Die Luft glitzerte vor Hitze, als ich
mit Erna Sehmsdorf,
der Frau des feinen Masuren Fritz, jetzt Amtsrichter in Bromberg, aus
dem Wellenbad kam. Der Lärm brauste uns noch in den Ohren. Das
überdachte Bad bestand aus 3 durch Holzwände getrennten
Abteilungen, durch die das von einer Mühle getriebene schon an
sich stürmische Wasser der Brahe rauschte. Wenn man in der
ersten Abteilung von den hölzernen Treppenstufen ins Wasser
stieg, wurden einem die Füße vom Boden gerissen und man
schwamm in wenigen Stößen bis zum 20m entfernten Ende, um
sich dann mühsam zurück zu arbeiten. In der zweiten
Abteilung hielt man sich an Ringen oder am Geländer fest und
ließ sich atemlos den Rücken von den Wellen peitschen. In
der dritten sah man nur weißen Schaum und hatte taube Ohren.
Ich habe dort nie jemanden baden gesehen. Vielleicht wagte sich
einmal ein starker Mann hineien. Für die Herren waren die
günstigsten Badezeiten reserviert, von 8-12 und 4-8 Uhr. Ich
ging meistens um 5 Uhr hin, aber heute hatte ich mich mit Erna um ½
1 Uhr verabredet, da unsere Männer für einen Tag verreist
waren.
Erna wurde von der Sehmsdorf-Sippe scheel
angesehen, da ihre Mutter eine sehr schöne Jüdin
war. Auch Erna mit dem Profil einer Gemme,
mit dem schönen Ansatz des dunklen Haares sah auffallend hübsch
aus. Sie war ganz in Weiß, was ich neidlos bewundernd
feststellte. Ich trug zur weißen Bluse einen dunkelblauen Rock
und braune Spangen[schuhe]. Vielleich würde ich es auch einmal
zu weißen Schuhen bringen. "Wollen wir über den Markt
gehen?" fragte Erna, "Fritz will immer, dass ich auf dem Markt
einkaufe. Ich finde es unpraktisch, wenn man alles selbst nach Hause
schleppen soll. Die Geschäfte schicken auch ein halbes Pfund
heran." "Mein Mann glaubt auch immer, dass auf dem Markt alles
billiger ist und bedenkt nicht die Mühe. Sie sind eben beide vom
Lande."
Ich kaufte Pilze von einem Mann, der
neben sich einen Berg von Pfifferlingen aufgeschüttet hatte, der
gößer war als er selber. Und so üppig und überreich
war alles dort auf dem großen Platz vor der Jesuitenkirche mit
dem Denkmal Friedrichs des Großen in der Mitte, auf dessen
Sufen die Kräuterweiblein ihren Platz hatten. Gemüse und
Obst leuchtend vor Frische, sahnige Butter in grüne Blätter
eingeschlagen, große Eier, die schockweise zum Einlegen gekauft
wurden und Blumen, Blumen! Ein strahlendes Hochsommerbild!
Alle Menschen, Käufer, Verkäufer
und Schlachtenbummler schienen froh. Die Kinder, die noch ihre
letzten Ferientage genossen, sah man übermütig lachen, denn
an vielen Ständen wurde ihnen, ohne dass sie zu bitten
brauchten, etwas ins Händchen gesteckt. "Was kosten die Eier?"
"Wollen Sie handeln Madamchen?" "Bewahre." "Dann 3,60 das
Schock."
Am Nachmittag erzählte mir eine tüchtige Hausfrau, sie
hätte bei einer Eierfrau auf dem Markt, es war dieselbe, bei der
ich kaufte, das Schock auf 4,20 herunter gehandelt, wozu ich taktvoll
schwieg.
Fleisch gab es auch in einer Halle. Ich
holte eine kleine Hammelkeule, die es am Sonntag mit den Pilzen geben
sollte, und den Knochen gleich zum Abendbrot mit Bohnen aus unserem
Garten. Das war dann eine Überraschung für meinen Mann bei
seiner Heimkehr. Unterwegs griff man immer wieder Gespräche auf,
die sich um die Urlaubsreisefrage drehten: "Gebirge oder See?"
Freude lag in der Luft, die
Freude einer großen Nation in ihrer Rückschau auf
glücklich Vollbrachtes, zukunftsfrohe Erwartung vor einem
Vorhang, der im Heben noch immer köstlichere Ausblicke bieten
würde! Das Straßenbild an sich war so bunt bewegt, heiter
und köstlich jung in diesem Hochsommer 1914! Es gab ja keine
Flüchtlinge in abgerissener Kleidung, keine Kriegsversehrten!
Was wusste man schon von Kriegen! Da war der Überschwang von
Sedanfeiern.
"Nun lasset die Glocken
von Turm zu Turm
Jauchzend frohlocken im Jubelsturm
Des
Flammenstoßes Geleucht facht an,
Der Herr hat Großes
an uns getan,
Ehre sei Gott in der Höhe."
So sang
Geibel, "der
Herold des Neuen Reiches," wie
wir in der Schule lernten. Napoleon war "der Drache, der vom goldenen Stuhl in den Pfuhl gestürzt
wurde," und der biedere, alte Kaiser Wihelm I., war gefeiert als
"Held der Mark," der zum Kampf heranzog und "über ihm, in
Scharen zogen die Cherubim - ". Jedes Volk hatte im Grunde seinen
Nationalgott wie im Alten Testament. Als Erheiterung gab es dann noch
oft "Des deutschen Knaben Tischgebet," von Gerok.
"Du lieber Gott magst
ruhig sein
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"
Pauken und Siegestrompeten übertönten
andere Vorstellungen, wenn im Reichstag von der Sozialdemokratie die
kümmerlichen Renten der Kriegsinvaliden getadelt wurden, wenn
alte Fräulein mit schwarzem Band gebündelte Briefe und
verblichene Photos "ihres Helden" aufbewahrten. Man sah in dem
heiteren Straßenbild auch kaum gebrechliche, alte Leute. Die
Medizin war noch nicht so weit fortgeschritten. Ein
Schenkelhalsbruch, eine Lungenentzündung waren in den meisten
Fällen "der Anfang vom Ende" wie man so sagte.
Und wem die Gefahren des nahenden
Alters nichts antaten, der hatte eben eine Natur wie Onkel Paul, der
mit 65 Jahren Schlittschuh lief, wie Frau Kafemann, die als
Urgroßmuttere in der See badete. Kränkliche Menschen
hatten es auch nicht nötig, Schlange zu stehen. Jeder hatte sein
Plätzchen, und dies "Plätzchen" war je nachdem, eine
elegante Villa, eine Etagenwohnung mit "Komfort", "ein
gemütliches Altersstübchen," denn auch in bescheidenen
Verhältnissen konnte ein fleißiger Mensch es zu etwas
bringen.
Tante Olga kam in den Garten. Sie sah
sehr kummervoll aus und schenkte den Kindern nur einen flüchtigen
Blick. "Ist es nicht furchtbar, dies Attentat?
Was meinen Sie, Herr Doktor? Gibt es Krieg?" Da war nun das Wort
"Krieg" gefallen und nicht nur als unbestimmte Vermutung. "Und
Russland? Welche Rolle, meinen Sie, wird Russland spielen?" Die
Sorgenfalten auf ihrer Stirn vertieften sich, Tante Olga hatte eine
nicht unbeträchtliche Anzahl russischer Staatspapiere.
Urte kam jubelnd angelaufen: "Ein
Piratz, ein Piratz." Sie hatte von den Kindern auf der Straße
polnische Brocken aufgeschnappt. Ich entriss ihr erschreckt das
Etwas, das in ihrer kleinen Hand krabbelte, so erschreckt, dass sie
umpurzelte und sich erstaunt nach dem käferartigen Lebewesen
umsah, das sich in dem Blumenbeet verkroch, wo die von Urte
verschwenderisch ausgestreuten Bohnen und Erbsen zwischen den Rosen
ihr Unwesen trieben.
Mein Mann antwortete kaum. Er
beschäftigte sich mit seinen japanischen Klettergurken, die
üppig gediehen und reichte Tante Olga die schönste mit
einem Lächeln, das freundlich und zugleich ein wenig eitel war.
Er war sehr stolz auf seine Gartenkünste "Gott segne die Hand,
die diese Gurke zog!" Bei so viel Überschwang musste ich leise
lächelnd an Tante Olgas Patenlöffel denken, den der
Juwelier wegen seiner Wertlosigkeit zu gravieren ablehnte.
Niemand litt es zu Hause. "Ich habe
gar keine Ruhe", sagte die Klavierlehrerin, die über uns
wohnte. Ich habe mir Taschentücher mit einem entzückenden
Richelieumuster gekauft, aber ich kann nicht handarbeiten. Ich kann
überhaupt nicht stillsitzen." Auf der Post gab mir der Beamte
beim Wechseln eines goldenen 20M-Stücks nur Papiergeld und
Silber heraus. "Ja, das ist nun so," sagte mein Mann kurz. An
einer Kreuzung der Danzigerstraße las ein Soldat mit
Pickelhaube, umringt von Neugierigen Artikel vor, in denen immer
wieder das Wort "Krieg" und Strafandrohungen vorkamen. "Ist das
die Mobilmachung?" "Nein, aber der erste Schritt dazu. Auch für
Civilisten gelten jetzt Kriegsgesetze, sehr verschärfte Gesetze
gegenüber Freigeistern." "Wird totgeschossen -" las gerade
der Soldat wieder wie einen Refrain. Auf der anderen Straßenseite
wurde ein Mann angehalten, der gestikulierend etwas verkündete.
"Er wird ganz harmlos sein, aber jetzt ist es wichtig, nicht
aufzufallen."
Am nächsten Tag berichteten die
Zeitungen von einem Telegrammwechsel der Potentaten, von einer
Entspannung der Lage. Oh, dem Himmel sei Dank! Wir gingen abends ins
Sommertheater, ausnahmsweise; die beruhigenden Leitartikel hatten die
meisten nicht beruhigt. Man suchte einander. Vor uns gingen zwei
Mädchen und sangen:
"Wenn ein Mädchen
einen Herrn hat,
Den sie liebt und der sie gern hat,
Fragt sie
nicht wie, wo und wann,
Wenn er nur gut küssen kann."
Gewitterwolken stiegen auf, und da
sangen sie diesen verbrecherischen Unsinn! Fritz Sehmsdorf im
tradellos sitzenden Sommeranzug mit kleinen schwarz-weißen
Karos, kam in der Pause zu uns. "Ich habe solchen Ärger
gehabt! Heute kam meine Extrauniform vom Schneider und sitzt nicht
ganz tip-top." "Rudolf", flüsterte ich gepresst, nachdem
er gegangen "wie kann ein Mensch jetzt an den Sitz von
Extrauniformen denken." "Das ist auch preußischer Stil,
entschuldigte er, "jeder Knopf muss der Vorschrift bis auf den
Punkt genügen." Das Stück wirkte in der gespannten
Atmoshäre besonders albern. Rudolf saß ganz in sich
zusammengesunken vor tödlicher Langeweile. Gerade sang die
Soubrette etwas gequetscht: "Ich bin die Resel, und dies ist mein Esel!",
da seufzte er tief: "Nun erkenne ich das blöde Stück; zum
zweiten Mal hereingefallen." Plötzlich belebte sich das
Publikum, als der Name Oesterreich fiel. Oesterreich war ja der
Bundesgenosse, zu dem wir wie der Kaiser sagte, "in
Nibelungentreue"
stehen würden. Die Resel trat an die Rampe und begann, ohne
ersichtlichen Zusammenhang mit dem gespielten Stück "Gott
erhalte Franz den Kaiser ..."
zu singen. Der Beifall toste. Sie hatte die Stimmung erfasst.
Dann kamen die ersten Kriegserklärungen
- Russland und Frankreich. Wir trafen Ringlebs und Frau Müller.
Müller war Hauptmann der Reserve. Im Vorbeigehen hatten wir
gesehen, wie der Seminardiener die Uniform bürstete und die
Waffen putzte. Er kam bald heraus, und die Familie bemühte sich,
seine Inspektionsfahrten in der Etappe als nicht ganz ungefährlich
hinzustellen. Jeder Uniformträger musste ein Held sein!
Natürlich! "Wir hörten schon, dass Gerhard eingezogen
ist," sagte Ringleb zu Frau Müller, "ihr könnt sehr
stolz sein, es ist eine große Zeit." Ringleb war erhoben und
gerührt. "Und wie wird sich England einstellen?" "England,"
betonte Frau Müller energisch, "England steht auf der Seite
des Rechts, hat mein Mann gesagt." Frau Ringleb stand daneben, wie
immer etwas teilnahmslos. Ihr kleiner, nach 7-jähriger Ehe
geborener Ulf, spielte daheim im Gitterbettchen. Er füllte ihr
Herz so ganz aus, dass auch für die Kriegsangst kein Platz
blieb. Er war Assessor,
als er, 28 Jahre alt, im II.Weltkrieg fiel. -
Immer neue Kriegserklärungen. Man
zählte sie nicht mehr. Auf dem Elisabethmarkt vor unseren
Fenstern wurden Pferde zu Heereszwecken geprüft und hin- und her
geritten. Urte sah begeistert zu. Die Preise stiegen, die Zufuhr
fehlte, denn wegen der Mobilmachung war der Personen- und
Güterverkehr tagelang gesperrt. Salz kostete das 4-fache; vieles
war plötzlich nicht mehr zu haben. Mein Mann kam mit mehreren
Speckseiten nach Hause: "Für alle Fälle." Zum ersten
Mal fiel das Wort "hamstern". Ein Mann verlangte auf dem Markt 7M
für den Zentner Kartoffeln, die bisher 250M gekostet hatten. Die
Frauen, die einen Wagen umringten, fassten mit empörtem Geschrei
nach den Säcken und rissen sie herunter; einige platzten auf;
die Kartoffeln rollten auf das Pflaster und wurden schnell in Taschen
und Körbe gelesen. Der Mann schrie vergeblich nach der Polizei;
als sich Männer einmischten und tätlich zu werden drohten,
fuhr er schleunigst mit dem leeren Wagen davon. Nur das Geflügel
wurde billig. Die Bauersfrauen, die fürchteten, von den Polen
ausgeraubt zu werden, brachten solche Mengen auf den Markt, dass sie
gar nicht alles los werden konnten und es teilweise verschleuderten.
Martha saß im Büro im Klubsessel mit einem Huhn auf dem
Schoß. Brigittchen, ein entzückendes, kleines Ding nicht
ganz zwei-jährig, ein Apfelblütchen, streichelte das Huhn
ganz sanft aber gegen den Strich, was Urte gleich energisch
verbesserte.
Auf der Straße marschierten mit
Musik lange Züge von Soldaten, blumengeschmückt; Passanten
jubelten ihnen zu. Ein Junge bot sich zum Tragen des Tornisters
an. Jeder wollte mithelfen, Beitragen zum Sieg! Die Soldaten konnhten
all die Stullenpakete gar nicht schleppen; sie wurden zum Teil aus dem Zug geworfen. Und
ebenso war es später mit Wollsachen. "Ach, Wollsachen!? Bis
zum Winter sind wir lange zu Hause. Wir wollen Weihnachten nicht in
Feindesland feieren." "Werdet Ihr denn in Russland einmarschieren
können, in Frankreich?" "Selbstmurmelnd." Ein Hauptmann
rief meinen Mann unterwegs an: "Hören Sie, Jankowsky, der
Jagdverein stellt Ihnen das Revier zur Verfügung; es ist ja
außer Ihnen kaum ein Mitglied da." "Ich denke nicht daran",
brummte mein Mann im Weitergehen, "ich soll auf Hasen nschießen,
während die anderen ... nun ja, ich melde mich so bald wie
möglich." "Aber sie haben ja mehr Freiwillige als sie
ausrüsten können. Sie nehmen Dich nur, wenn Du alles selbst
stellst.", "Egal, ich werde meine Pflicht tun." "Es ist ja
alles Wahnsinn, kompletter Wahnsinn!" "Bitte, sprich leise."
"Die Kirchen sind überfüllt! Da singen sie nun 'der alt,
böse Feind' und meinen England. Und in England beten sie nun
auch um den Sieg, in Russland und Frankreich. Wir haben wieder
Nationalgötter." "Um Gotteswillen, sei bloß still, und
außerdem ist Deine ganze Einstellung falsch." Es war
trostlos!
"Viele Hunde sind des Hasen Tod",
schrieb meine Mutter; "ein Glück, dass Heer und Flotte gut
sind," Georg, "ich habe in Belgien sehr, sehr Hässliches
gesehen," Hermann, der gleich am Anfang als Artillerist ausgerückt
war, Bocks sangen mit entrückter Mine patriotische Lieder. Von
Walter hörten wir nichts. Daisy war mit dem kleinen Harry noch
glücklich heraus gekommen und zu ihrem Vater nach der Schweiz
geflüchtet, Walter hatte zweimal versucht, unter Verkleidungen
mit zu kommen, aber er wurde zurück gehalten. Von seinem
weiteren Schicksal wusste sie auch nichts. "Hoffentlich kommt er
heraus." "Dann geht er gleich zur Matrosen-Artillerie." "Besser
als russische Gefangenschaft."
In den Zeitungen wurde mit populären
Witzen Stimmung gemacht: "Ach Frau M., mir tun unsere Feinde leid."
"Warum nur? Die Feinde?" "Ja, die haut mein Mann doch gleich zu
Mus," oder "Wie willst du nur unterwegs ohne Quartier schlafen?"
"Ich lege mich auf den Rücken und decke mich mit dem Bauch
zu." - "Mein Mann stellt seine Stiefel immer mit der Spitze nach
innen ans Bett, sonst marschieren sie nachts weiter." An den
Eisenbahnwagen der Truppentransporte standen Verse: "Jeder Stoß
- ein Franzos, jeder Schuss - ein Russ, jeder Japs - ein Klapps",
und dann "Gott strafe England!" Den Wunsch konnte man sogar als
Gummistempel kaufen.
Plötzlich wurde es still, und das
Leben kehrte scheinbar in die alltäglichen Bahnen zurück.
Die Preise wurden normal, die Züge verkehrten regelmäßig,
in den Läden sah man die neuen Herbstmoden, man ging ins
Wellenbad, sprach von anderen Dingen als nur ausschließlich vom
Krieg. Mein Mann hatte mich gewarnt, meine pazifistischen Ideale zu
öffentlich laut werden zu lassen. Ich war innerlich ja so
grenzenlos verzweifelt. An einen Sieg wollte ich trotz der Legion der
Feinde doch glauben. Meine ganze Generation war ja in der Tradition
der Befreiungskriege,
der Siege von64, 66, 70-71 aufgewachsen. Die Jahre zwischen den
einzelnen Kriegen wurden in den Geschichtsstunden nur flüchtig
erwähnt oder ganz übergangen. Wir würden siegen, und
die Feinde konnten ja nur froh sein, wenn sie es bei der Besetzung
mit deutschen Soldaten zu tun hatten. Wie schrecklich hatten
"Napoleons Horden" auf deutschem Boden gehaust, wie es in den
Büchern wie "Deutsche Treue, welsche Tücke" und der
"Schmugglersohn von Norderney" vielleicht etwas übertrieben
geschildert war. Wie anders war dagegen der Geist, der aus Zilles
gutmütigen Zeichnungen "Vadding in Frankreich" sprach.
Und dann kam das erste Extrablatt vom
Kriegsschauplatz. Wir lasen es auf einem grasigen Abhang sitzend am
Rande der Stadt. "So viele Gefangene, Rudolf, so viele Kanonen,
eine Fahne!" "Sie gehen rasch vorwärts, ich muss mich mit
meiner Eingabe beeilen, sonst sind sie in Paris, ehe ich anfange. Das
schwierigste Stück ist allerdings der Festungsgürtel an der
französischen Grenze. Wenn unsere Truppen Maubeuge eingenommen
haben, dann kannst Du Dir gut und gern eine Brosche zum Siegeseinzug
kaufen." Ich las immer wieder die Aufzählung der Siegesbeute.
"Wenn sie so viele Gefangene gemacht haben, dann sind es doch
weniger - wenn das so weiter geht, müssen doch
die anderen aufhören, von uns steht: "keine nennenswerten
Verluste." Das Wort "nennenswert" tat mir plötzlich im
Herzen weh. Sie waren schon nennenswert für viele. Ach, wie
schulmädchenhaft-kindlich waren meine Vorstellungen! Den
Stellungskrieg im russisch-japanischen Krieg hatten wohl viele nicht
begriffen.
Am 1. Oktober
zogen wir in die Thornerstraße 8, die sehr schön renoviert
war. Man sah vom Büro aus, das einen eigenen Eingang von der
Treppe [aus] hatte, durch den großen Salon (H.5), das
gleichfalls große Esszimmer, in dem die dunklen, glänzenden
Eichenmöbel auf dem roten Linoleum sehr gut aussahen, über
den großen Balkon hinaus nur ins Grüne. Ich liebte den
Salon besonders. Ein Fenster nahm eine ganze Wand ein. Die Tapete
hellgrau, etwas schimmernd wie Samt, große Blumensträuße
hoben sich plastisch ab von dem ruhigen Grund - ein schöner
Teppich - der Flügel - die Rokokomöbel. Das Haus lag
auf halber Höhe; nach vorne hinaus verdeckten hohe Bäume
jeden Blick auf die gegenüber liegenden Häuser, nach hinten
vom Schlaf- und Kinderzimmer aus - das Schlafzimmer, Gardinen und
Bettdecken in dem geliebten Goldgelb - sah man über den großen
Seminargarten hinweg das tiefer liegende Panorama von Bromberg mit
der Brahe.
Die Sonne ging
unter - welch ein Bild! "Man kann nie ganz unglücklich sein,
wenn man täglich solche Schönheit sieht, dachte ich. Hier
würden wir nun immer bleiben. Auf dem überdachten Südbalkon
könnten die Kinder bei jedem Wetter spielen, vielleicht noch ein
Kindchen dazu. Georg hatte mir ein Photo geschickt, auf dem seine 4
Kinder in einem Klubsessel zusammen gedrängt saßen. Solch
ein Nest war wirklich reizend.
Am 07.10. fuhr
mein Mann nach Berlin, um sich zu stellen. Am 8. früh fegte ich
die köstlich raschelnden Blätter der Kastanien auf dem Weg
zusammen, der von der Straße zum Haus führte. Es war ein
herbstgoldener Tag. Der Bote brachte mir ein Telegramm: "Bin beim
2. Garderegiment zu Fuß eingestellt. Sprich gleich mit Dieser
und Ringleb wegen der Vertretung. Rudolf".
(Einige der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/ )