Lugano

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Ende November 1955 beschloss ich zu meiner sehr geliebten Schwägerin Daisy nach Bissone zu fahren. Nun musste ich vor allem an meine Toilette1 denken, denn durch die Not der Zeit war ich ja ganz herunter gekommen. Dank der Hilfe amerikanischer Freunde hatte ich ein hübsches, blaues Kostüm2. Aber da fehlte noch viel. Meine Brüder hatten mir immer erzählt, die Pariserin legte den Hauptwert auf drei Dinge: bien chausée3, bien gantée4, bien coiffée5. Da in dem "bien coiffée" der Hut mit inbegriffen ist, ging ich mit Brigitte in den elegantesten Pyrmonter Laden, Vertretung für Wiener Modelle, und ich kaufte einen goldbraunen Hut für 50 Mark. Ich habe seit 1910 für Hüte 150 Mark ausgegeben; 50 Mark waren also in meinen Augen ein ansehnlicher Betrag. Von Brigitte borgte ich mir ihre eleganten Handschuhe, die zum Hut passten. Eine braune Handtasche wäre tot chic gewesen aber die graue war noch tadellos und passte schließlich zum Kostüm. Nun musste ich noch etwas Besonderes haben. In den Illustrierten und Modeblättern waren immer "die modischen Kleinigkeiten" erwähnt, "les accessoires", vor allem der "Blickfang".

Die vielen hübschen Ansteckdinge, kleine, glänzende Tierchen, Blumen, Arabesken6 sahen aber nach gar nichts aus, wenn sie billig waren, und Geld wollte ich für den "Blickfang" nicht opfern. Da fiel mir ein "Albertus"7 ein, der sich durch all die Jahrzehnte seit meinem Abitur in einem Erinnerungsschächtelchen versteckt gehalten hatte. Es war ein idealer Blickfang: vergoldet, mit tieferer Bedeutung, der große Menge rätselhaft. Die Hauptsache war damit geschafft, nun kamen noch Fahrplan und Reisegeld. Ich bin sehr wenig gereist, und wenn es einmal dazu kam, hatte ich immer freundliche Menschen, die alles Notwendige für mich erledigten: die Eltern, die geliebten Freunde, mein Mann, die Kinder. Besonders Urte hatte auch immer für mich gepackt, doch jetzt hatten beide so viel zu tun, schließlich konnte ich das alles alleine machen mithilfe des Reisebüros, eine wunderbare Einrichtung! Wie schnell hatte das nette Fräulein alles aufgeschrieben, obgleich es doch so weit war bis zum Tessin8. Und dann die Bank! Auch hier bewunderte ich die artistische Schnelligkeit des jungen, adretten Beamten, der mit ein paar Zahlen jonglierte und mir die Schweizer Franken gebündelt darbot. Somit war auch das in Ordnung, und ich brauchte nur noch Herren Finke zu bestellen. Wie leicht war doch das Reisen in Friedenszeiten! An einem milden, sonnigen Tag fuhr ich zur Bahn und hatte das Gefühl, die Leute müssten eigentlich aus den Fenstern schauen!

 

Nun muss ich Euch noch mein Reiseabenteuer erzählen. Ihr kennt eure Mutter, die auch in peinlichen Lagen nicht leicht verzweifelt und so sehr die kleinen, heiteren Arabesken des Lebens liebt.

Also gegen 5 Uhr morgens kommt die Passkontrolle! Ich hatte, da man kein Visum braucht, überhaupt nicht an meinen Pass gedacht und nur auf eine Gepäckkontrolle gerechnet; ich war doch so stolz, dass ich auf Reisebüro und Bank alles so überaus köstlich erledigt hatte. Ein Pass ist wohl so selbstverständlich, dass ich zwar viele Verhaltensmaßregeln bekam und gute Ratschläge - Tiny schlug mir z.B. als Gastgeschenk Butter vor - zum Frischhalten, in einer Thermosflasche verpackt - nie aber fiel das Wort " Pass". Der Mann von der deutschem Passkontrolle sagte, ich müsse zurückfahren und mir einen Pass besorgen, ich dürfte nicht weiter. Dass 100 Mark verloren wären, war ja nicht das Schlimmste, aber dieses Theater in Pyrmont!! und vor allem Daisy an dem Bahnhof in Lugano!!! Ich sagte, das wäre für mich außerordentlich peinlich, worauf er etwas freundlicher wurde und sagte, ich solle mal mit den Schweizer Kollegen von der Passkontrolle reden - ich konnte das Wort "Pass" schon nicht mehr hören - Die deutsche Kontrolle wäre mit meiner Ausreise einverstanden. Ein leiser Hoffnungsschimmer. Es dauerte noch eine volle Stunde, bis wir in Basel waren. Da saß ich nun in meinem gemütlichen Abteil mit einem teilnehmenden Reisenden, der den Nazis die ganze Schuld zuschob. Früher wäre kein Pass nötig gewesen, ja, wenn sie etwas rüber schmuggeln wollten, hätte der Hauptzöllner immer gesagt: "Nun lauft mir nicht gerade immer vor den Füßen herum, hinter dem Zollamt ist doch Platz genug." Ja, da saß ich und gab doch lieber, um ehrlich zu sein, mir die Schuld an meiner wahrscheinlich vereitelten Reise, die ich nun wiederholen müsste. Nur der Gedanke an Daisy war schwer zu ertragen. Endlich kam der Schweizer Zöllner, sehr unfreundlich, –Daisy sagt, die Schweizer Beamten seien nicht entgegenkommend –er sagte, ich müsse mit meinem Gepäck, dass er mir nicht einmal reichte, schnell aussteigen, sie hätten keine Zeit, ich solle in einen Raum gleich links vom Bahnsteig gehen.

Der Raum war ganz weit hinten, eine kahle Bretterbude. Da waren zwei andere. Ach ja, als ich ausgestiegen und ein Stück gegangen war, merkte ich plötzlich, dass ich meinen Hut liegen gelassen hatte. Das war zu viel! Der Hut, denn nun allein über Lugano nach Genua reisen würde, um von "der Braut des Obers" getragen zu werden! Ich kehrte schnell um und holte den Hut, zum Glück ohne den unfreundlichen Zöllner zu treffen. Die beiden in der Baracke9 waren durch den deutschen Beamten orientiert aber unzugänglich. Ich blieb immer ruhig und freundlich und schlug vor, mir einen Ausweis für einen Ausflug zu geben, aber sie sagten, Lugano wäre schon zu weit über die erlaubte Grenze hinaus.

Ein sehr gut aussehender Gentleman von den vieren sagte, wir müssten zu einem Büro gehen und trug nun wenigstens meinen Koffer. Das Büro sollte aber erst nach einer Stunde geöffnet werden. Ich schlug eine Gaststätte als Warteraum für mich vor, aber die war auch noch geschlossen. Es war überhaupt kein gewöhnlicher Bahnhof, denn man sah nicht einen einzigen Reisenden, wahrscheinlich nur eine Zollabfertigungsstelle, aber breite Perrons10 und große Gebäude. Ich dachte, er würde mich nun stehen lassen, aber er führte mich in einen annehmbaren Raum, wo sich auch die drei anderen einfanden und conferierten11. Ich sagte, es wäre mir so sehr peinlich wegen meiner Schwägerin, einer Italienerin, die nun enttäuscht auf dem Bahnhof stände, und vor allem hätte meine Bank Schuld, die mir niemals ohne Pass hätte Schweizer Franken geben dürfen und wenn man ohne Visum einreisen darf, dann wäre es nur logisch, auch ohne Pass reisen zu dürfen. Sie waren viel freundlicher geworden und fragten nach meinem deutschen Ausweis. Es ging mir wie Gretchen Reinwald12, die froh war, als sie doch wenigstens ein Buch vorweisen konnte. Die Wendung kam aber als der netteste mit strahlender Miene auf meinen Albertus wies: " Nein, Sie gehören zur Albertina! Da habe ich Jura studiert. Was haben sie studiert?" "National Ökonomie13. Und sehen Sie, nun war es eben ein Unglück, dass ich heiratete und meine Studien nicht beendete; sonst hätte ich dank des Studiums internationaler Beziehungen heute gewusst, dass man ohne Pass nicht die Grenze überschreiten darf." Da erhoben die vier ein Gelächter, wie ich es selten gehört, und während ich mich mit meinem Kommilitonen14 über Königsberg unterhielt, sagte der eine, er hätte Formulare für Ausnahmefälle, die würde er holen, und so haben sie mir dann zwei schöne Papiere ausgestellt für meinen Aufenthalt, "aber, bitte, bringen sie uns die bestimmt bei der Rückfahrt." Ich bedankte mich und sagte, ich wäre sehr froh; das wäre ja eben eine schrecklichere Konferenz gewesen als jedes Examen. Der erste ergriff mein Gepäck und sagte, ich könne noch meinen Zug erwischen. Ich hatte ihn mit Bedauern abfahren sehen, aber er hatte wohl nur rangiert und stand weiter draußen. Mein Begleiter ging im Eiltempo, und ich bin nur froh, dass sich auch schnell laufen kann. Er reichte mir alles in den Zug hinein und sagte: "Auf Wiedersehen! Das nächste Mal mit Pass!"

Ich war nun wieder ganz groß, und als es zum Frühstück läutete, habe ich im Speisewagen Tee getrunken.

1ein „Sichzurechtzumachen“(kleiden oder reinigen), beispielsweise für einen festlichen Anlass

2eine Damenkleidung, bestehend aus Rock und Jacke

3„beschuht“

4gekleidet

5friesiert

6eine Verzierung (Dekoration), deren Muster aus Blumen oder Ranken gebildet wird, siehe Arabeske (Ornament).

7eine Anstecknadel der Studenten der Albertus-Universität Königsberg i.Pr.

8Kanton Tessin, einen Kanton der Schweiz

9Bei einer Baracke (span./frz. "barro" = Lehm) handelt es sich grundsätzlich um ein provisorisches Gebäude zur vorübergehenden massenhaften Unterbringung von Personen, wie Soldaten, Arbeitern, Kriegsgefangenen, Flüchtlingen, Ausgebombten, Internierten oder Zwangsarbeitern.

10Bahnsteige

11Sich besprachen

12Kinderbuch von Agnes Sapper

13Volkswirtschaftslehre

14Kommilitone ist eine in Deutschland übliche Bezeichnung von Studenten für ihre Studienkollegen, also den Mitstudenten oder Studiengenossen

 


*) Die meisten der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2010
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Letzte Aktualisierung: 12.01.2010