Kriegsbeginn 1914. Bromberg

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Die Luft glitzerte vor Hitze, als ich mit Erna Sehmsdorf1, der Frau des feinen Masuren Fritz, jetzt Amtsrichter in Bromberg, aus dem Wellenbad kam. Der Lärm brauste uns noch in den Ohren. Das überdachte Bad bestand aus 3 durch Holzwände getrennten Abteilungen, durch die das von einer Mühle getriebene schon an sich stürmische Wasser der Brahe rauschte. Wenn man in der ersten Abteilung von den hölzernen Treppenstufen ins Wasser stieg, wurden einem die Füße vom Boden gerissen und man schwamm in wenigen Stößen bis zum 20m entfernten Ende, um sich dann mühsam zurück zu arbeiten. In der zweiten Abteilung hielt man sich an Ringen oder am Geländer fest und ließ sich atemlos den Rücken von den Wellen peitschen. In der dritten sah man nur weißen Schaum und hatte taube Ohren. Ich habe dort nie jemanden baden gesehen. Vielleicht wagte sich einmal ein starker Mann hineien. Für die Herren waren die günstigsten Badezeiten reserviert, von 8-12 und 4-8 Uhr. Ich ging meistens um 5 Uhr hin, aber heute hatte ich mich mit Erna um ½ 1 Uhr verabredet, da unsere Männer für einen Tag verreist waren.

Erna wurde von der Sehmsdorf-Sippe2 scheel angesehen, da ihre Mutter eine sehr schöne Jüdin war. Auch Erna mit dem Profil einer Gemme3, mit dem schönen Ansatz des dunklen Haares sah auffallend hübsch aus. Sie war ganz in Weiß, was ich neidlos bewundernd feststellte. Ich trug zur weißen Bluse einen dunkelblauen Rock und braune Spangen[schuhe]. Vielleich würde ich es auch einmal zu weißen Schuhen bringen. "Wollen wir über den Markt gehen?" fragte Erna, "Fritz will immer, dass ich auf dem Markt einkaufe. Ich finde es unpraktisch, wenn man alles selbst nach Hause schleppen soll. Die Geschäfte schicken auch ein halbes Pfund heran." "Mein Mann glaubt auch immer, dass auf dem Markt alles billiger ist und bedenkt nicht die Mühe. Sie sind eben beide vom Lande.4"

Ich kaufte Pilze von einem Mann, der neben sich einen Berg von Pfifferlingen aufgeschüttet hatte, der gößer war als er selber. Und so üppig und überreich war alles dort auf dem großen Platz vor der Jesuitenkirche mit dem Denkmal Friedrichs des Großen in der Mitte, auf dessen Sufen die Kräuterweiblein ihren Platz hatten. Gemüse und Obst leuchtend vor Frische, sahnige Butter in grüne Blätter eingeschlagen, große Eier, die schockweise zum Einlegen gekauft wurden und Blumen, Blumen! Ein strahlendes Hochsommerbild!

Alle Menschen, Käufer, Verkäufer und Schlachtenbummler schienen froh. Die Kinder, die noch ihre letzten Ferientage genossen, sah man übermütig lachen, denn an vielen Ständen wurde ihnen, ohne dass sie zu bitten brauchten, etwas ins Händchen gesteckt. "Was kosten die Eier?" "Wollen Sie handeln Madamchen?" "Bewahre." "Dann 3,60 das Schock5." Am Nachmittag erzählte mir eine tüchtige Hausfrau, sie hätte bei einer Eierfrau auf dem Markt, es war dieselbe, bei der ich kaufte, das Schock auf 4,20 herunter gehandelt, wozu ich taktvoll schwieg.

Fleisch gab es auch in einer Halle. Ich holte eine kleine Hammelkeule, die es am Sonntag mit den Pilzen geben sollte, und den Knochen gleich zum Abendbrot mit Bohnen aus unserem Garten. Das war dann eine Überraschung für meinen Mann bei seiner Heimkehr. Unterwegs griff man immer wieder Gespräche auf, die sich um die Urlaubsreisefrage drehten: "Gebirge oder See?"

Freude lag in der Luft, die Freude einer großen Nation in ihrer Rückschau auf glücklich Vollbrachtes, zukunftsfrohe Erwartung vor einem Vorhang, der im Heben noch immer köstlichere Ausblicke bieten würde! Das Straßenbild an sich war so bunt bewegt, heiter und köstlich jung in diesem Hochsommer 1914! Es gab ja keine Flüchtlinge in abgerissener Kleidung, keine Kriegsversehrten! Was wusste man schon von Kriegen! Da war der Überschwang von Sedanfeiern6.

"Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm
Jauchzend frohlocken im Jubelsturm
Des Flammenstoßes Geleucht facht an,
Der Herr hat Großes an uns getan,
Ehre sei Gott in der Höhe."
So sang Geibel7, "der Herold des Neuen Reiches8," wie wir in der Schule lernten. Napoleon9 war "der Drache, der vom goldenen Stuhl in den Pfuhl gestürzt wurde," und der biedere, alte Kaiser Wihelm I., war gefeiert als "Held der Mark," der zum Kampf heranzog und "über ihm, in Scharen zogen die Cherubim - ". Jedes Volk hatte im Grunde seinen Nationalgott wie im Alten Testament. Als Erheiterung gab es dann noch oft "Des deutschen Knaben Tischgebet," von Gerok10.

"Du lieber Gott magst ruhig sein
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"

Pauken und Siegestrompeten übertönten andere Vorstellungen, wenn im Reichstag von der Sozialdemokratie die kümmerlichen Renten der Kriegsinvaliden getadelt wurden, wenn alte Fräulein mit schwarzem Band gebündelte Briefe und verblichene Photos "ihres Helden" aufbewahrten. Man sah in dem heiteren Straßenbild auch kaum gebrechliche, alte Leute. Die Medizin war noch nicht so weit fortgeschritten. Ein Schenkelhalsbruch, eine Lungenentzündung waren in den meisten Fällen "der Anfang vom Ende" wie man so sagte.

Und wem die Gefahren des nahenden Alters nichts antaten, der hatte eben eine Natur wie Onkel Paul, der mit 65 Jahren Schlittschuh lief, wie Frau Kafemann, die als Urgroßmuttere in der See badete. Kränkliche Menschen hatten es auch nicht nötig, Schlange zu stehen. Jeder hatte sein Plätzchen, und dies "Plätzchen" war je nachdem, eine elegante Villa, eine Etagenwohnung mit "Komfort", "ein gemütliches Altersstübchen," denn auch in bescheidenen Verhältnissen konnte ein fleißiger Mensch es zu etwas bringen.

Tante Olga kam in den Garten. Sie sah sehr kummervoll aus und schenkte den Kindern nur einen flüchtigen Blick. "Ist es nicht furchtbar, dies Attentat11? Was meinen Sie, Herr Doktor? Gibt es Krieg?" Da war nun das Wort "Krieg" gefallen und nicht nur als unbestimmte Vermutung. "Und Russland? Welche Rolle, meinen Sie, wird Russland spielen?" Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn vertieften sich, Tante Olga hatte eine nicht unbeträchtliche Anzahl russischer Staatspapiere.

Urte kam jubelnd angelaufen: "Ein Piratz, ein Piratz." Sie hatte von den Kindern auf der Straße polnische Brocken aufgeschnappt. Ich entriss ihr erschreckt das Etwas, das in ihrer kleinen Hand krabbelte, so erschreckt, dass sie umpurzelte und sich erstaunt nach dem käferartigen Lebewesen umsah, das sich in dem Blumenbeet verkroch, wo die von Urte verschwenderisch ausgestreuten Bohnen und Erbsen zwischen den Rosen ihr Unwesen trieben.

Mein Mann antwortete kaum. Er beschäftigte sich mit seinen japanischen Klettergurken, die üppig gediehen und reichte Tante Olga die schönste mit einem Lächeln, das freundlich und zugleich ein wenig eitel war. Er war sehr stolz auf seine Gartenkünste "Gott segne die Hand, die diese Gurke zog!" Bei so viel Überschwang musste ich leise lächelnd an Tante Olgas Patenlöffel denken, den der Juwelier wegen seiner Wertlosigkeit zu gravieren ablehnte.

Niemand litt es zu Hause. "Ich habe gar keine Ruhe", sagte die Klavierlehrerin, die über uns wohnte. Ich habe mir Taschentücher mit einem entzückenden Richelieumuster gekauft, aber ich kann nicht handarbeiten. Ich kann überhaupt nicht stillsitzen." Auf der Post gab mir der Beamte beim Wechseln eines goldenen 20M-Stücks nur Papiergeld und Silber heraus. "Ja, das ist nun so," sagte mein Mann kurz. An einer Kreuzung der Danzigerstraße las ein Soldat mit Pickelhaube, umringt von Neugierigen Artikel vor, in denen immer wieder das Wort "Krieg" und Strafandrohungen vorkamen. "Ist das die Mobilmachung?" "Nein, aber der erste Schritt dazu. Auch für Civilisten gelten jetzt Kriegsgesetze, sehr verschärfte Gesetze gegenüber Freigeistern." "Wird totgeschossen -" las gerade der Soldat wieder wie einen Refrain. Auf der anderen Straßenseite wurde ein Mann angehalten, der gestikulierend etwas verkündete. "Er wird ganz harmlos sein, aber jetzt ist es wichtig, nicht aufzufallen."

Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen von einem Telegrammwechsel der Potentaten, von einer Entspannung der Lage. Oh, dem Himmel sei Dank! Wir gingen abends ins Sommertheater, ausnahmsweise; die beruhigenden Leitartikel hatten die meisten nicht beruhigt. Man suchte einander. Vor uns gingen zwei Mädchen und sangen:

"Wenn ein Mädchen einen Herrn hat,
Den sie liebt und der sie gern hat,
Fragt sie nicht wie, wo und wann,
Wenn er nur gut küssen kann."

Gewitterwolken stiegen auf, und da sangen sie diesen verbrecherischen Unsinn! Fritz Sehmsdorf im tradellos sitzenden Sommeranzug mit kleinen schwarz-weißen Karos, kam in der Pause zu uns. "Ich habe solchen Ärger gehabt! Heute kam meine Extrauniform vom Schneider und sitzt nicht ganz tip-top." "Rudolf", flüsterte ich gepresst, nachdem er gegangen "wie kann ein Mensch jetzt an den Sitz von Extrauniformen denken." "Das ist auch preußischer Stil, entschuldigte er, "jeder Knopf muss der Vorschrift bis auf den Punkt genügen." Das Stück wirkte in der gespannten Atmoshäre besonders albern. Rudolf saß ganz in sich zusammengesunken vor tödlicher Langeweile. Gerade sang die Soubrette12 etwas gequetscht: "Ich bin die Resel, und dies ist mein Esel!", da seufzte er tief: "Nun erkenne ich das blöde Stück; zum zweiten Mal hereingefallen." Plötzlich belebte sich das Publikum, als der Name Oesterreich fiel. Oesterreich war ja der Bundesgenosse, zu dem wir wie der Kaiser sagte, "in Nibelungentreue13" stehen würden. Die Resel trat an die Rampe und begann, ohne ersichtlichen Zusammenhang mit dem gespielten Stück "Gott erhalte Franz den Kaiser ..."14 zu singen. Der Beifall toste. Sie hatte die Stimmung erfasst.

Dann kamen die ersten Kriegserklärungen - Russland und Frankreich. Wir trafen Ringlebs und Frau Müller. Müller war Hauptmann der Reserve. Im Vorbeigehen hatten wir gesehen, wie der Seminardiener die Uniform bürstete und die Waffen putzte. Er kam bald heraus, und die Familie bemühte sich, seine Inspektionsfahrten in der Etappe als nicht ganz ungefährlich hinzustellen. Jeder Uniformträger musste ein Held sein! Natürlich! "Wir hörten schon, dass Gerhard eingezogen ist," sagte Ringleb zu Frau Müller, "ihr könnt sehr stolz sein, es ist eine große Zeit." Ringleb war erhoben und gerührt. "Und wie wird sich England einstellen?" "England," betonte Frau Müller energisch, "England steht auf der Seite des Rechts, hat mein Mann gesagt." Frau Ringleb stand daneben, wie immer etwas teilnahmslos. Ihr kleiner, nach 7-jähriger Ehe geborener Ulf, spielte daheim im Gitterbettchen. Er füllte ihr Herz so ganz aus, dass auch für die Kriegsangst kein Platz blieb. Er war Assessor15, als er, 28 Jahre alt, im II.Weltkrieg fiel. -

Immer neue Kriegserklärungen. Man zählte sie nicht mehr. Auf dem Elisabethmarkt vor unseren Fenstern wurden Pferde zu Heereszwecken geprüft und hin- und her geritten. Urte sah begeistert zu. Die Preise stiegen, die Zufuhr fehlte, denn wegen der Mobilmachung war der Personen- und Güterverkehr tagelang gesperrt. Salz kostete das 4-fache; vieles war plötzlich nicht mehr zu haben. Mein Mann kam mit mehreren Speckseiten nach Hause: "Für alle Fälle." Zum ersten Mal fiel das Wort "hamstern". Ein Mann verlangte auf dem Markt 7M für den Zentner Kartoffeln, die bisher 250M gekostet hatten. Die Frauen, die einen Wagen umringten, fassten mit empörtem Geschrei nach den Säcken und rissen sie herunter; einige platzten auf; die Kartoffeln rollten auf das Pflaster und wurden schnell in Taschen und Körbe gelesen. Der Mann schrie vergeblich nach der Polizei; als sich Männer einmischten und tätlich zu werden drohten, fuhr er schleunigst mit dem leeren Wagen davon. Nur das Geflügel wurde billig. Die Bauersfrauen, die fürchteten, von den Polen ausgeraubt zu werden, brachten solche Mengen auf den Markt, dass sie gar nicht alles los werden konnten und es teilweise verschleuderten. Martha saß im Büro im Klubsessel mit einem Huhn auf dem Schoß. Brigittchen, ein entzückendes, kleines Ding nicht ganz zwei-jährig, ein Apfelblütchen, streichelte das Huhn ganz sanft aber gegen den Strich, was Urte gleich energisch verbesserte.

Auf der Straße marschierten mit Musik lange Züge von Soldaten, blumengeschmückt; Passanten jubelten ihnen zu. Ein Junge bot sich zum Tragen des Tornisters16 an. Jeder wollte mithelfen, Beitragen zum Sieg! Die Soldaten konnhten all die Stullenpakete17 gar nicht schleppen; sie wurden zum Teil aus dem Zug geworfen. Und ebenso war es später mit Wollsachen. "Ach, Wollsachen!? Bis zum Winter sind wir lange zu Hause. Wir wollen Weihnachten nicht in Feindesland feieren." "Werdet Ihr denn in Russland einmarschieren können, in Frankreich?" "Selbstmurmelnd." Ein Hauptmann rief meinen Mann unterwegs an: "Hören Sie, Jankowsky, der Jagdverein stellt Ihnen das Revier zur Verfügung; es ist ja außer Ihnen kaum ein Mitglied da." "Ich denke nicht daran", brummte mein Mann im Weitergehen, "ich soll auf Hasen nschießen, während die anderen ... nun ja, ich melde mich so bald wie möglich." "Aber sie haben ja mehr Freiwillige als sie ausrüsten können. Sie nehmen Dich nur, wenn Du alles selbst stellst.", "Egal, ich werde meine Pflicht tun." "Es ist ja alles Wahnsinn, kompletter Wahnsinn!" "Bitte, sprich leise." "Die Kirchen sind überfüllt! Da singen sie nun 'der alt, böse Feind' und meinen England. Und in England beten sie nun auch um den Sieg, in Russland und Frankreich. Wir haben wieder Nationalgötter." "Um Gotteswillen, sei bloß still, und außerdem ist Deine ganze Einstellung falsch." Es war trostlos!

"Viele Hunde sind des Hasen Tod", schrieb meine Mutter; "ein Glück, dass Heer und Flotte gut sind," Georg, "ich habe in Belgien sehr, sehr Hässliches gesehen," Hermann, der gleich am Anfang als Artillerist ausgerückt war, Bocks sangen mit entrückter Mine patriotische Lieder. Von Walter hörten wir nichts. Daisy war mit dem kleinen Harry noch glücklich heraus gekommen und zu ihrem Vater nach der Schweiz geflüchtet, Walter hatte zweimal versucht, unter Verkleidungen mit zu kommen, aber er wurde zurück gehalten. Von seinem weiteren Schicksal wusste sie auch nichts. "Hoffentlich kommt er heraus." "Dann geht er gleich zur Matrosen-Artillerie." "Besser als russische Gefangenschaft."

In den Zeitungen wurde mit populären Witzen Stimmung gemacht: "Ach Frau M., mir tun unsere Feinde leid." "Warum nur? Die Feinde?" "Ja, die haut mein Mann doch gleich zu Mus," oder "Wie willst du nur unterwegs ohne Quartier schlafen?" "Ich lege mich auf den Rücken und decke mich mit dem Bauch zu." - "Mein Mann stellt seine Stiefel immer mit der Spitze nach innen ans Bett, sonst marschieren sie nachts weiter." An den Eisenbahnwagen der Truppentransporte standen Verse: "Jeder Stoß - ein Franzos, jeder Schuss - ein Russ, jeder Japs - ein Klapps", und dann "Gott strafe England!" Den Wunsch konnte man sogar als Gummistempel kaufen.

Plötzlich wurde es still, und das Leben kehrte scheinbar in die alltäglichen Bahnen zurück. Die Preise wurden normal, die Züge verkehrten regelmäßig, in den Läden sah man die neuen Herbstmoden, man ging ins Wellenbad, sprach von anderen Dingen als nur ausschließlich vom Krieg. Mein Mann hatte mich gewarnt, meine pazifistischen Ideale zu öffentlich laut werden zu lassen. Ich war innerlich ja so grenzenlos verzweifelt. An einen Sieg wollte ich trotz der Legion der Feinde doch glauben. Meine ganze Generation war ja in der Tradition der Befreiungskriege18, der Siege von64, 66, 70-71 aufgewachsen. Die Jahre zwischen den einzelnen Kriegen wurden in den Geschichtsstunden nur flüchtig erwähnt oder ganz übergangen. Wir würden siegen, und die Feinde konnten ja nur froh sein, wenn sie es bei der Besetzung mit deutschen Soldaten zu tun hatten. Wie schrecklich hatten "Napoleons Horden" auf deutschem Boden gehaust, wie es in den Büchern wie "Deutsche Treue, welsche Tücke" und der "Schmugglersohn von Norderney" vielleicht etwas übertrieben geschildert war. Wie anders war dagegen der Geist, der aus Zilles gutmütigen Zeichnungen "Vadding19 in Frankreich" sprach.

Und dann kam das erste Extrablatt vom Kriegsschauplatz. Wir lasen es auf einem grasigen Abhang sitzend am Rande der Stadt. "So viele Gefangene, Rudolf, so viele Kanonen, eine Fahne!" "Sie gehen rasch vorwärts, ich muss mich mit meiner Eingabe beeilen, sonst sind sie in Paris, ehe ich anfange. Das schwierigste Stück ist allerdings der Festungsgürtel an der französischen Grenze. Wenn unsere Truppen Maubeuge eingenommen haben, dann kannst Du Dir gut und gern eine Brosche zum Siegeseinzug kaufen." Ich las immer wieder die Aufzählung der Siegesbeute. "Wenn sie so viele Gefangene gemacht haben, dann sind es doch weniger - wenn das so weiter geht, müssen doch die anderen aufhören, von uns steht: "keine nennenswerten Verluste." Das Wort "nennenswert" tat mir plötzlich im Herzen weh. Sie waren schon nennenswert für viele. Ach, wie schulmädchenhaft-kindlich waren meine Vorstellungen! Den Stellungskrieg im russisch-japanischen Krieg hatten wohl viele nicht begriffen.

Am 1. Oktober zogen wir in die Thornerstraße 8, die sehr schön renoviert war. Man sah vom Büro aus, das einen eigenen Eingang von der Treppe [aus] hatte, durch den großen Salon (H.5), das gleichfalls große Esszimmer, in dem die dunklen, glänzenden Eichenmöbel auf dem roten Linoleum sehr gut aussahen, über den großen Balkon hinaus nur ins Grüne. Ich liebte den Salon besonders. Ein Fenster nahm eine ganze Wand ein. Die Tapete hellgrau, etwas schimmernd wie Samt, große Blumensträuße hoben sich plastisch ab von dem ruhigen Grund - ein schöner Teppich - der Flügel - die Rokokomöbel. Das Haus lag auf halber Höhe; nach vorne hinaus verdeckten hohe Bäume jeden Blick auf die gegenüber liegenden Häuser, nach hinten vom Schlaf- und Kinderzimmer aus - das Schlafzimmer, Gardinen und Bettdecken in dem geliebten Goldgelb - sah man über den großen Seminargarten hinweg das tiefer liegende Panorama von Bromberg mit der Brahe.

Die Sonne ging unter - welch ein Bild! "Man kann nie ganz unglücklich sein, wenn man täglich solche Schönheit sieht, dachte ich. Hier würden wir nun immer bleiben. Auf dem überdachten Südbalkon könnten die Kinder bei jedem Wetter spielen, vielleicht noch ein Kindchen dazu. Georg hatte mir ein Photo geschickt, auf dem seine 4 Kinder in einem Klubsessel zusammen gedrängt saßen. Solch ein Nest war wirklich reizend.

Am 07.10. fuhr mein Mann nach Berlin, um sich zu stellen. Am 8. früh fegte ich die köstlich raschelnden Blätter der Kastanien auf dem Weg zusammen, der von der Straße zum Haus führte. Es war ein herbstgoldener Tag. Der Bote brachte mir ein Telegramm: "Bin beim 2. Garderegiment zu Fuß eingestellt. Sprich gleich mit Dieser und Ringleb wegen der Vertretung. Rudolf".

1Im handschriftlichen Text steht eindeutig Erna. Nach den Unterlagen Toni Kreis', die mir die gesamten Nachkommen des "Stammvaters" der Sehmsdorfs, Daniel, aufgelistet hatte, hieß sie Emma Jutta, geb. Bless.
Sie war mit Fritz Sehmsdorf, zuletzt Landgerichtsdirektor in Berlin (1883-1966) verheiratet. Fritz war das 2. Kind von Otto Sehmsdorf (1844-1901) und Olga, geb. König (1859-1944) und Enkel von Julius Sehmsdorf (1811-1900) und Mathilde, geb. Vanselow (1814-1892).

2Es handelt sich um die (Großvater-Vater-Sohn(-Enkel)) Julius-Otto-Fritz-, s.o. Fußnote 1), und nicht um die Julius-Georg-Erich-(Georg)-Sehmsdorfs.

3Vertieft geschnittener Schmuckstein

4Rudolf Jankowsky war auf dem Hof der Eltern in Eggleningken und Fritz Sehmsdorf auf dem Hof der Eltern in Podanin aufgewachsen (= "beide vom Lande").

5= 5 Dutzend, = 60 Stück

6Erinnerungsfeier an den Sieg von Sedan und die Gefangennahme Napoleons III.

7Franz Emanuel August Geibel, 1815 - 1884, deutscher Lyriker

8Deutsches Reich, gegründet 1871

9Napoleon III.

10Karl Gerok, 1815 - 1890, deutscher Theologe und Lyriker

11Im Juni 1914 war die Stadt Sarajewo Schauplatz des tödlichen Attentates auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau, welches zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug.

12Soubrette (ursprünglich franz. für Zofe, Dienerin) wurde später nur in der Theatersprache benutzt

13geläufiges Schlagwort, das eine Form bedingungsloser, emotionaler und potenziell verhängnisvoller Treue beschreibt.

14Oesterreichische Nationalhymne des Kauserreichs

15Beamter des höheren Dienstes vor Verleihung des ersten Amtes, also in der Probezeit

16Tornister, umgangssprachlich auch Affe genannt, ist eine vorwiegend im militärischen Bereich angesiedelte Rucksackform

17Butterbrot (-pakete)

18Kriege gegen Napoleon I.

19Vater

(Einige der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/ )  

 



© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2007
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Letzte Aktualisierung: 30.12.2007