In Genslack - 1898

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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„Kommt Kinder“, sagte Tante Marie, „wir wollen vor dem Abendessen ein Stück spazieren gehen, hinauf zum Pregelufer. Marie, komm doch auch mit.“

Die Mama kam ausnahmsweise mit. Sie ging sehr selten spazieren, nur am 1. Mai war der Frühlingsspaziergang nach Luisenwahl Tradition. Sie konnte nun einmal ihren Stuttgarter Frühling nicht vergessen. „Ende Januar hatten wir die ersten Schneeglöckchen“, sagte sie fast zürnend, und die Veilchen, die Maiglöckchen! Wie hat mein Vater die langen Frühlingswochen genossen! ‘Kinder, bindet mir doch den Frühling an,! sagte er beim Heimkommen. Hier ist es kahl bis in den Mai hinein, und dann ein Hui, ein Husch - in 8 Tagen schon ist alles vorbei; aber einen grünen Schimmer werden wir am 1. Mai haben. Da gehen wir nach Luisenwahl!“ Die arme Mama! An großen Bäumen war oft nicht einmal ein Schimmer; wir mußten uns mit dem Grün der Stachelbeerbüsche begnügen; es war windig und staubig; wir froren in den neuen, hellen Frühjahrsmänteln, und die großen Florentiner mit Feldblumenkränzen waren der reine Hohn. Es hatte schon herrliche Tage im April, ja im März gegeben, aber das zählte nicht. Der Frühjahrsspaziergang mußte am 1. Mai sein, und der ist mir immer frostig in Erinnerung; wir waren froh, wenn wir wieder zu Hause waren und Amalie heißen Kaffee brachte. Der Papa ging nie spazieren.
Wenn wir in Genslack Besuch aus der Stadt hatten, ging die Mama manchmal mit zum Mühlenteich, wo wir ein Badehäuschen am rechten Ufer hatten, an dem ein schmaler, unter den hohen Bäumen dunkler Weg entlang führte. Auf dem linken weg- und steglosen und darum geheimnisvollen aber leider für uns verbotenen Ufer sind wir nie gewesen. „Schaut immer ein Stück voraus Kinder“ sagte sie, ihren langen Rock raffend, „dann geht das Stück und schaut wieder voraus; so habe ich es immer gehalten, und bin noch nie in etwas hineingetreten..“ Das war so eine von ihren Lehren.

Zum Pregelufer hinauf, zu dem uns Tante Marie aufforderte, waren es nur 10 Minuten, da ging sie schon mit. Außerdem war es ein bequemer, breiter Fahrweg, der zur sanft ansteigenden Höhe führte, vorbei an der Schmiede und Meierei zwischen sandig-steinigen und zur Schafweide geeigneten Feldern. An der Meierei hatte die Mama halt gemacht, um Sahne zu bestellen. „Es gibt keine Sahne. Was machen wir nun bloß Marie morgen zum Kaffee?“ „Wenn man ein Eigelb in der Milch verrührt, ist ein guter Ersatz“ sagte Tante Marie. Als wir oben ankamen, stand ich überwältigt von der Pracht des Sonnenuntergangs. Der Pregel wand sich rot leuchtend durch die Wiesen, und die lieben, kleinen Katzenpfötchen schienen auf ihrem silbrigen Grau noch etwas von dem Schimmer zu bewahren, als die leuchtende Herrlichkeit schon fast erloschen war. Die Mama, die ein festes Programm für bestimmte Gelegenheiten hatte, stimmte die ‘Goldene Abendsonne’ an. „Was für eine helle Stimme du hast,“ sagte Tante Marie, „Kinder, singt mit.“ Miezel sang frisch und laut, Tilchen piepste leise mit taktmäßigen Bewegungen ihres hellblonden Köpfchens. Ich sang nicht mehr, seitdem die Mama einmal gesagt hatte: „Meine Töchter singen wie die Hühner.“ Ich schwieg nicht aus Gekränktheit, ich fügte mich Tatsachen. „Ah, des scabienses,“ sagte Tante Marie und pflückte einige blasslila Skabiosen, „wie bei Paul und Virginie.“ „Wer sind Paul und Virginie, Tante Marie?“ „Es sind Liebende in einem Roman von Bernardin de St. Pierre. Sie pflückten so oft Skabiosen. Ihr werdet es später in der französischen Literatur haben. Ich selber habe die englischen Bücher immer vorgezogen.“

„Scott, liebst du Scott?“ „Ja sehr, und wenn ihr ihn erst englisch lesen werdet - er schreibt eine wunderbare Feder.“ Die Mama kannte die Engländer nicht; im Punkte Literatur verstand sie sich nicht immer mit Tante Marie. Freilich kannte sie auch manche von deren Lieblingen nicht, wie Jean Paul, den eine ganze Generation glühend verehrte. So war in dem Punkt kein Schwerterkreuzen nötig wie bei Fanny Lewald contra Ottilie Wildermuth. „Als junges Mädchen,“ sagte die Mama, „habe ich auch für die Romane der Lewald geschwärmt. Ich habe ihr sogar einen Kranz schicken wollen, aber einer meiner Brüder der dazu kam, sagte, eine so berühmte Schriftstellerin würde mich nur auslachen, und sie hätte sich vielleicht doch gefreut; aber daß sie dann den geschiedenen Schriftsteller Stahr heiratete, das hat man ihr in den Tübinger Kreisen nie verziehen.“

Die Mama wußte gut Bescheid, da sie mit Adelheid Wildermuth sehr befreundet war und im Wildermuth’schen Haus in Tübingen verkehrt hatte. Aber auch Tante Marie war viel in Tübingen gewesen. Ihr, einer Vorkämpferin der Frauenrechte, war die Wildermuth zu hausbacken, und sie sagte entschuldigend, die geistreiche Lewald bedeutete so viel für Stahr und schließlich wäre es immerhin besser, ein Mensch würde unglücklich als drei.

Dann kamen sie auf Tante Maries weitere Sommerpläne. Sie wollte nach Schweizermühle zu ihrer geliebten Nichte Elsa Weber, deren Mann Bürgermeister von Leipzig war. „Else stellt die Kinder von einander entfernt am Wege auf, wenn ich im Wagen von der Bahn komme; das gibt hintereinander lauter herzliche Begrüssungen, bis ich an ihrem Sommerhäuschen lande. Die Kinder sind so lieb, doch alle dunkel, keine Blondköpfchen wie deine...“
Bei diesen Gesprächen irrten meine Gedanken ab und gingen verschlungene Pfade in romantischen Landschaften voll von unbestimmter, ahnungsdunkler Empfindung.

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 17.09.2007