Pyrmont - Frühling 1937 - I

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Durch nebligen Regen schickte uns das Licht einer elektrischen Birne ein Bündel regenbogenfarbiger Strahlen entgegen, als mein Mann und ich auf ein großes Haus zugingen, dessen Umrisse zu gespenstisch unbestimmten Schatten verschmolzen; zu einem Märchenhaus mit vielen Türen, hinter denen viele Überraschungen warteten. Man glaubte durch eine der Türen in ein Zimmer zu kommen und stand auf einem Balkon; man erwartete einen Balkon und kam in ein Badezimmer. In einem großen Essraum standen die Stühlchen der 7 Zwerge1, die Tellerchen und Becherchen, in einem Nebenraum die Bettchen. Die Zimmer hatten keine Nummern; über den Türen waren bunte Zeichnungen mit drolligen Namen, die abzuschaffen mir richtig Leid tat, denn es war lustig, wenn man sich durchs ganzen Haus zu rief: „Wo sind die Bücherkisten?“ „Im Froschteich,“ „die Plätthemden2?“ „Auf der Himmelswiese;“ „Wo schläft der Vater?“ „Im Kükennest.“ Zwei Zimmer haben bis heute ihre Märchennamen für uns behalten, weil sie so gut passen. „Der „Taubenschlag“ der mit seinem spitzgieblig überdachten Balkon3 tatsächlich an einen Taubenschlag erinnert und die im 2. Stock nach Süden gelegene „Sonnenblume“.

Jeder Gegenstand in diesem Haus war mir fremd, das machte alles so unwirklich. Es war recht kühl, aber Urte öffnete eine Tür zum „Vogelzimmer“, jetzt ganz nüchtern „Nr. 11“4, da fauchte ein Kanonenofen5 mit dem wahnsinnigen Namen „Vulkan“, und da wartete auf uns ein köstlicher Teetisch gedeckt mit Meißener Porzellan. Ich traute meinen Augen nicht, aber Urte sagte mir, Tante Goerke6 hätte ihr geschrieben, dass eine Kusine von Meta Theodor ihren Haushalt in Pyrmont auflöste, und von ihr hatte mein Mann nach Urtes Ratschlägen eine Menge Sachen gekauft. Ich kannte diese Kusine, und da war ja auch das Monogramm ihrer Mutter T.W. (Theophila Wundsch) in einer Damastdecke7 mit eingewebten biblischen Motiven. Frau Pfarrer Wundsch war eine Schwester eines alten Freundes meiner Eltern, Herrn Konsul Theodor, und ich freute mich, dass diese Sachen von Bekannten stammten, und die Kusine freute sich ebenso, dass sie aus ihrem Elternhaus nicht zu Fremden kamen.

Am nächsten Tag schien die Sonne, und nun begann die eigentliche Entdeckerfreude. Hier war ich nun also zu Hause, in Pyrmont, das in meiner Jugend allgemein Pyrmont (sprich on) hieß. Brigitte war geprüfte landwirtschaftliche Haushaltspflegerin8 und hatte sich immer die Leitung eines Fremdenheims9 als Beruf gewünscht. Als wir in der Inflationszeit10 mit Rudolfs 2 Schwestern das Haus ihrer Eltern11 erbten, das damals viele Milliarden12, aber nur wenige Dollar wert war, hatten wir große Mühe, der notwendigen Reparaturen wegen, es überhaupt zu halten. Sobald 1925 die Rentenmark13 kam, ging alles Geld von den Mieten an die Schwestern, die gerne ausgezahlt werden wollten. Ich rechnete es meinem Mann hoch an, dass er seiner Kinder wegen nichts von dem Geld nahm, so dass im Frühling 1937 das Haus in Tilsit uns gehörte, und er es verkaufen und das Haus in Pyrmont kaufen konnte.

Ich war damals zu meiner Mutter14 gerufen worden, die eines Tages im Bett blieb, was wir so gar nicht an ihr kannten, da sie nie krank oder leidend gewesen war. Ich fand sie ganz vergnügt und bei gutem Appetit. Sie ließ sich schon ihre Sachen zum Aufstehen bereit legen, als sie plötzlich erstaunt, aber nicht erschreckt „Horch nur, horch!“ rief und sich auf die Seite neigend das Bewusstsein verlor. Fast 90-jährig schlief sie ein, ohne Kampf, ohne Schmerz. Sie war je länger desto mehr, schon durch ihre Korrespondenz15 der Mittelpunkt der Familie geworden – ihr Scheiden machte mir den Abschied von Ostpreußen leichter.

So löste ich denn mit Brigitte den Haushalt in Tilsit auf und fuhr nach Pyrmont. Urte war schon dort, auf ein Telegramm meines Mannes „Habe Haus in Pyrmont gekauft, kommt es ansehen.“ Wie schön. Mir schwebte ein handliches Häuschen vor mit nicht zu hohen Fenstern, so dass sie leicht zu putzen und die Gardinen ohne Mühe anzubringen waren, mit ein paar frisch gewaschenen Giebelstübchen, um für Brigitte Arbeit und einen kleinen Verdienst durch Kurgäste zu haben. Im Geist sah ich dieses Häuschen in der Sonne liegen, „rings von Fliederhecken eingehegt“, wie Agnes Miegel16 singt, die dann noch bittet: „und am Gartentore meiner wartend, gib ein Kind, das meine Züge trägt.“

So weit stimmte das auch in meinem Bild vom Pyrmonter Häuschen, und nun war es ein richtiges, großes Haus! Die Mauern waren solide, aber das war auch das einzige, nicht reparaturbedürftige. „Kinderlust“ konnte man aus den verwaschenen Buchstaben heraus buchstabieren. Es war ein Kinderheim und jahrelang eine Pachtung gewesen, natürlich nur im Sommer in Betrieb, das erklärte alles. Der mit zerbrochenem Geschirr vollgestopfte Eisschrank leckte, der Rost der Grude17 hatte Löcher; nur wenige Zimmer waren heizbar und auch die nur ungenügend: das schlimmste war aber die Central Heizung, die schwer in Ordnung zu bringen und der Herd, der gar nicht zu gebrauchen war. Um sich selbst beköstigen zu können, hatte mein Mann einen kleinen Gasherd für alt gekauft, und bei Urtes Ankunft kam noch ein zweiter hinzu, denn jeder kochte für sich. Mein Mann alle Tage Eintopfsuppen mit recht viel Fleisch, Urte vegetarisch mit reichlich Gemüse.

Der Boiler18 war in Ordnung, d.h. Auch nur einigermaßen; in den Zimmern war kein fließend warmes Wasser, aber man konnte wenigstens im Keller baden. Als es Mitte Februar noch einmal sehr kalt wurde, machte es kein Vergnügen, sich in der großen Küche aufzuhalten, und ich war froh, wenn ich zum „Vulkan“ flüchten konnte, der allerdings beim Anheizen so bullerte, dass man sich kaum in seine Nähe traute, um dann nach Art eiserner Öfchen sehr schnell zu erkalten. Aber immerhin war es erträglicher als in dem eisigen Souterrain19. Nun hatte ich einmal meinen Mann, der sich in der Nähe des Vulkans wärmte und sehnsüchtig von einer Ofenbank am Kachelofen schwärmte, Bratkartoffeln und Salat von Roten Rüben20 gebracht, und wollte mich dazu setzen, als er meinte: „Da waren doch noch Gurken.“ „Schön,“ sagte ich ergeben, „magst Du dazu einen Schluck Bier? Dann bringe ich gleich eine Flasche mit.“ „Nein, danke.“ Ich gehe wieder eine Treppe hinunter, weiter eine Treppe und durch die Küche in die Kammer, hole Gurken und Bier und pendele zurück. Die Bratkartoffeln inzwischen verzehrt, ich machte erneut den Versuch, mich hinzusetzen, als ein neuer Auftrag kam. „Es wäre ganz schön, ein Bad zu nehmen, Muttchen, mach den Boiler an!“

„Du kannst auch morgen baden. Weißt Du, dass eine Frau täglich in ihrem Haushalt so viele Schritte tut, als wäre sie um den Erdball gelaufen!“ „Ja, rund um den Nordpol, Schritt am Ort.“ Das war nicht das richtige Verständnis.

Was macht nun der Mensch, wenn er sich nicht in Harmonie21 mit dem Unendlichen, sondern in Disharmonie22 mit dem Endlichen fühlt?

Er schimpft, wenn er eine prosaische23 Natur ist, und er dichtet, wenn er poetisch ist. Ich war poetisch und nahm für mein Produkt noch den heimatlichen Dialekt24 zu Hilfe. „Du hast eben einen guten Anfang für einen Schlager25 gefunden, sagte ich leicht ironisch,

„Muttchen mach den Boiler an,

  • da kann man fortfahren:

    Sollst nicht länger rasten,

    Nimm die Schürz aus blau Kattun26,

    Die steht dir am basten27.“

Im allgemeinen erfreut Beifall den Dichter; neben dem Honorar legt er sogar Wert darauf, aber bei mir war das Gegenteil der Fall. Die jubelnde Beistimmung meines Mannes und der inzwischen eingetroffenen Töchter missfiel mir aufs höchste. Ich war ja noch nicht so alt, ich hatte ein paar nette Kleider und sagte mit leicht gesträubten Federn: „Schließlich könntest Du mich ja auch lieblicher andichten, z.B. so:

Der Mond scheint, komm Elisabeth,

Nimm dein schwarzes Kleid mit dem Strauß von Mimosen,

Oder lieber das weiße mit den blauen Rosen,“

-

hm, hm, beide Kleider waren Wunschkleider, das brachte mich etwas aus dem Konzept. Wenn einem beim Dichten der Atem: ausgeht, so wie jetzt mir, dann tut man gut, kleine Sätzchen einzufügen, nur Subjekt und Prädikat – die Sonne scheint, die Blume blüht, der Vogel singt und ähnliches. Dann hat man frisch getankt und es geht weiter. Die hier angeführten Sätze konnte ich natürlich nicht wählen, da mein Gedicht nach dem schönen Anfang: „Der Mond scheint“ zwangsläufig den geheimnisvollen Reiz eines Nocturno28 versprach, aber dann bleibt immer noch die Geige.

Die Geige passt immer – bei Liebesleid und Liebesfreud, bei Willkommen und Abschied; - also fuhr ich nach kurzer Pause fort:

„Die Geige spielt
Von Düften ein Bukett29
Schickt uns der Wind mit jedem leisen Hauche“

Nun war ich in Fahrt, nun konnte es immer weiter gehen

„Mit des Blütenstaubes gelbem Rauche“,

und

„Den lila Dolden am Fliederstrauche“

und

„Wenn ich so durch die Büsche krauche“

„auf dem Bauche“

„Zwischen Zwiebeln und dem Lauche“

und so fort.Es gibt ja so viele schöne Reime in unserer deutschen Sprache, und das ist ein Trost und eine große Hilfe für Leute, die Gedichte machen, denn wenn in einem Gedicht viele schöne Reime sind, dann merkt es der Hörer nicht so genau, ob da auch viele schöne Gedanken sind. Aber mein Mann machte ein Gesicht als hätte er auf ein Pfefferkorn gebissen, und so machte „die Schürz' aus blau Kattun das Rennen und wurde zum geflügelten Wort.

Ja, es war schwierig in dem großen, kalten Haus zu wirtschaften und zugleich unsere inzwischen angekommenen Sachen – die Einrichtung einer 5-Zimmerwohnung – auszupacken. Und diese Einrichtung verschwand, löste sich auf wie Zuckerstückchen im heißen Wasser unter den allmählich täglich eintreffenden Ladungen von Betten, Schränken, Teppichen, Kisten mit Wäsche, Glas und Porzellan. Vieles, kaum benutzt, war in Berlin für alt gekauft, denn es wurde damals schon knapp mit Waren aller Art. Die ersten Zeichen einer drohenden Zeit, nur drohend?

Wir waren ja schon mitten drin im Unglück. Alles war Lüge. Im Schaufenster ausgestellte Decken trugen die Bezeichnung „reine Wolle“ und hatten doch nur wenige Wollfasern. „Wir müssen das schreiben“, sagten achselzuckend die Geschäftsleute. Wenn 12 Dutzend Handtücher bestellt waren, bekamen wir nur die Hälfte. Es war nicht möglich, einen passenden Herd zu finden. Es war ein Glücksfall, dass wir einen gebrauchten bekamen, der nun nach bald 20 Jahren30 noch gut im Amt ist. Ganz schwierig wurde es aber erst als alle Handwerker zugleich anrückten in einer Reihe hinter einander mit den Symbolen ihres Handwerks, wie ich es einmal in einem Kinderballett gesehen habe, mit Spaten, Hacke, Farbtöpfen, Tapeten, Säge und Hammer, zuletzt die Lehrlinge, die lange Leitern trugen. Im Rathaus in Königsberg hatte ich den Spruch gelesen:

Bewohr uns Gott vor düre Tiden
Vor Murern und vor Zimmerlüden,
Und vor dem drecken Töpper!31

Wie oft habe ich damals an diese Worte gedacht!

Von der Arbeit, die nun begann, hatte ich eine ganz falsche Vorstellung gehabt. Ich dachte ein Zimmer würde fix und fertig gemacht, ehe die Arbeit im nächsten begann, und man hätte nur die auch nicht kleine Unbequemlichkeit des dauernden Umziehens. Aber es gab keine Zufluchtsstätte mehr. Alle Handwerker arbeiteten in allen Zimmern zur gleichen Zeit, nicht leise bei Nacht wie die Kölner Heinzelmännchen32, deren Verschwinden ich gerade in diesen Monaten schmerzlich beklagte, nein mit ungeheurem Lärm von morgens 6 Uhr an mit Hämmern und Sägen und Klopfen und dem ohrenzerreißenden Hämmern der Rohre. Unter allen Fenstern wurden Ziegelsteine losgeschlagen für die Rippen der Zentralheizung. Ich stand im Souterrain am Ausguss33, als große Steine neben mir durch die Löcher fielen, die für die Einrichtung der Wasserrohre in allen Zimmern in den Fußboden geschlagen wurden. Nirgends war man seines Lebens sicher.

Ich wollte mich gerade umziehen und stand da wie ein Filmstar zur Großaufnahme im Licht der Jupiterlampen34, als die Tür von unsichtbarer Hand gelenkt sich in den Angeln35 hob und verschwand. „Ja“, sagten zwei Männer, die mein erschrecktes Staunen sahen, „diese Tür soll sich nach der anderen Seite öffnen lassen; wir müssen sie herausnehmen.“ Ich zog um in den „Taubenschlag“. Dort glaubte ich mich sicherer. Doch als ich morgens hinunter gehen wollte, fehlte an der noch dazu gewundenen Treppe das Geländer. Ich war nicht mehr so schwindelfrei wie in den Jahren, als ich mit Dora auf den Neubauten herum kletterte. Eingedenk des schönen Schlagers: „Meine Mutter, schmiert die Butter immer an der Wand lang ...“ schob ich mich vorsichtig an die Wand gepresst, vorwärts. Mein Mann schlief im „Elefant“. Der „Elefant“ war ein ungewöhnlich großer, schwerer, elefantengrau bezogener Sessel. Erschreckt fuhr mein Mann auf, als er plötzlich inne ward, dass ein Fremder vor ihm stand. „Was wollen Sie?!“ rief er nur halb erwacht mit drohender Stimme. „2,75 M36 für Kamin fegen, Herr Dr.“

Eines Tages schwieg der Lärm zu unserer Freude. Aber da kam gerade das Schlimmste, die „Schmiergeister“ waren still und leise zum Isolieren der Rohre eingezogen. Wie sich unter den Händen von König Midas37 alles in Gold verwandelte, so schufen sie durch ihre bloße Berührung eine klebrige Masse, die alles überzog und gegen die anzukämpfen ebenso unmöglich war wie gegen den Staub! Ach, der Staub! Zuerst legte ich auf alle Möbel und Kisten Zeitungspapier, dann Decken und wieder Packpapier und Decken; er drang durch sichtbare und unsichtbare Ritzen. Auch Porzellan und Glas kam mir dem Staub gegenüber porös und durchlässig vor. Zuletzt gab ich den Kampf auf. „Uns bleibt nichts übrig“, stellte ich resigniert fest, „als mit Gelassenheit wie die Kamele beim Nahen der Sandstürme des Samum38, die Köpfe zu neigen und alles über uns ergehen zu lassen.“

Tröstlich und doppelt tröstlich weil nicht trügerisch sah ich am Horizont eine köstliche Fata Morgana39: Um mich herum Mörtelschutt, abgerissene Tapeten und die Staubwolken des Wüstensandes, aber greifbar deutlich tauchte das Bild eines in weiß-grünen Birkenfarben strahlenden Hauses vor mir auf, in dem luxuriös gekleidete, lächelnde Damen und Herren teppichbelegte Treppen herab schweben in den Esssaal und die Veranda, wo kleine Tische – blumenvasengeschmückt als „Tischlein deck dich40“ durch köstlich präsentierte Speisen fungieren.

Es gab in dem Durcheinander auch kleine Annehmlichkeiten. Ich brauchte mich nie nach Kleinholz zum Heizen umzusehen. Im Tagesraum wurde eine Schiebetür zur Veranda eingerichtet; da lag schöner, trockener Abfall; auch an verschiedenen anderen Stellen erkannte der Sprichwörter kundige an den zahlreichen Spänen, dass hier fleißig gehobelt wurde. Repräsentativspflichten fielen ganz fort. Wir konnten ungestört durch Besuche den ganzen Tag im Arbeitskleid tätig sein, wenn es sein musste auch die ganze Nacht, wie Urte, die zwei Nächte hintereinander Gardinen anbrachte, denn die Zeit drängte.

Meine beiden Kinder „travaillaient comme des forcats“41, wie die Franzosen sagen. Alle losgeklopften Ziegelsteine schleppten sie eimerweise hinaus, jeden Abend wurden alle Zimmer und Flure vom Malerschmutz gereinigt, sie packten aus und machten die Zimmer bezugsfertig. Ein paar mal ließ ich eine Stundenfrau42 kommen, aber die Arbeit dieser Frau erwies sich nur als Tropfen auf einem heißen Stein; sie fiel nicht ins Gewicht. Mit Bezug auf ihre Tätigkeit sei nebenbei erwähnt, dass sie das Fenster putzen damit begann, in der Glasveranda eine Leiter umzuwerfen und mal erst eine Scheibe zu zerschlagen.

Die „Kinderlust“ war inzwischen über pinselt; nun musste das Kind einen Namen bekommen. Brigitte wollte ihren Namen nicht gerne meilenweit sichtbar als eine Art Wirtshausschild an ihrem Hause stehen haben und Urte schlug „Birkenhaus“ vor, und wir stimmten begeistert zu. „Birke“, die Glänzende, Strahlende, dieser Baumname, eine der ältesten indogermanischen43 Vokabeln – identisch mit Brigitte, die Birke, der Baum des Nordens, die unsere ostpreußischen Fichtenwälder noch da so bezaubernd aufhellt, wo die Buche schon ihre Grenze findet.
In Pyrmont gab es nur wenig Birken. Urte hatte, wie sie sagte, eine Sorte mit besonders schönen, bis zum Grunde weißen Stamm bestellt. „Das sollen besonders weiß stämmige Birken sein!“ rief ich enttäuscht, als die braunen Reiser ankamen. „Birken brauchen ein paar Jahre, ehe die Stämme hell werden“, lachte mein Mann, „Ah, ich verstehe. Die hässlichen, jungen Entlein.44“ Jetzt nach 10 Jahren sind sie wirklich wunderschön.

Je näher der Eröffnungstag heran rückte, desto mehr materialisierte45 sich das Traumbild meiner im Wüstensand des Umbaus erschauten Fata Morgana. Und endlich war es wirklich so weit. In strahlendem Glanz leuchteten die lackierten Türen, die man nur vorsichtig schräg passieren konnte, weil sie noch nicht 100-prozentig trocken waren, und ebenso strahlten die Rahmen der Fenster, die nur eine sehr kräftige Hand öffnen konnte, da sie, Sonne und Luft mehr ausgesetzt als die im Hintergrund wartenden Türen, zu schnell getrocknet und hoffnungslos verklebt waren. Die Teppiche, die zu betreten ein Sakrileg46 schien, da sie in ihrer Unberührtheit mehr für den Tisch als für den Fußboden bestimmt schienen, hatten die Reise noch nicht vergessen und rollten sich an den Enden auf. Die Zimmer waren so wunderhübsch und gar nicht uniform47. Jedes hatte einen besonderen Charakter. Leise und bewundernd wie in einem Museum gingen wir von einem zum andern.

Elisabeth Jankowsky am Eingang zum Garten des Birkenhauses, 1937

Der erste Gast war eine hübsche, schwarze Katze, die ich auf einer reseda48grünen, seidenen Daunen49decke fand. Ein schönes Bild! Ich wollte sie verscheuchen oder wenigstens ihre Besitzer ausfindig machen, aber Urte sagte, dazu wäre es zu spät, und außerdem seien Maikätzchen nun einmal die besten. So wurde im Keller ein Korb weich gepolstert, mit dem sie als Lager auch ganz zufrieden war, und in dem schon am nächsten Tag 6 kohlschwarze Kätzchen lagen. Und so zogen wir mit 7 glückbringenden schwarzen Katzen an der Spitze in die Sommersaison 1937.

Elisabeth am Eingang zum Garten, 1937
   

 

1Schneewittchen (in früheren Ausgaben Sneewittchen, ndt.: Snee „Schnee“, witt „weiß“) ist ein Märchen, das in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 53 erzählt wird (KHM 53; Typ 709 nach Aarne und Thompson).

2= zu bügelnde Oberhemden

3Der Balkon ist nicht mehr vorhanden; es handelt sich um das Zimmer Frontseite rechts oben im Giebel; früher Zimmer 12

4Später Brigittes Küche, das Zimmer liegt direkt an der Treppe zum 2. Obergeschoss

5Ein Kanonenofen ist ein kleiner gußeiserner zylinderförmiger Ofen mit Abzug auf kleinen Füßen für die Zimmerbeheizung, wie er im 19. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gebräuchlich war.

6Ottilie Goerke, geb. Eckhardt

7Damast (aus dem Italienischen; nach arabisch ???? dimašq, Name der Stadt Damaskus) ist ein Gewebe mit eingewobenem Muster. Er ist nicht an spezielle Fasern gebunden. Meist wird merzerisierte Baumwolle verwendet, manchmal auch Seide oder Chemiefasern.

8Nach dem Prüfungszeugnis: „geprüfte ländliche Wirtschaftsgehilfin (Jungwirtin)“

9Heute: Gästehaus mit voller Verpflegung

10Hier: Die Hyperinflation des Jahres 1923 in der Weimarer Republik beschreibt eine der stärksten Geldentwertungen, die eine der großen Industrienationen in der Neuzeit je erlebt hat.

11Tilsit, Lindenstraße 12

12Im Englischen: Billionen

13Die Rentenmark war eine grundschuldgestützte Übergangswährung in Deutschland, um die Deutsche Inflation 1914 bis 1923 aufzuhalten, nachdem ein Versuch im Sommer 1923 mit sog. "wertstabilem Papiernotgeld" - auch Schatzanweisung genannt - mit aufgedrucktem Goldmark- und Golddollar-Bezug gescheitert war.

14Marie Lemke, geb. Eckhardt, Schwester Ottilie Goerkes, s.o.

15Briefwechsel

16Agnes Miegel (* 9. März 1879 in Königsberg; † 26. Oktober 1964 in Bad Salzuflen) war eine deutsche Schriftstellerin, Journalistin und Balladendichterin.

17Grude bezeichnet einen Brennstoff und einen davon abgeleiteten Ofen.

18Ein Boiler (engl. to boil = kochen, sieden) oder Warmwasserspeicher ist ein fest installiertes Gerät zur Warmwasserbereitung.

19Erdgeschoss, Keller

20Auch: Rote Bete

21allgemein die Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Ebenmaß

22Gegensatz zu Harmonie

23trockene, nüchterne Darstellung

24Hier: Mundart

25der Schlager ein Ohrwurm, ein volksnahes Lied, meist mit einer harmonischen Melodie und einfachem Text.

26Kattun (von arabisch katon, „Baumwolle“) ist ein glattes, leinwandartig gewebtes, ziemlich dichtes Baumwollzeug.

27Ostpreußisch = am Besten

28Nocturno, frz. Nocturne = Stück, das in der Nacht spielt

29Bukett = eine harmonische Zusammenstellung von Blumen, Düften, usw.

30Der Herd stand in der Mitte der großen Küche und wurde erst 1979 abgebaut, als die frühere Küche „Kaminzimmer“ wurde. (Den Abbau machte mein Freund Jean-Claude Collet.)

31Bewahre uns Gott vor dürren (schlechten) Zeiten
Vor Maurern und vor Zimmerleuten
und vor dem dreckigen Töpfer!

32Die Heinzelmännchen sind der Sage nach Kölner Hausgeister. Sie verrichten nachts, wenn die Bürger schlafen, deren Arbeit. Werden sie dabei jedoch beobachtet, verschwinden sie für immer. Neben ihrer Kleinheit zeigen auch typische Attribute, wie die Zipfelmütze und ihr Fleiß, dass die Heinzelmännchen zur Gruppe der Kobolde, Wichtel und Zwerge gehören.

33Ein Ausguss ist eine haustechnische Einrichtung, die zum Auffangen und Ableiten von Flüssigkeiten dient. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Schmutzwässer aus dem Haushaltsbereich, aber auch um verunreinigte Wässer aus Laborbereichen. Ausgüsse sind in Küchen (Wirtschaftsküchen, Großküchen), Hauswirtschaftsräumen, Putzräumen und Unreinräumen in Krankenhäusern zu finden.

34Große, bewegliche Lampen, die zum Ausleuchten im Theater oder bei Filmaufnahmen benutzt wurden.

35Türangel, die Aufhängung einer Tür.

36Abkürzung für „Reichsmark“

37Midas ist der Name mehrerer Könige von Phrygien. Zum Teil haben sie mythischen Charakter; mindestens ein Midas ist aber eine historische Persönlichkeit.
Midas wünschte sich, dass alles, was er berühre, zu Gold würde.

38Samum ist die lokale Bezeichnung für einen Sandsturm im nordafrikanisch-arabischen Raum.

39Eine Fata Morgana (Fatamorgana) oder Luftspiegelung ist ein durch Ablenkung des Lichtes an unterschiedlich warmen Luftschichten verursachter optischer Effekt, keine optische Täuschung.

40Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack („Tischlein, deck dich!“) ist ein Märchen. Es ist in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm enthalten.

41Travailler comme des forçats = französisch: arbeiten wie Sträflinge

42Putzfrau, die nach Stunden bezahlt wird.

43Indogermanisch = die heute meistverbreitete Sprachfamilie der Welt mit ca. 2,5 Mrd. Muttersprachlern; nach den beiden, im 19. Jahrhundert als am weitesten voneinander entfernt angesehenen Sprachgruppen, der indischen und der germanischen.

44Das häßliche Entlein ist ein Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Es wurde zuerst am 11. November 1843 veröffentlicht und 1844 Teil der Märchensammlung Nye Eventyr (dänisch, „Neue Märchen“).

45Hier: Wirklichkeit werden

46Das Sakrileg (seit dem 16. Jahrhundert von lateinisch: sacrilegium = Tempelraub; aus sacer = heilig + legere = stehlen, (aus)lesen[1]) bezeichnet ein Vergehen gegen Heiliges.

47uniform = einförmig

48Reseda, auch Resede oder Wau genannt, ist eine Pflanzengattung in der Familie der Resedagewächse (Resedaceae).

49Eine Daune (auch Dune oder „Unterfeder“, lat. pluma) ist eine Feder mit kurzem Kiel und sehr weichen und langen, strahlenförmig angeordneten Federästen ohne Häkchen.

 


Börse in Brüssel; Bildunterschrift: "Des Französischen Unkundige halten dieses Gebäude vielleicht für das Birkenhaus"
Postkarte an die Schwester Ottilie Lemke
Bildunterschrift:

"Des Französischen Unkundige halten dieses Gebäude viel-
leicht für das Birkenhaus."

 

*) Die meisten der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2008
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Letzte Aktualisierung: 18.11.2008