In Pomedien sah ich die Tannen vor
meinem Fenster wieder, den Brast, die Ufer umsäumt mit Caltha
palustris
– die alten Freunde und Bekannten
– Willy, die einst sehr geliebte, Editha, Wolffs, Fritzel Meyer.
Als ich ihn plötzlich und ganz unvorbereitet auf dem Bahnhof
traf, waren wir beide verlegen, ganz ohne Grund, aber wir sagten und
fragten Selbstverständlichkeiten, über die wir nachher, als
er in Pomedien zum Besuch kam, herzlich lachten. Das war wieder die
vergnügt-harmlose, natürliche Art, die wir immer
miteinander gehabt hatten. Trulla photographierte uns auf den Stufen
der Veranda sitzend als „Bild der Erinnerungen“.
Ich sah abends lange auf die Tannen,
wie früher, wie früher ... ich atmete voll vegetativen
Glücks den Wind, der den Duft der Langendorfer Wiesen herüber
trug, ich ging zur Post und las Rudolfs Briefe auf der Böschung
des Landwegs, der von der Chaussee zu dem Pomedier Haus abzweigte,
unter den Weißdornbüschen, gerade wie in dem herben
Frühling vor nun schon 7 Jahren, und Frieda Wolff buk köstliche
Waffeln; ich trank Kaffee mit ihr und der an allem herzlich
teilnehmenden Frau Wolff – einer gebürtigen Neidenburgerin –
auch hier alles genau wie vor 7 Jahren.
Die Nachtigallen schlugen – warum
„Sprosser“ sagen;
in dem Namen „Nachtigall“ liegt doch das Herzergreifende und
Beseligende, das uns der gesegnete Vogel schenkt, Süße und
Schmerz der Sehnsucht, Erfüllung und Entsagung. Die Käuzchen
lockten sich, die Käuzchen schienen böse oder vielleicht
nur erschrocken, und die alte Meine deutete den Ruf: „Komm mit,
kommt mit ins kühle Grab.“ „Warum den Kindern Angst machen,
Frau Hermann, die Käuzchen ärgern sich doch nur über
den hellen Schein, der durch die Ritzen dringt“. „Wenn jemand
stirbt, haben die Hunde vorher geheult, die Käuzchen geschrien.
Beide sehen den Tod kommen.“ „Wenn ein Kranker im Haus liegt,
wird viel Licht gemacht, und die Hunde heulen beinahe täglich.
Sie war aber nicht zu überzeugen.
Wenn ich ganz früh hinausging,
vorbei an der von Birken beschatteten, verwilderten Grabstätte
von Pomedien, umflattert von Kiebitzen, die auf den vom Brast
durchflossenen feuchten Wiesen in Menge brüteten und
unerwünschte Spaziergänger durch Schreie und abseitige
Flüge von ihrem Nest abzulenken suchten, dann glaubte ich
wieder, das junge Mädchen zu sein.
Die Kinder waren selig. Sie sahen
gesund und froh aus. „La petite est une beauté“,
sagte Frau v.Perbandt und sah die Kleine lächelnd an. Wenn
sie schon zu Bett gebracht worden waren, sangen sie noch oft
zusammen, zweistimmig. Herr v.Perbandt und Editha hatten in der Halle
zugehört. In einer Ecke unseres Zimmers war eine ganze
Puppenwirtschaft aufgebaut mit Stühlchen, Betten, einem kleinen
Schrank, Tellern, Tässchen und Kochgeschirr. Ich musste nur viel
aufräumen, weil Urte mit ihrem Ideenreichtum immer neue Auf- und
Umstellungen erfand und das ganze Zimmer zur Puppenecke machte. Sie
genossen den lang entbehrten abendlichen Milchbrei – reichlich mit
Zimt gewürzt, da die Grütze schon etwas munkelig
war.
„Zimt und Mostrich machen vieles
gut,“ sagte Frau v.Perbandt tröstend und reichte den
Mostrichtopf, wenn der Geschmack der Hammelleberpastete von manchen
als zu streng getadelt wurde. Mir schmeckte alles, ich erholte mich
wunderbar und verzichtete gleich auf den Liegestuhl, der sorglich
bereit gestellt war. Die Landfrauen hatten viel zu stöhnen, wenn
wenn es ihnen auch mit der Ernährung viel besser ging als uns in
der Stadt. Es fehlte an Zucker, Waschmitteln, Nähgarn! Die
brüchige Wäsche konnte nicht ersetzt werden, jedenfalls war
der Ersatz wertlos. Ich hatte einmal ein Hemd gewaschen, das ich für
einen unwahrscheinlich hohen Preis auf einen Bezugsschein bekommen
hatte. Als ich es aus der heißen Lauge herausnehmen wollte, war
es verschwunden; nur ein wenig Stickerei schwamm im Wasser. Papier
hatte Leinen vorgetäuscht.
Auch diese Not kam für viele
Bauern nicht in Frage. Sie hatten gute Tauschmittel. Frau v.Perbandt
lehnte das Ausnutzen der Notlage ab und half, wo es nur irgend
möglich war. Sie erklärte sich auch bereit, kränkliche
und unterernährte Kinder während der Sommerferien
aufzunehmen. Ich begleitete sie auf der Fahrt nach Tapiau,
wo ein Rektor mit einer ganzen Schar Berliner Kinder angekommen war,
die auf die einzelnen Güter verteilt werden sollten. Es
erinnerte mich ein wenig an die Methoden eines Sklavenmarktes, als
die Bauern sich unter den blassen und verstört blickenden
Kindern die ältesten und kräftigsten aussuchten, die ihnen
sicher bei der Sommerarbeit eine Hilfe sein konnten. Für
Pomedien blieb natürlich der kümmerlichste Rest.
Um Frau v.Perbandt gefällig zu
sein, erklärte ich mich bereit, mit einem 12-jährigen
Jungen zum Zahnarzt zu fahren. Er machte mir meine Aufgabe nicht
durch Ängstlichkeit schwer. „Ich bin so froh,“ sagte er, „so
froh, dass mir dieser Zahn gezogen wird; vier Backenzähne habe
ich schon verloren, wenn ich keine Zähne mehr habe, habe ich
auch keine Zahnschmerzen mehr.“ Der Zahnarzt schüttelte den
Kopf. „Traurig, traurig.“ Ich dachte an die Tragik, die aus Käthe
Kollwitz' Radierungen, bei allem Humor aus Zilles Zeichnungen
spricht.
Die Berliner Kinder waren im
Inspektorhaus
in einem großen Raum untergebracht und wurden von einer
Kinderpflegerin betreut. Am Sonntag nahmen sie im Herrschaftshaus an
der Andacht teil, und danach folgte der „Blumenkorso“.
Zum Ärger des Gärtners und zu Frau v.Perbandts mehr lachend
geäußertem Entsetzen rissen sie alle nur irgend
erreichbaren Blumen ab und überreichten sie strahlend ihrer
Gastgeberin, deren an den Dank geknüpfte Mahnung, nun keine
Blumen mehr zu bringen, so freundlich geäußert war, dass
sie letzten Endes ohne Reuetat verhallte.
Meine Kinder, die manchmal mit den
Berliner Feriengästen spielten, beherrschten bald einen echten
Berliner Jargon „Mutter, icke muss mich bald ein reines Hemde
anziehn;“ das ließ mich den zu häufigen Umgang etwas
fürchten.
Als ich einmal mit Hansel nach
Abendbrot nach den Kindern sah, und auf dem Nachttisch die
Streichhölzer suchte, merkte ich, dass die Schachtel völlig
nass und unbrauchbar war; ich fasste nach den Kindern. Auch im Bett
war alles durchnässt. Hansel holte schnell Streichhölzer
und ein neues Licht – damals eine Kostbarkeit – und da sahen wir
dann, was die beiden angerichtet hatten. Steinchen und Gras hatten
für die Puppenküche nicht genügt. Entenflott,
in kleinen Eimerchen aus dem Teich geholt, war entschieden amüsanter.
Wo man hinfasste, war das nasse, grüne Zeug. Die Betten waren
völlig beschmiert, und auf dem Fußboden glitt man aus. Die
Steckkissenbezüge der Puppen hatten sie sich als Schürzen
über den Nachthemden umgebunden, und waren mit diesen völlig
durchnässten Schürzen eingeschlafen. Sie mussten schon
recht lange so gelegen haben, es war ja stockdunkel.
Die hilfreiche Hansel holte neues
Bettzeug und rieb herzlich lachend die Kinder mit Wolltüchern
trocken. Nachdem ich die während der ganzen Zeit fest
Schlafenden neu angezogen hatte, ging ich selbst schnell zu Bett und
nahm sie in die Arme, bis sie ganz warm waren. Vielleicht war diese
Abkühlung der Anlass zu Brigittes plötzlich auftretender
beiderseitigen Mittelohrentzündung. Es fing mit Nasenbluten an.
„Mein Öhrchen tut mir weh,“ klagte sie, und dann stieg das
Fieber schnell auf 40º.
Der Tapiauer Arzt verordnete eine
Schwitzkur, die aber keinen Erfolg hatte, und deshalb entschloss ich
mich, mit den Kindern nach Königsberg zu fahren, um den damals
besten Ohrenarzt Prof. Stenger aufzusuchen. Frau v.Perbandt half mir
bei den warmen Umschlägen, die dem Kind anscheinend sehr halfen,
denn sie war dazwischen ganz vergnügt, besonders wenn Frau
v.Perbandt bis spät in die Nacht oder in aller Frühe
Geschichten erzählte, damit ich mich ausruhen konnte. Oh, wie
war sie gut!
Nachdem das Trommelfell auf beiden
Seiten durch gespickt war, hörten die Schmerzen schlagartig auf;
sie konnte nur zunächst nichts hören, das kleine Ding. Ich
bedauerte sie wegen des warmen Verbandes, den sie in der Hitze tragen
musste; sie hatte sich aber bald so an ihren Ohrenverband gewöhnt,
dass sie ihn gar nicht ablegen mochte und auch im Badeanzug damit
herum lief, was etwas absurd aussah. Sie hatte sich während des
schmerzhaften Eingriffs sehr
tapfer benommen, wofür ich ihr richtig dankbar war, denn Stenger
hatte nur ungern eingewilligt, dass sie auf meinem Schoß sitzen
bleiben durfte, aber ich wusste, wie sehr das dem armen Kind half.
Trulla schalt auf die Teiche im
Pomedier Park, die ihrer Meinung nach schon Jutta und zwei Besuchen
zu einer Mittelohrentzündung verholfen hatten. Sie gab mir
Recht, dass ich auf den Rat des Arztes zur völligen Heilung an
die See fahren wollte, obwohl sie meine Abreise lebhaft bedauerte.
Mit gutem Grund: Trulla war klug, doch sie zog das Wirtschaften,
besonders auf dem Hühnerhof – ihrer speziellen Liebhaberei –
dem Unterrichten bei weitem vor. Ich hatte während der 8 Wochen
meines Aufenthaltes ihr Mauchen
ganz abgenommen, was allen Beteiligten eine reine Freude war. Frau
v.Perbandt schlug mir vor, im Herbst wieder zu kommen und im Winter
gegen freien Unterhalt zu unterrichten. Es freute mich, dass man uns
wieder haben wollte.
Lissa war begeistert von dem Plan, nach
Neukuhren
zu fahren. Sie war in solchen Fällen von größter
Tatkraft, im Gegensatz zu ihrer sonstigen Schlappheit, die viel mehr,
als ich damals meinte, mit ihrem Herzleiden zusammen hing. Sie
verstand es dann auch ausgezeichnet, zu organisieren.
Wir fuhren einen Nachmittag zur
Wohnungssuche nach Neukuhren und nahmen gleich etwas Porzellan mit,
hübsche Tassen – kein Alltagsgeschirr – die zwischen heitere
Kissen gepackt wurden. Wir fanden eine Wohnung dicht am Strand, par
terre,
3 kleine Stuben und Küche und eine verglaste, geräumige
Veranda, die durch die Kissen, ein paar Blumen, zwei hübsche
Bilder und eigene Decken in Handarbeit sehr wohnlich aussah. In einer
Ecke der Veranda hing Tuttels, d.h. Gertrud Schönwalds Laute.
Sie war Lissas Kusine und hatte eine frische, liebe Art mit den
Kindern. Hier sangen die beiden abends zweistimmig zur Laute, hier
tranken wir gemütlich Kaffee, wenn Frau Sandelowsky mit Werner
kam – ihr Mann nun auch im Feld – oder die rührend
gutherzigen Eltern von Lissa, die meist ein Kuchenpaket mit brachten.
Um meinen Mann brauchte ich mich damals
nicht zu sorgen. Er war in den Rokitosümpfen
und auf dem Balkan sehr krank gewesen, Malaria, Ruhr, Kopfrose –
jetzt befehligte er eine Auto-Kolonne in Warschau und hatte vor allem
das Kommando über die Verteilung der Benzinvorräte. Er
verwaltete sie mit der denkbar größten Gewissenhaftigkeit,
absolut ablehnend gegen alle Bestechungsversuche der polnischen
Großgrundbesitzer. Er hatte aber dort Gelegenheit, Lebensmittel
einzukaufen und versah uns reichlich mit Mehl, Speck und Erbsen,
manchmal auch mit Kaffee, den ich damals nicht so sehr entbehrte wie
Tee. Der Kaffee war aber so köstlich für die allgemeine
Stimmung bei der Bewirtung. Miete zahlten wir im Monat 200M; Lissa
100M, ich 75 und Tuttel 25.
Da nichts mehr von Lebensmitteln
verschickt werden durfte – Beamte am Bahnhof gossen sogar die
Milchflaschen aus, die Frauen auf dem Lande gehamstert hatten – war
es uns in Bromberg besonders schlecht gegangen, doch hier in
Ostpreußen nun besonders gut. Magermilch, Gemüse und
Kartoffeln – herrliche ostpreußische rosa Frühkartoffeln
– konnten wir reichlich haben.
Dem grausamen Winter war ein
märchenhaft schöner Sommer gefolgt. Pomedien!
Langendorf! Und nun die See!! Es war wirklich ein Märchen! Das
Leben ursprünglich einfach – Gas und Elektrizität
streikten oft – wir machten Feuer mit Holz aus dem nahen Wäldchen,
gingen zeitig zu Bett, nahmen Feengeschenke, die man nicht kaufen
konnte, dankbar und glücklich entgegen: ein Päckchen
Kaffee, Tee, ein Kännchen Sahne.
Dankbar und glücklich und doch
auch wie Kinder es tun, selbstverständlich – sorglos. Wir
wussten es ja gut, dass diese Zeit eine Zeit des Grauens war, dass
sich eines Tages der Abgrund auftun würde; aber nur nicht daran
denken! „Warum kommt eine Kapelle mit schmetternder Musik, warum
Leute mit Blumen und Fahnen?“ „Der wievielte August ist denn
heute?“ „Es wird die Tannenbergfeier
sein“. „Ohne Tannenberg und Hindenburg
wären wir nicht hier“. „Ludendorff
soll doch der eigentliche Sieger sein.“ „Wer weiß?“ - Und
dann erstarb die Musik – Heil Kaiser dir – die Gespenster waren
fort, aufgelöst in der phosphoreszierend zitternden
Hochsommerhitze. Wir flohen bewusst die Pest, wie die Aristokraten
des Dekamerone
es taten, die am kühlenden Springbrunnen saßen, in dessen
Perlen das Licht sich brach und die Zeit anmutig kürzten durch
das Erzählen regenbogenfarbiger Märchen.
Jeden, aber auch jeden Tag wachten wir
bei dem schönsten Sonnenschein auf. Schon in Pomedien hatten wir
dauernd gutes Wetter gehabt ohne Dürre, da es manchmal nachts
regnete, und so wars auch hier. Die Kinder waren schnell fertig.
Zähne geputzt, Haare gekämmt – ja wo wuschen wir uns
eigentlich, das ist mir ganz entfallen. Angezogen wurden nur die
Badeanzüge, vervollständigt durch bunte Glasperlenketten,
die hübsch aussahen auf den braun gebrannten Hälschen. Urte
und Georg Friedrich, „die beiden Sechser“, wie sie sich selbst
nannten, holten Milch. Manchmal lernte ich ein wenig mit den beiden
und mit Henny, aber meistens machten wir uns gleich auf und gingen
durch ein kleines Uferwäldchen zur 20 Minuten entfernten
„Prachersschlucht.“ Damals gab es noch ein Herren-, Damen- und
als kühne Neuerung ein Familienbad, doch hier im „Freibad“
wars am schönsten.
Im Sommer vor dem Krieg war ein
Meininger Prinz
in Neukuhren gewesen, und es gab ein großes Rätselraten,
wo er baden würde. Herrenbad? Familienbad? Wetten wurden
abgeschlossen. Und dann ging er ins Freibad, das nun als „hoffähig“
abgestempelt war. Es war herrlich dort, auch wenn der Prinzenbesuch
es nicht geadelt hätte. Von dem kleinen, lichten Wäldchen
ging es über die mit Strandhafer und stachligem Kraut
bewachsenen Dünen hinunter zum sanft abfallenden Strand.
Vereinzelt fanden sich große Steinhaufen, der Badestrand war
völlig frei. In flachen Halbkreisen lagen Muscheln und
vereinzelt kleine Stückchen Bernstein am Strand, so wie die
leichten Wellen sie fast systematisch hinauf getragen und dort
verlassen hatten.
An den Steinen machte sich Urte gern zu
schaffen; sie klopfte an ihnen, sie sortierte sie; ich wusste leider
viel zu wenig davon. Die anderen spielten jedes für sich ihre
bezaubernden Kinderspiele, sinnlos vom praktischen Standpunkt aus und
tiefsinnig, weil das Unverständliche, wie in hypermodernen
Kunstwerken, eine uferlos-phantastische Symboldeutung gestattet.
Brigitte fegte den Strand sauber,
Renate wollte die See mit Sand vollschütten, während Georg
Friedrich und Klaus ihr mehr Raum zu geben versuchten, indem sie
Wasser auf den Strand trugen. Wasserburgen machten sie natürlich
alle und Teiche für die in ihrer Kleinheit grotesk und
spielzeugartig zugleich wirkenden gefangenen Fischchen.
Als ich jetzt, nach bald 40 Jahren mit
meinen Enkeln an der See war, musste ich an diese Spiele denken, als
Veronika entrüstet meinte, so viel Sand wie hier in Timmendorf
müsste auch in Pyrmont in die Badeanstalt gebracht werden, und
Jost ihr zuletzt ganz verzweifelt über so viel Unverstand klar
zu machen versuchte, dass dieser Sand eben am Meer wäre und aus
zerriebenen Steinen entstanden zum Meer gehörte. Sie blieb
dabei, dass er hin geschafft worden sei und dass die Stadtverwaltung
von Pyrmont zu derselben Leistung verpflichtet sei.
Inzwischen hatte Lissa zu Hause
gekocht; meist eine dicke Gemüsesuppe und Milchpudding mit Saft.
Wir aßen in der gemütlichen Veranda und legten uns dann
alle schlafen, jeder mit einem Buch. Auch Urte legte Wert darauf,
obgleich sie nur einzelne Worte kannte. Lissa holte Bücher aus
einer kleinen, sehr kleinen Leihbücherei.
„Und dann für das Gemüte
Courts-Mahler
erster Güte“
kam in einem ihr gewidmeten Gedicht
vor.
Ich hatte mich damals in Jean Paul
hinein gelebt „Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten
Siebenkäs“, diese köstliche Lenette war ein Wesen aus
Fleisch und Blut gegenüber Jean Pauls anderen
sylphidenhaft-ästhetischen
Mädchen- und Frauengestalten; nebenbei las ich mit Vergnügen
die von Lissa abgelegten Courths-Mahler.
Hedwig Courths-Mahler war Fabrikmädchen
gewesen; sie wusste um die Träume der gedrückt im Schatten
Lebenden, und die Gewissheit des Happy-Ends war so wohltuend, naive
Stellen so angenehm erheiternd. Als der schönen Heldin nur die
Wahl bleibt, in den Cordilleren in einer einsamen Blockhütte
einen Sprung in den Abgrund zu tun oder dem an der Tür
polternden Verführer in die Hand zu fallen, sagt sie noch in der
Erinnerung schamhaft errötend: „Die Lage so allein mit einem
Mann in der Einsamkeit war nicht nur sehr gefährlich, sondern
auch peinlich.“ Eine Planke, die sich plötzlich löst und
den Weg auf eine rettende, geheime Treppe frei gibt, hilft der
Heldin. Der Leser war auch so ohne Sorge für sie gewesen.
Um die Kaffeezeit kam oft Besuch, der
keineswegs störte. Frau Sangelowsky mit Werner, die alten Plehns
mit Hefekuchen und, oh Glück, selber reparierten Schuhen, die
ein Trost im Hinblick auf den Winter waren. Jetzt war die drückende
und deprimierende Schuhnot kein Problem, da alles barfuß ging,
und Strümpfe gab es überhaupt nicht.
Aus Berlin kam Vetter Kurt mit Frau und
zwei Töchtern. Die Frau war sehr fein, immer in Schwarz und
leicht überschattet; der einzige Sohn war gefallen. Kurt
war gewiss traurig, wenn er von dem Verlust sprach - „der einzige
Sohn, die große Hoffnung gewiss – aber meine Frau sollte sich
dem Schmerz nicht so hingeben, sie muss doch auch an die Töchter
denken.“ Kurt dachte nicht nur selbstlos an die Töchter, er
musste Betrieb um sich haben, um sich wohl zu fühlen; das sprach
neben seinem Familiensinn mit, als er uns ins Kurhaus zu einer
Familienzusammenkunft einlud. Es war alles da wie durch Zauberei:
Panierte Karbonade, junges Gemüse, Sahneeis, Käse, Mokka,
Torte. Die Kapelle wurde freigehalten und spielte den Walzer aus dem
„Flimmerklärchen“. Das Flimmerklärchen war eine
Operette, die er mit anderen Mitarbeitern verfasst hatte. Ihm fiel
zum größten Teil die Finanzierung zu. – Er reichte uns
das von einem Künstler entworfene Programm. Die vielen Namen der
Autoren, die verantwortlich zeichneten, wirkten gehäuft –
drollig, aber keiner wollte übergangen sein. „Im nächsten
Jahr werdet Ihr überall das 'Flimmerklärchen' hören“,
sagte Kurt selbstgefällig.
Am Nachmittag gingen wir auch manchmal
in das freundliche Lachsbachtal und zum Borstenstein, einem
mannshohen, in der Mitte durchgebrochenen Findling,
der nach der Sage, sicher von einem Pädagogen erdacht, das Kind
einklemmen würde, das an dem Tag schon einmal gelogen hätte.
Alle 6 standen zögernd vor dem engen Spalt des geborstenen
Steines. „Die Urte hat heute schon Salz genascht“, rief Henny
triumphierend. Urte liebte Salz; alle Augenblicke war das
Salzfässchen leer. Urte besann sich. War „lügen“ und
„naschen“ dasselbe? Sollte sie es wagen, zwischen den Steinen
hindurch zu gehen? Lieber nicht, man kann nie wissen. Einige
Zuschauer auf den Bänken lachten freundlich, als die Kinder
streikten.
Den ganzen Tag hörten wir das
Rauschen der See. Ach die See! Ich dachte an meine Kinder- und
Jungmädchentage. Immer war die See das Schönste gewesen.
Der Lizent war Heimat, ein unverrückbar fester Zufluchtsort –
wie schön und geräumig war die Wohnung – das gemütliche
Esszimmer, der elegante Salon, der Hof, wo die „Heringsbändiger“
sich ärgerten, wenn wir auf den Deichseln balancierten, der
Kastanienbaum, der unvergleichliche Blick nach Westen über die
Pregelwiesen, das alles war garantierter Besitz. Und dann Genslack,
ein Paradies ohne Schlange, ohne Sündenfall!
Ja, aber die See! Die See war
Glückseligkeit schlechthin. Beim Verlassen des Zuges, bei den
ersten Atemzügen, die salzig auf der Zunge schmeckten, war man
von der Stadt, dem Staub, dem Alltag erlöst. In den Vordünen
schon zogen wir die Schuhe aus, der Sand pfiff beim Laufen unter den
Sohlen und scheuerte sie seidig glatt, im Wasser schwand alle
Körperschwere, die Luft wehte durch einen hindurch, man war Teil
dieser Natur. An der See waren alle Menschen jung und schön und
froh.
Da standen die Mädchen auf dem
Seesteg in Cranz;
die durch den Einfluss der salzigen Luft leicht gewellten Haare
heller als die gebräunte Stirn, in durchbrochenen
Stickereikleidern mit rosa oder hellblau im Unterzeug – in
sportlichem Tennisdress, der ganz feine rote oder blaue Streifen
aufwies; ihre Gesprächspartner lachten übermütig. Ich
fühlte wohl, da war nicht mein Platz, auch wenn ich mir solch
ein Kleid anzog und einen Tanzpartner anlächelte. Wie Toni
Kröger
empfand ich „Sehnsucht und schwermütigen Neid und ein klein
wenig Verachtung und eine ganz keusche Seligkeit.“ Mein Platz war
in dem stillen Neuhäuser
mit den ganz in Gärten versteckten Villen. „Das ist ja ein
Kirchhof hier,“ hatte Lissa abfällig gesagt. Es war dort still
und schön; die Dünen ganz überwachsen mit blau-grünen
Disteln, der Strand sauber, wie gefegt. Ich hatte dort in einem
Sommer viel Bernstein gesammelt und zweimal Seehunde beobachtet.
Einer ließ mich ganz nahe heran kommen, ehe er flüchtete.
Und wie schön war die Steilküste mit der Fülle der
blauen Glockenblumen!
„Auf Möwenflügeln
flog ins Licht ins klare,
Die wilde Sehnsucht meiner
18 Jahre!“
sang Agnes Miegel,
die schöne Königsberger Kaufmannstochter.
Jetzt mit den Kindern an der See, wars
wieder ganz anders. Sommer und Reife und befriedigte Stille. „Jetzt
weiß ich, wie das wahre Glück für mich aussieht,“
schrieb ich meinem Mann, „ein Leben an der See mit den Kindern und
dazwischen der große, fortreißende Augenblick des
Wiedersehens mit dir!“ Wir sagen uns jetzt öfters. Von
Warschau, wo er eine Autokolonne leitete, bis Bromberg war es nicht
weit, und einige Tage konnte er schon Urlaub nehmen. -
„Wenn ich nur erst auf dem Bahnhof in
Bromberg stünde, dann kann ja nichts mehr dazwischen kommen,
dann sind wir ja eigentlich schon zusammen.“ Der Zug fuhr ein, aber
nun war es noch so schrecklich weit bis zur Thornerstraße, ¾
Std. zu Fuß, wenn nicht gerade die Elektrische
ging. Ich stand vor dem Haus, da war noch der Vorgarten, die Treppe –
bis ich endlich klingeln konnte, war er zu Hause? Ich hörte
seinen gleichmäßigen, ruhigen Schritt. Dank, Dank.
Eines fehlte mir immer in diesen
Urlaubstagen: das Sonntägliche, Verantwortungslose, das
jugendlich-unbeschwerte Zurück in eine andere Zeit. Ich war ja
frei von Haus und Kindersorgen, man konnte gemeinsam lesen, ohne Ziel
wandern, und was ich so liebte, regelmäßige Mahlzeiten
verachten. Er hatte immer eine Menge guter Sachen mitgebracht; aber
das Kochen und Abwaschen nahm viel Zeit, und nach der ersten Umarmung
der Wiedersehensfreude kam bald der Überdruss seiner gereizten
Nerven. Aber vor allem konnte er sich nicht frei machen von der Zeit,
von seinen Erfahrungen und Erlebnissen, von denen er nur sehr ungern
sprach.
Wir saßen auf unserem großen
Balkon; es war mir gelungen, weiße und rosa Oleanderstecklinge
zu bekommen, aus Stecklingen hatte ich auch einige sehr große
gefüllte weiße Nelken gezogen – „sie sehen
anbetungswürdig aus“, dachte ich. Über die Baumwipfel
hinweg sahen wir hinunter zur Brahe,
„Es ist zu still hier,“ sagte mein Mann, „ich vermisse die
Kanonen“. „Aber Rudolf, die Stille ist so schön, sie muss
Dir doch wohltuend sein“. „Später, wenn wir einmal alle zu
Hause bleiben, aber jetzt nicht; der Friede hier ist schwer zu
ertragen, wenn es draußen weiter geht“. „das erinnert mich
an Hermanns Besuch“. „Wo ist er jetzt?“ „Im Osten, er war
lange im Westen, zuletzt in Verdun. Er besuchte uns einmal in
Neukuhren; ganz überraschend; saß in der Veranda, als wir
nach Hause kamen“. „Und was sagte er?“ „Ach, wenig, er war
übermüdet; er scheint von seiner Kompagnie der einzige
Überlebende zu sein. Er hatte“ - genau wie du, dachte ich
dabei - „ungläubige Augen, zu trostlos, um auch nur den
Eindruck eines innerlich verzweifelten Menschen zu machen, nein, ganz
resigniert, ganz leer.“ „Wie steht es denn dort?“ „Sie haben
ja nichts mehr“, entfuhr es mir, trotz meines Vorsatzes, über
seine Mutlosigkeit zu schweigen; „sie nehmen Bindfaden statt der
Schnürsenkel.“ „So steht es; - na ja“.
Wenn er abfuhr, immer spät abends,
wäre es schön gewesen, ihn auf die Bahn zu begleiten und
lieber dort auf meinen Zug zu warten, als hier allein zurück zu
bleiben, aber ich musste ja das „Zu Hause“ wieder in Ordnung
bringen, und das konnte ich nicht, so lange er noch da war. So war
ich nun allein in den großen Zimmern, die plötzlich fremd,
dunkeldrohend, tot verlassen erschienen. Überall Cigarrenasche,
gebrauchte Teller, Zeitungen. In all der Unordnung schrieb ich den
ersten Sehnsuchtsbrief. Die Uhren schlugen, es dämmerte langsam.
Auch als die Vögel zu zwitschern begannen, schien mir meine
vertraute Umgebung gespensterhaft fremd. Sobald es hell war, machte
ich mich auf. Das Herz tat mir bitter weh, als die Türe ins
Schloss fiel und doch wurde mir leichter bei jedem Schritt. Der Weg
war weit; der übermächtig schwere Rucksack drückte,
und ich legte ihn oft auf den Vorsprung einer Mauer, an die ich mich
lehnte, um mich auszuruhen, ohne dass ich ihn abnahm. Nach einer
guten Stunde war ich auf dem Bahnhof und schlief fast ein in dem
Wartesaal, der unfreundlich und vernachlässigt aussah, gerade
wie die übrigen Reisenden.
Endlich kam der Zug, wie immer mit
starker Verspätung; es war gleich, ich brauchte nicht
umzusteigen, mit jedem Kilometer kam ich den Kindern näher. Auf
den ausdrücklichen Wunsch meines Mannes, was die Mutter
besonders freute, brachte ich ihr einiges von den mitgebrachten
Schätzen, vor allem Tee und Butter. Dann kam noch eine ¾
Stunde Samlandbahn. - Station Neukuhren – der salzige Hauch der See
– nach wenigen Minuten, die lang schienen durch den ungeduldigen
Wunsch auf das Wiedersehen – und ich war wieder bei meinen kleinen
Mädchen, packte unter allgemeinem Jubel aus und eilte ins
Wasser.
Das wunderbare Wetter hielt an durch
den ganzen September bis in den Oktober hinein. Wir badeten nicht
mehr oft, waren auch nur selten am Strand. Jetzt hatten wir unser
Quartier in den Dünen. Die Kinder fanden es da herrlich,
richteten sich Wohnungen ein und spielten „Puppeli“, wobei eines
ein 1-jähriges Kind darstellte, das auf der Erde herum kroch und
eine groteske Mundart sprach. „Bauernpeipe“ statt „Bauernkleid“,
blieb lange im Sprachgebrauch. Wenn Renate „Puppeli“ war, das zum
Schlafen hingelegt wurde, schlief sie mehrmals wirklich ein, was
wegen des nun so echt wirkenden Spiels freudig festgestellt wurde.
Wenn man in den Dünen, geschützt
vor dem frischer wehenden Wind in der Sonne lag, konnte man sich
einbilden, dass es noch Sommer war. Die Täuschung schmerzte
mich. Ich konnte Lissas vieles Reden vom nächsten Sommer nicht
hören. Menschen
kehren wieder, Zeiten nicht.
Ich machte nach langer Zeit einen
Spaziergang ganz allein für mich. Ebereschen glühten. Unter
dem wilden Apfelbaum lagen Unmengen kleiner, frisch duftender
Früchte. Wir hatten sie manchmal gesammelt und viel Zucker an
das schöne, goldgelbe Apfelmus verschwendet, aber es half
nichts, sie blieben die Äpfel der Wiborad.
Die wenigen schmächtigen Birken standen gelb zwischen kleinen
Tannen, mein Kleid war von Altweibersommer
ganz umsponnen.
Das ist der Herbst – der bricht dir
noch das Herz -.
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