel (ostpr.) = dickes Bündel
* Kadik (ostpr.) = Wacholder
* a.H. = alter Herr (studentisch), nicht mehr aktives Mitglied einer studentischen Verbindung
* puselich (ostpr.) = possierlich, liebenswert
* scharmutzieren (german.-it.) = plänkeln; liebeln
* schabbern (ostpr.) = kichern, tuscheln
* landsch (ostpr.) = 1. vom Lande; 2. schal, ausgeschalt
* Chemisette (lat.-fr.) = Hemdchen; Vorhemd
* Couleur (studentisch) = Wichs, Farben; schmales Band in den Farben der studentischen Verbindung
* fouragieren (fr.) hier: Essen besorgen
* graurig (ostpr.) = gruselig; hier: grässlich
* Ossian = altirischer Held
* Fuchs (studentisch) = aktives Mitglied einer studentischen Verbindung in den ersten beiden Semestern
* Philister (studentisch) = hier: im Berufsleben stehender alter Herr (s.o.)
* frappant (germ.-fr.) = schlagend, auffallend treffend
Von Brigitte Schaper und Jost Schaper aus den handschriftlichen Aufzeichnungen übertragen.
Bad Pyrmont, 22.08.1989
Zurück |