Ankunft in Langendorf - 1903

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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"Ich bin Conradine Cruse, Frau von Perbandts Kusine", sagte das junge Mädchen mit den sehr blonden Haaren und den sehr blauen Augen. Während dieser zwanglosen Vorstellung half sie mir in den halboffenen Wagen. Der Kutscher, der mein nicht sehr elegantes Gepäck auf dem Bock unterbrachte, trug einen schwarzen Mantel mit großer, gelb gefütterter Pelerine. Es fiel mir auf, daß die Krone auf den Knöpfen des Mantels nur 5 Zacken hatte, nicht 7 und mehr wie so häufig; ich hielt für Zufall, was Absicht war. Perbandts wählten in selbstbewußter Bescheidenheit die Adelskrone und ließen die 7 und 9 Zacken den Freiherrn und Grafen.

"Wir dürfen über den Kapkeimer Gutshof fahren, da wir mit dem Besitzer, Herrn Heubach, gut bekannt sind", sagte Fräulein Cruse, "dann kommen wir über die Wiesen geradewegs zu der Privatfähre von Langendorf". "Ich dachte, ich käme nach Pomedien." "In Pomedien ist das alte Wohnhaus abgebrannt, und das neue werden wir vor November kaum beziehen können. So lange bleiben wir noch in Langendorf im Schäferhäuschen, das Sie gleich kennen lernen werden. S i e wohnen im Schloß, und die Kinder kommen zum Unterricht zu Ihnen."

"Abgebrannt, wie furchtbar", sagte ich teilnehmend. Vor einem Jahr brannte ein Haus in der Bahnhofstraße ab, gerade uns gegenüber. Ich erwachte als erste durch den roten Schein am Fenster und meinte, die Sonne ginge auf. Ich lief durch zwei Zimmer zu dem erleuchteten Fenster, um besser sehen zu können. Der Schweiß brach mir aus, denn hier war es unheimlich heiß Auf beiden Seiten der Straße brannten die hohen Bäume wie Fackeln. Die Fensterscheiben platzten, und die Holzbalkons waren mit Funken überschüttet, glimmten und rauchten. Ein Onkel, der in dem selben Haus wohnte, kam eilends und rief, wir sollten schnell in den Garten kommen. Meine Mutter nahm das Ölbild meines Vaters und einige Dokumente mit sich; mein Onkel blieb und wehrte mehreren Burschen, die mit "Feurio" eindringen und angeblich retten wollten. Noch ehe die Feuerwehr kam, drehte sich der Wind, und ein ganz aus Holz gebautes Vergnügungslokal neben der Brandstätte stand sofort in Flammen und war beim Eintreffen der Hilfe nur noch ein Aschenhaufen. Jetzt sind dort an den Straßenseiten neue Bäumchen gepflanzt, aber es wird lange dauern, bis die Lücke ausgefüllt ist."

Der Kutscher hielt inzwischen mehrmals an und gab Frl. Cruse die Zügel, weil er absteigen mußte, um die Gatter zu öffnen und des weidenden Viehs wegen wieder zu schließen. Wir waren jetzt an der Fähre angekommen und wurden langsam übergesetzt.
"Der Brand von Pomedien," erzählte Frl. Cruse, "war so aufregend, weil meine Geschwister erst bei der Heimfahrt von Langendorf das Feuer bemerkten. Der erste Stock, in dem die Schlafzimmer der Kinder lagen, brannte lichterloh. Meine Kusine, die im fünften Monat schwanger war, kauerte sich im Wagen zusammen und wimmerte nur. Ein reitender Bote war dem Wagen entgegengeschickt worden mit der Nachricht: "Die Kinder sind gerettet;" "Alle?" wurde er gefragt; "Ich weiß nicht," sagte er in der Verwirrung. So verstrichen doch noch Minuten tödlicher Angst, bis Eltern und Kinder sich umarmen konnten."

Auf der Fähre war unser Kutscher abgestiegen und klopfte den Pferden unter beruhigenden Worten den Hals. Es waren bildschöne, junge Tiere, die den Betrieb auf der Fähre noch selten mitgemacht hatten. Jetzt mischte er sich gegen die Etikette in die Unterhaltung. "Eine furchtbare Nacht! Aber meine Alte hatte die Kinder in unsere Betten gelegt und das war ja nun woll die Hauptsache." "War der Schaden groß?" "Ach, im Obergeschoß waren ja nicht viele Sachen, und Hanna, meine Kusine, sagte immer, sie sei ganz froh, daß sie die große Bodenkammer, die voll von Gerümpel war, nun nicht mehr aufzuräumen brauchte."

August stieg wieder auf, und in flottem Trab ließen wir das Schloß und den großen Park rechts liegen und bogen in einen noch etwas höher gelegenen kleinen Wirtschaftshof mit einfachen Gebäuden ein und hielten vor dem so genannten Schäferhäuschen. Vor vielleicht 100 Jahren hatte dort einmal ein Schäfer gehaust.

Frau v.Perbandt stand in der Türe und neben ihr die zwei netten Jungens "Almann" und "Bi" d.h. Albrecht und Georg, und zwei kleine Mädchen, die blonde Hansel und die bildniedliche braune Jutta, die ich auf sechs und drei Jahre schätzte.

Nach einem kurzen Mittagessen waren alle vier verschwunden, und ich staunte, als ich sie bei dem kühlen Wetter barfuß in großen Pfützen panschen sah. Conne, wie Frl. Cruse allgemein genannt wurde, lachte: "Ja, Schuhe und Strümpfe waren nur Ihnen zu Ehren angezogen, damit Sie nicht gleich einen Schreck bekommen." Sklode, den vier Monate nach der Brandnacht Geborenen, bewunderte ich im Kinderwagen, ein blondes, zarthäutiges Kind, eine lebendige Widerlegung der Legende vom Feuermal.

Da ich Connes Aufforderung, etwas zu ruhen, ablehnte, bat sie mich, in ihr Zimmer mit zu kommen; sie wollte mich etwas über die Bewohner im Schloß orientieren, bei denen ich ja zunächst leben sollte. Wir stiegen eine kleine, sehr steile Treppe hinauf in eine winzige Mansarde, in der es sträflich zog. Ich hoffte in Connes Interesse, daß das Richtfest in Pomedien bald sein möchte. Conne kramte in Nähzeug und allerlei Kindersachen, und da sah ich mit Erstaunen zwischen kleinen Hemdchen und gestrickten Höschen seidene Unterwäsche für einen Erwachsenen liegen. Sie gefiel mir nicht; sie war plump im Schnitt mit Spitzen, die mehr nach handfestem Zwirn als Valenciennesfäden aussahen, und vor allem konnte man sie ja nicht waschen. Woher dieser unpraktische Luxus? "Sie wundern sich sicher", sagte Conne, und warf die stark vergilbte Pracht unsanft in einen Karton, "daß ich Seidenwäsche habe; mein Bräutigam - er ist Vikar, war vorher mit einer Besitzertochter verlobt, die ihm sagte, daß ihr höchster Wunsch seidene Unterwäsche sei, und nun hat er sie eben mir geschenkt." Eine feine Falte stand zwischen ihren Brauen. Conne war schon sieben Jahre mit dem Vikar Echternach verlobt; da hatte die Wäsche allerdings ein gutes Recht, gelb zu werden.

Conne nahm Strümpfe in Angriff. Ich kam nicht auf den Gedanken, zu helfen; ich war es so wenig gewohnt, einzuspringen und zuzugreifen; vielleicht, ja sicher wunderte sie sich. "Und nun zu den Langendorfern," fing sie dann an, "das Haupt des Hauses ist der "Gnädje"; alle nennen ihn so, auch seine Kinder, das hat sicher Willi eingeführt: "Willi", ich meine der Name, hat nichts mit Wilhelmine zu tun; in Schweden ist er auch gebräuchlich, und er paßt zu ihr; sie war eine tollkühne Reiterin; ich glaube, sie hat zur Zeit ihre Verlobung mit dem Grafen v.d.Trenck gelöst, weil er nicht gut reiten konnte; jetzt nach einer Operation darf sie es nicht mehr; nun fährt sie in ihrem eigenen Einspänner, denn Pferde muß sie haben; sie ist 42 Jahre alt und leitet den Haushalt; sie braucht aber selbst nicht viel zu tun; das Personal ist ausgezeichnet eingearbeitet.

Die ältere Schwester - Editha, sieht man wenig. Sie lebt ganz für sich mit ihrer geliebten Astronomie und ebenso geliebten Polterees (?).

Der jüngste Sohn - Junker Helmut - von Willi auch "Junker Pracht" genannt - des Hauses Pracht - arbeitet in der Landwirtschaft zu Hause.

Aber wundern Sie sich nicht, falls meine Namensschwester Conradine auftaucht; sie ist etwas seltsam, sie verwaltet die Kaffee- und Teevorräte, man sieht sie wenig.

Dann gibt's in Langendorf immer viele Gäste. In den nächsten Tagen kommt mein Bruder Eduard. Er hat den Boxeraufstand in China mitgemacht. Es wird Ihnen schon gefallen im Schloß, aber an Hanna reicht niemand heran; sie verdient ein besonderes Krönchen."
Wir tranken Kaffee in einer ganz einfach möblierten und doch so gemütlichen Stube. Ein kleiner Petroleumofen war angenehm warm nach dem Aufenthalt in der Mansarde. Er warf ein rötliches Licht auf Frau v.Perbandt, die, von den Kindern belagert, auf einer Chaiselongue mehr lag als saß. Jetzt, in ihrem Kreis, sah ich erst, wie wunderhübsch sie war, wie eine ganz, ganz voll erblühte dunkelrote Rose. Die reichen, braunen Haare, die in Wellen die klare Stirne einrahmten und im Nacken unter dem glänzenden Zopf in kleinen Löckchen spielten, die strahlenden, dunklen Augen, die feine, gerade Nase, der große Mund mit den schönen Zähnen, auch die etwas östlich breiten Backenknochen und die mehr untersetzte Figur, das alles ergab ein erquickend-harmonisches Ganzes. Sie gehörte zu den Menschen, in deren Nähe einem warm wird. Der Vater war in Sylt zur Seehundsjagd und sollte erst in drei Wochen zurück kommen.

See im Park von Langendorf, Ostpreußen
Wir mußten durch einen Teil des Parks gehen, um zum Schloß zu kommen. Unter den hohen Bäumen war es trotz des Mondlichts ganz dunkel; als ich mit Frau v.Perbandt aufbrach. Nur an einer Stelle lichtete sich der Vorhang, als man über einen großen, umbuschten Teich hinunter sehen konnte zum silbern glänzenden Pregel. Vom Schloß aus immer das hochgelegene Ufer entlang dehnte sich der Park noch weit aus; das hatte ich schon auf der Hinfahrt bemerkt.

Schloss Langendorf, Ostpreußen, 1907
Gleich beim Eintritt in die Halle war es klar, daß man sich hier auf einem ostpreußischen Adelssitz befand. Die Ahnenbilder, der Elchkopf mit seinen mächtigen Schaufeln über der Tür, die kunstlose, derbe Matte auf den dunklen Fliesen. Etwas seltsam die glänzend lackierten schwarzen Schränke mit Goldleisten - schönes, altes Mahagoni, barbarisch überpinselt. Nun ja, der Gnädje stammte eben aus einer Zeit, die allgemein das schöne Biedermeier aus ihren Zimmern verbannte, gleich den Schränken maskierte oder in Bodenkammern verstaute.

Der Gnädje war sehr groß, 1,83, und trug ein kleines Toupet. Er begrüßte mich chevaleresk und nahm an der Spitze des Tisches Platz; Gäste und seine Kinder zu beiden Seiten; ich saß am untersten Ende neben dem Junker, der, 35-jährig, der jüngste der Familie war; ein bildschöner Mensch mit starkem, dunklem Haar und Samtaugen; höflich, manchmal zu höflich und geistig unbegabt.

Willi, burschikos und amüsant durch ihre völlige Unbekümmertheit und Haltung - tat die Suppe auf, zu meinem leisen Entsetzen Milchsuppe mit Klunkern. Ich haßte Milchsuppen und sah mich um. Alle aßen gehorsam. "Ja," sagte der Gnädige, "mit der abendlichen Milchsuppe sind meine Geschwister und ich aufgewachsen, darum sind wir so alt geworden. Es gab jeden Abend dasselbe Klunkermus; aber danach, den Milchgegnern zum Trost ein warmes Gericht.

Fritze, das erste Stubenmädchen, servierte ein Pilzragout mit Klößchen an diesem ersten Abend. Ich habe nie einen Diener oder Kellner gesehen, der mit mehr hingebender Devotion und zugleich selbstbewußter Würde eine Mahlzeit serviert. Ach, die gute Fritze! Ich habe sie viel zu wenig beschenkt, und doch rechnete sie mich voll und ganz zur ersten Herrschaft und versank bei einer Begrüßung zu einem so tiefen Knicks, wie er mehr einer Gräfin als einer Hauslehrerin am Platz gewesen wäre. Für sie gab es auf der Welt nur Langendorf mit allem Drum und Dran. "Fritze, warum haben Sie bloß nicht geheiratet," fragte ich einmal, "Sie sind doch so besonders nett." "Ja, einer, der mich wollte, gefiel mir auch sehr gut," sagte sie, "aber heiraten konnte ich doch nicht, er wohnte jenseit Pregel! Das war schon zu weit von Langendorf!" Und dann wurde sie auf der Flucht bis nach Bethel verschlagen. Aber das Heimweh war zu stark und ihre Umgebung, wie mir Bi später erzählte, so ohne Perbandts auch nicht vornehm genug. So verschaffte ihr Sklode eine Möglichkeit in Bonn, wo alle Perbandts waren. "Es war ein erschütterndes Wiedersehen," schrieb mir Frau v.Perbandt.

In Langendorf ging man früh schlafen oder vielmehr zeitig in sein Zimmer, allein oder auch wohl zu einer Tasse Tee, einem Glas Wein in Gesellschaft; wenn man den langen Korridor entlang ging, war oft noch leises Lachen und Plaudern zu hören.

Mein Zimmer lag zwischen zwei Ecktürmen. In der Linde gegenüber schrieen die Käuzchen ganz böse ihr "Kuiwit"; die altmodischen Holzläden schlossen nicht gut, das Licht blendete Leute, die schlafen oder wohl auf Mäuse passen wollten; das mußte einen ja schließlich ärgern.

Seltsam, dachte ich beim Einschlafen, wie nun auf einmal jeder, aber auch jeder Mensch mir fremd ist. Es ist, wie manchmal in Büchern. Es ist ein neues, ein vollständig neues Kapitel das von heute an beginnt.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, denn ein Sommersonntagmorgen auf dem Lande war mir noch von Genslack her eine besonders köstliche Erinnerung. Diesmal war's aber so früh, daß der Gärtner noch nicht harkte und noch keine betauten Blumen in Vasen geordnet wurden. Ich stand auf der breiten, mit Pfeifenkraut bewachsenen Veranda vor dem Eßzimmer und sah ins Tal. Ziemlich steil fiel das Ufer in Terassen ab zum Pregel.
Der Pregel hatte in grauer Vorzeit einen anderen Namen getragen. Hier, wo die Burg der Perbandts, der Fürsten von Samland gestanden, hatte sich Pergolla von Perbandt im Fluß das Leben genommen. Seitdem hieß er Pregel. So hatte mir gestern Editha erzählt, die auch ein Drama "Pergolla" geschrieben hatte. Tief unten auf dem Weg nach Gr. Lindenau lag die windschiefe Kate, an der wir gestern vorbeigefahren waren, der Schibberkrug. Hieß er wohl früher Schifferkrug und kehrten hier vor langen Jahren Schiffer und Flößer ein? Bei Überschwemmungen war das ganze Urstromtal des Pregels ein großer See; der Schibberkrug war dann eine einzige Insel in den Wassern.

Ich ging weiter in den Park, berauscht vom Rosenduft auf den Terassen des Südabhanges. Sie verschwendeten sich in Duft und Farben. Die ungekünstelte Rosa centifolia, die auch in Bauerngärten zu Hause war, ihre rote Schwester, das Urbild der Blumenkönigin, betäubend süß wie Rosenöl, die zarten gelben Aristokraten! Eine weiße Kletterrose hatte ein altes Gartenhäuschen erobert und ganz umsponnen, ein lieblich-wehrhaftes Dornröschenversteck. Der Weg führte weiter unter hohen Bäumen und ließ immer wieder Durchblicke frei ins Pregeltal. Am Ende des Weges führten Stufen zu der höchsten Stelle des Parks, die durch eine einfache Birkenumzäunung von dem Abhang und dem Burggraben abgegrenzt war. Über den Graben hinweg ging der Park in eine pfadlose Wildnis über. Der leise Wind, der von den Wiesen her wehte, beschenkte mich mit ihrem Duft. So unaussprechlich rein und stark war die Luft, daß es mir schien, ich brauchte nur die Arme auszubreiten, und sie würde mich tragen, forttragen in den farbigen Schimmer dieses einmaligen Sommermorgens.

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 17.09.2007