Sommer 1917. Bromberg

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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In Pomedien sah ich die Tannen vor meinem Fenster wieder, den Brast, die Ufer umsäumt mit Caltha palustris1 – die alten Freunde und Bekannten2 – Willy, die einst sehr geliebte, Editha, Wolffs, Fritzel Meyer. Als ich ihn plötzlich und ganz unvorbereitet auf dem Bahnhof traf, waren wir beide verlegen, ganz ohne Grund, aber wir sagten und fragten Selbstverständlichkeiten, über die wir nachher, als er in Pomedien zum Besuch kam, herzlich lachten. Das war wieder die vergnügt-harmlose, natürliche Art, die wir immer miteinander gehabt hatten. Trulla photographierte uns auf den Stufen der Veranda sitzend als „Bild der Erinnerungen“.

Ich sah abends lange auf die Tannen, wie früher, wie früher ... ich atmete voll vegetativen Glücks den Wind, der den Duft der Langendorfer Wiesen herüber trug, ich ging zur Post und las Rudolfs Briefe auf der Böschung des Landwegs, der von der Chaussee zu dem Pomedier Haus abzweigte, unter den Weißdornbüschen, gerade wie in dem herben Frühling vor nun schon 7 Jahren, und Frieda Wolff buk köstliche Waffeln; ich trank Kaffee mit ihr und der an allem herzlich teilnehmenden Frau Wolff – einer gebürtigen Neidenburgerin – auch hier alles genau wie vor 7 Jahren.

Die Nachtigallen schlugen – warum „Sprosser“ sagen3; in dem Namen „Nachtigall“ liegt doch das Herzergreifende und Beseligende, das uns der gesegnete Vogel schenkt, Süße und Schmerz der Sehnsucht, Erfüllung und Entsagung. Die Käuzchen lockten sich, die Käuzchen schienen böse oder vielleicht nur erschrocken, und die alte Meine deutete den Ruf: „Komm mit, kommt mit ins kühle Grab.“ „Warum den Kindern Angst machen, Frau Hermann, die Käuzchen ärgern sich doch nur über den hellen Schein, der durch die Ritzen dringt“. „Wenn jemand stirbt, haben die Hunde vorher geheult, die Käuzchen geschrien. Beide sehen den Tod kommen.“ „Wenn ein Kranker im Haus liegt, wird viel Licht gemacht, und die Hunde heulen beinahe täglich. Sie war aber nicht zu überzeugen.

Wenn ich ganz früh hinausging, vorbei an der von Birken beschatteten, verwilderten Grabstätte von Pomedien, umflattert von Kiebitzen, die auf den vom Brast4 durchflossenen feuchten Wiesen in Menge brüteten und unerwünschte Spaziergänger durch Schreie und abseitige Flüge von ihrem Nest abzulenken suchten, dann glaubte ich wieder, das junge Mädchen zu sein.

Die Kinder waren selig. Sie sahen gesund und froh aus. „La petite est une beauté“5, sagte Frau v.Perbandt und sah die Kleine lächelnd an.
Wenn sie schon zu Bett gebracht worden waren, sangen sie noch oft zusammen, zweistimmig. Herr v.Perbandt und Editha hatten in der Halle zugehört. In einer Ecke unseres Zimmers war eine ganze Puppenwirtschaft aufgebaut mit Stühlchen, Betten, einem kleinen Schrank, Tellern, Tässchen und Kochgeschirr. Ich musste nur viel aufräumen, weil Urte mit ihrem Ideenreichtum immer neue Auf- und Umstellungen erfand und das ganze Zimmer zur Puppenecke machte. Sie genossen den lang entbehrten abendlichen Milchbrei – reichlich mit Zimt gewürzt, da die Grütze schon etwas munkelig6 war.

„Zimt und Mostrich machen vieles gut,“ sagte Frau v.Perbandt tröstend und reichte den Mostrichtopf, wenn der Geschmack der Hammelleberpastete von manchen als zu streng getadelt wurde. Mir schmeckte alles, ich erholte mich wunderbar und verzichtete gleich auf den Liegestuhl, der sorglich bereit gestellt war. Die Landfrauen hatten viel zu stöhnen, wenn wenn es ihnen auch mit der Ernährung viel besser ging als uns in der Stadt. Es fehlte an Zucker, Waschmitteln, Nähgarn! Die brüchige Wäsche konnte nicht ersetzt werden, jedenfalls war der Ersatz wertlos. Ich hatte einmal ein Hemd gewaschen, das ich für einen unwahrscheinlich hohen Preis auf einen Bezugsschein bekommen hatte. Als ich es aus der heißen Lauge herausnehmen wollte, war es verschwunden; nur ein wenig Stickerei schwamm im Wasser. Papier hatte Leinen vorgetäuscht.

Auch diese Not kam für viele Bauern nicht in Frage. Sie hatten gute Tauschmittel. Frau v.Perbandt lehnte das Ausnutzen der Notlage ab und half, wo es nur irgend möglich war. Sie erklärte sich auch bereit, kränkliche und unterernährte Kinder während der Sommerferien aufzunehmen. Ich begleitete sie auf der Fahrt nach Tapiau7, wo ein Rektor mit einer ganzen Schar Berliner Kinder angekommen war, die auf die einzelnen Güter verteilt werden sollten. Es erinnerte mich ein wenig an die Methoden eines Sklavenmarktes, als die Bauern sich unter den blassen und verstört blickenden Kindern die ältesten und kräftigsten aussuchten, die ihnen sicher bei der Sommerarbeit eine Hilfe sein konnten. Für Pomedien blieb natürlich der kümmerlichste Rest.

Um Frau v.Perbandt gefällig zu sein, erklärte ich mich bereit, mit einem 12-jährigen Jungen zum Zahnarzt zu fahren. Er machte mir meine Aufgabe nicht durch Ängstlichkeit schwer. „Ich bin so froh,“ sagte er, „so froh, dass mir dieser Zahn gezogen wird; vier Backenzähne habe ich schon verloren, wenn ich keine Zähne mehr habe, habe ich auch keine Zahnschmerzen mehr.“ Der Zahnarzt schüttelte den Kopf. „Traurig, traurig.“ Ich dachte an die Tragik, die aus Käthe Kollwitz' Radierungen, bei allem Humor aus Zilles Zeichnungen spricht.

Die Berliner Kinder waren im Inspektor8haus in einem großen Raum untergebracht und wurden von einer Kinderpflegerin betreut. Am Sonntag nahmen sie im Herrschaftshaus an der Andacht teil, und danach folgte der „Blumenkorso“9. Zum Ärger des Gärtners und zu Frau v.Perbandts mehr lachend geäußertem Entsetzen rissen sie alle nur irgend erreichbaren Blumen ab und überreichten sie strahlend ihrer Gastgeberin, deren an den Dank geknüpfte Mahnung, nun keine Blumen mehr zu bringen, so freundlich geäußert war, dass sie letzten Endes ohne Reuetat verhallte.

Meine Kinder, die manchmal mit den Berliner Feriengästen spielten, beherrschten bald einen echten Berliner Jargon „Mutter, icke muss mich bald ein reines Hemde anziehn;“ das ließ mich den zu häufigen Umgang etwas fürchten.

Als ich einmal mit Hansel nach Abendbrot nach den Kindern sah, und auf dem Nachttisch die Streichhölzer suchte, merkte ich, dass die Schachtel völlig nass und unbrauchbar war; ich fasste nach den Kindern. Auch im Bett war alles durchnässt. Hansel holte schnell Streichhölzer und ein neues Licht – damals eine Kostbarkeit – und da sahen wir dann, was die beiden angerichtet hatten. Steinchen und Gras hatten für die Puppenküche nicht genügt. Entenflott10, in kleinen Eimerchen aus dem Teich geholt, war entschieden amüsanter. Wo man hinfasste, war das nasse, grüne Zeug. Die Betten waren völlig beschmiert, und auf dem Fußboden glitt man aus. Die Steckkissenbezüge der Puppen hatten sie sich als Schürzen über den Nachthemden umgebunden, und waren mit diesen völlig durchnässten Schürzen eingeschlafen. Sie mussten schon recht lange so gelegen haben, es war ja stockdunkel.

Die hilfreiche Hansel holte neues Bettzeug und rieb herzlich lachend die Kinder mit Wolltüchern trocken. Nachdem ich die während der ganzen Zeit fest Schlafenden neu angezogen hatte, ging ich selbst schnell zu Bett und nahm sie in die Arme, bis sie ganz warm waren. Vielleicht war diese Abkühlung der Anlass zu Brigittes plötzlich auftretender beiderseitigen Mittelohrentzündung. Es fing mit Nasenbluten an. „Mein Öhrchen tut mir weh,“ klagte sie, und dann stieg das Fieber schnell auf 40º.

Der Tapiauer Arzt verordnete eine Schwitzkur, die aber keinen Erfolg hatte, und deshalb entschloss ich mich, mit den Kindern nach Königsberg zu fahren, um den damals besten Ohrenarzt Prof. Stenger aufzusuchen. Frau v.Perbandt half mir bei den warmen Umschlägen, die dem Kind anscheinend sehr halfen, denn sie war dazwischen ganz vergnügt, besonders wenn Frau v.Perbandt bis spät in die Nacht oder in aller Frühe Geschichten erzählte, damit ich mich ausruhen konnte.
Oh, wie war sie gut!

Nachdem das Trommelfell auf beiden Seiten durch gespickt war, hörten die Schmerzen schlagartig auf; sie konnte nur zunächst nichts hören, das kleine Ding. Ich bedauerte sie wegen des warmen Verbandes, den sie in der Hitze tragen musste; sie hatte sich aber bald so an ihren Ohrenverband gewöhnt, dass sie ihn gar nicht ablegen mochte und auch im Badeanzug damit herum lief, was etwas absurd aussah. Sie hatte sich während des schmerzhaften Eingriffs sehr tapfer benommen, wofür ich ihr richtig dankbar war, denn Stenger hatte nur ungern eingewilligt, dass sie auf meinem Schoß sitzen bleiben durfte, aber ich wusste, wie sehr das dem armen Kind half.

Trulla schalt auf die Teiche im Pomedier Park, die ihrer Meinung nach schon Jutta und zwei Besuchen zu einer Mittelohrentzündung verholfen hatten. Sie gab mir Recht, dass ich auf den Rat des Arztes zur völligen Heilung an die See fahren wollte, obwohl sie meine Abreise lebhaft bedauerte. Mit gutem Grund: Trulla war klug, doch sie zog das Wirtschaften, besonders auf dem Hühnerhof – ihrer speziellen Liebhaberei – dem Unterrichten bei weitem vor. Ich hatte während der 8 Wochen meines Aufenthaltes ihr Mauchen11 ganz abgenommen, was allen Beteiligten eine reine Freude war. Frau v.Perbandt schlug mir vor, im Herbst wieder zu kommen und im Winter gegen freien Unterhalt zu unterrichten. Es freute mich, dass man uns wieder haben wollte.

Lissa war begeistert von dem Plan, nach Neukuhren12 zu fahren. Sie war in solchen Fällen von größter Tatkraft, im Gegensatz zu ihrer sonstigen Schlappheit, die viel mehr, als ich damals meinte, mit ihrem Herzleiden zusammen hing. Sie verstand es dann auch ausgezeichnet, zu organisieren.

Wir fuhren einen Nachmittag zur Wohnungssuche nach Neukuhren und nahmen gleich etwas Porzellan mit, hübsche Tassen – kein Alltagsgeschirr – die zwischen heitere Kissen gepackt wurden. Wir fanden eine Wohnung dicht am Strand, par terre13, 3 kleine Stuben und Küche und eine verglaste, geräumige Veranda, die durch die Kissen, ein paar Blumen, zwei hübsche Bilder und eigene Decken in Handarbeit sehr wohnlich aussah. In einer Ecke der Veranda hing Tuttels, d.h. Gertrud Schönwalds Laute. Sie war Lissas Kusine und hatte eine frische, liebe Art mit den Kindern. Hier sangen die beiden abends zweistimmig zur Laute, hier tranken wir gemütlich Kaffee, wenn Frau Sandelowsky mit Werner kam – ihr Mann nun auch im Feld – oder die rührend gutherzigen Eltern von Lissa, die meist ein Kuchenpaket mit brachten.

Um meinen Mann brauchte ich mich damals nicht zu sorgen. Er war in den Rokitosümpfen14 und auf dem Balkan sehr krank gewesen, Malaria, Ruhr, Kopfrose – jetzt befehligte er eine Auto-Kolonne in Warschau und hatte vor allem das Kommando über die Verteilung der Benzinvorräte. Er verwaltete sie mit der denkbar größten Gewissenhaftigkeit, absolut ablehnend gegen alle Bestechungsversuche der polnischen Großgrundbesitzer. Er hatte aber dort Gelegenheit, Lebensmittel einzukaufen und versah uns reichlich mit Mehl, Speck und Erbsen, manchmal auch mit Kaffee, den ich damals nicht so sehr entbehrte wie Tee. Der Kaffee war aber so köstlich für die allgemeine Stimmung bei der Bewirtung. Miete zahlten wir im Monat 200M; Lissa 100M, ich 75 und Tuttel 25.

Da nichts mehr von Lebensmitteln verschickt werden durfte – Beamte am Bahnhof gossen sogar die Milchflaschen aus, die Frauen auf dem Lande gehamstert hatten – war es uns in Bromberg besonders schlecht gegangen, doch hier in Ostpreußen nun besonders gut. Magermilch, Gemüse und Kartoffeln – herrliche ostpreußische rosa Frühkartoffeln – konnten wir reichlich haben.

Dem grausamen Winter war ein märchenhaft schöner Sommer gefolgt.
Pomedien! Langendorf! Und nun die See!!
Es war wirklich ein Märchen!
Das Leben ursprünglich einfach – Gas und Elektrizität streikten oft – wir machten Feuer mit Holz aus dem nahen Wäldchen, gingen zeitig zu Bett, nahmen Feengeschenke, die man nicht kaufen konnte, dankbar und glücklich entgegen: ein Päckchen Kaffee, Tee, ein Kännchen Sahne.

Dankbar und glücklich und doch auch wie Kinder es tun, selbstverständlich – sorglos. Wir wussten es ja gut, dass diese Zeit eine Zeit des Grauens war, dass sich eines Tages der Abgrund auftun würde; aber nur nicht daran denken! „Warum kommt eine Kapelle mit schmetternder Musik, warum Leute mit Blumen und Fahnen?“ „Der wievielte August ist denn heute?“ „Es wird die Tannenbergfeier15 sein“. „Ohne Tannenberg und Hindenburg16 wären wir nicht hier“. „Ludendorff17 soll doch der eigentliche Sieger sein.“ „Wer weiß?“ - Und dann erstarb die Musik – Heil Kaiser dir – die Gespenster waren fort, aufgelöst in der phosphoreszierend zitternden Hochsommerhitze. Wir flohen bewusst die Pest, wie die Aristokraten des Dekamerone18 es taten, die am kühlenden Springbrunnen saßen, in dessen Perlen das Licht sich brach und die Zeit anmutig kürzten durch das Erzählen regenbogenfarbiger Märchen.

Jeden, aber auch jeden Tag wachten wir bei dem schönsten Sonnenschein auf. Schon in Pomedien hatten wir dauernd gutes Wetter gehabt ohne Dürre, da es manchmal nachts regnete, und so wars auch hier. Die Kinder waren schnell fertig. Zähne geputzt, Haare gekämmt – ja wo wuschen wir uns eigentlich, das ist mir ganz entfallen. Angezogen wurden nur die Badeanzüge, vervollständigt durch bunte Glasperlenketten, die hübsch aussahen auf den braun gebrannten Hälschen. Urte und Georg Friedrich, „die beiden Sechser“, wie sie sich selbst nannten, holten Milch. Manchmal lernte ich ein wenig mit den beiden und mit Henny, aber meistens machten wir uns gleich auf und gingen durch ein kleines Uferwäldchen zur 20 Minuten entfernten „Prachersschlucht.“ Damals gab es noch ein Herren-, Damen- und als kühne Neuerung ein Familienbad, doch hier im „Freibad“ wars am schönsten.

Im Sommer vor dem Krieg war ein Meininger Prinz19 in Neukuhren gewesen, und es gab ein großes Rätselraten, wo er baden würde. Herrenbad? Familienbad? Wetten wurden abgeschlossen. Und dann ging er ins Freibad, das nun als „hoffähig“ abgestempelt war. Es war herrlich dort, auch wenn der Prinzenbesuch es nicht geadelt hätte. Von dem kleinen, lichten Wäldchen ging es über die mit Strandhafer und stachligem Kraut bewachsenen Dünen hinunter zum sanft abfallenden Strand. Vereinzelt fanden sich große Steinhaufen, der Badestrand war völlig frei. In flachen Halbkreisen lagen Muscheln und vereinzelt kleine Stückchen Bernstein am Strand, so wie die leichten Wellen sie fast systematisch hinauf getragen und dort verlassen hatten.

An den Steinen machte sich Urte gern zu schaffen; sie klopfte an ihnen, sie sortierte sie; ich wusste leider viel zu wenig davon. Die anderen spielten jedes für sich ihre bezaubernden Kinderspiele, sinnlos vom praktischen Standpunkt aus und tiefsinnig, weil das Unverständliche, wie in hypermodernen Kunstwerken, eine uferlos-phantastische Symboldeutung gestattet.

Brigitte fegte den Strand sauber, Renate wollte die See mit Sand vollschütten, während Georg Friedrich und Klaus ihr mehr Raum zu geben versuchten, indem sie Wasser auf den Strand trugen. Wasserburgen machten sie natürlich alle und Teiche für die in ihrer Kleinheit grotesk und spielzeugartig zugleich wirkenden gefangenen Fischchen.

Als ich jetzt, nach bald 40 Jahren mit meinen Enkeln an der See war, musste ich an diese Spiele denken, als Veronika entrüstet meinte, so viel Sand wie hier in Timmendorf müsste auch in Pyrmont in die Badeanstalt gebracht werden, und Jost ihr zuletzt ganz verzweifelt über so viel Unverstand klar zu machen versuchte, dass dieser Sand eben am Meer wäre und aus zerriebenen Steinen entstanden zum Meer gehörte. Sie blieb dabei, dass er hin geschafft worden sei und dass die Stadtverwaltung von Pyrmont zu derselben Leistung verpflichtet sei.

Inzwischen hatte Lissa zu Hause gekocht; meist eine dicke Gemüsesuppe und Milchpudding mit Saft. Wir aßen in der gemütlichen Veranda und legten uns dann alle schlafen, jeder mit einem Buch. Auch Urte legte Wert darauf, obgleich sie nur einzelne Worte kannte. Lissa holte Bücher aus einer kleinen, sehr kleinen Leihbücherei.

„Und dann für das Gemüte

Courts-Mahler20 erster Güte“

kam in einem ihr gewidmeten Gedicht vor.

Ich hatte mich damals in Jean Paul21 hinein gelebt „Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs“, diese köstliche Lenette war ein Wesen aus Fleisch und Blut gegenüber Jean Pauls anderen sylphiden22haft-ästhetischen Mädchen- und Frauengestalten; nebenbei las ich mit Vergnügen die von Lissa abgelegten Courths-Mahler.

Hedwig Courths-Mahler war Fabrikmädchen gewesen; sie wusste um die Träume der gedrückt im Schatten Lebenden, und die Gewissheit des Happy-Ends war so wohltuend, naive Stellen so angenehm erheiternd. Als der schönen Heldin nur die Wahl bleibt, in den Cordilleren in einer einsamen Blockhütte einen Sprung in den Abgrund zu tun oder dem an der Tür polternden Verführer in die Hand zu fallen, sagt sie noch in der Erinnerung schamhaft errötend: „Die Lage so allein mit einem Mann in der Einsamkeit war nicht nur sehr gefährlich, sondern auch peinlich.“ Eine Planke, die sich plötzlich löst und den Weg auf eine rettende, geheime Treppe frei gibt, hilft der Heldin. Der Leser war auch so ohne Sorge für sie gewesen.

Um die Kaffeezeit kam oft Besuch, der keineswegs störte. Frau Sangelowsky mit Werner, die alten Plehns mit Hefekuchen und, oh Glück, selber reparierten Schuhen, die ein Trost im Hinblick auf den Winter waren. Jetzt war die drückende und deprimierende Schuhnot kein Problem, da alles barfuß ging, und Strümpfe gab es überhaupt nicht.

Aus Berlin kam Vetter Kurt mit Frau und zwei Töchtern. Die Frau war sehr fein, immer in Schwarz und leicht überschattet; der einzige Sohn war gefallen. Kurt23 war gewiss traurig, wenn er von dem Verlust sprach - „der einzige Sohn, die große Hoffnung gewiss – aber meine Frau sollte sich dem Schmerz nicht so hingeben, sie muss doch auch an die Töchter denken.“ Kurt dachte nicht nur selbstlos an die Töchter, er musste Betrieb um sich haben, um sich wohl zu fühlen; das sprach neben seinem Familiensinn mit, als er uns ins Kurhaus zu einer Familienzusammenkunft einlud. Es war alles da wie durch Zauberei: Panierte Karbonade, junges Gemüse, Sahneeis, Käse, Mokka, Torte. Die Kapelle wurde freigehalten und spielte den Walzer aus dem „Flimmerklärchen“. Das Flimmerklärchen war eine Operette, die er mit anderen Mitarbeitern verfasst hatte. Ihm fiel zum größten Teil die Finanzierung zu. – Er reichte uns das von einem Künstler entworfene Programm. Die vielen Namen der Autoren, die verantwortlich zeichneten, wirkten gehäuft – drollig, aber keiner wollte übergangen sein. „Im nächsten Jahr werdet Ihr überall das 'Flimmerklärchen' hören“, sagte Kurt selbstgefällig.

Am Nachmittag gingen wir auch manchmal in das freundliche Lachsbachtal und zum Borstenstein, einem mannshohen, in der Mitte durchgebrochenen Findling24, der nach der Sage, sicher von einem Pädagogen erdacht, das Kind einklemmen würde, das an dem Tag schon einmal gelogen hätte. Alle 6 standen zögernd vor dem engen Spalt des geborstenen Steines. „Die Urte hat heute schon Salz genascht“, rief Henny triumphierend. Urte liebte Salz; alle Augenblicke war das Salzfässchen leer. Urte besann sich. War „lügen“ und „naschen“ dasselbe? Sollte sie es wagen, zwischen den Steinen hindurch zu gehen? Lieber nicht, man kann nie wissen. Einige Zuschauer auf den Bänken lachten freundlich, als die Kinder streikten.

Den ganzen Tag hörten wir das Rauschen der See. Ach die See!
Ich dachte an meine Kinder- und Jungmädchentage. Immer war die See das Schönste gewesen. Der Lizent war Heimat, ein unverrückbar fester Zufluchtsort – wie schön und geräumig war die Wohnung – das gemütliche Esszimmer, der elegante Salon, der Hof, wo die „Heringsbändiger“25 sich ärgerten, wenn wir auf den Deichseln balancierten, der Kastanienbaum, der unvergleichliche Blick nach Westen über die Pregelwiesen, das alles war garantierter Besitz. Und dann Genslack, ein Paradies ohne Schlange, ohne Sündenfall!

Ja, aber die See! Die See war Glückseligkeit schlechthin. Beim Verlassen des Zuges, bei den ersten Atemzügen, die salzig auf der Zunge schmeckten, war man von der Stadt, dem Staub, dem Alltag erlöst. In den Vordünen schon zogen wir die Schuhe aus, der Sand pfiff beim Laufen unter den Sohlen und scheuerte sie seidig glatt, im Wasser schwand alle Körperschwere, die Luft wehte durch einen hindurch, man war Teil dieser Natur. An der See waren alle Menschen jung und schön und froh.

Da standen die Mädchen auf dem Seesteg in Cranz26; die durch den Einfluss der salzigen Luft leicht gewellten Haare heller als die gebräunte Stirn, in durchbrochenen Stickereikleidern mit rosa oder hellblau im Unterzeug – in sportlichem Tennisdress, der ganz feine rote oder blaue Streifen aufwies; ihre Gesprächspartner lachten übermütig. Ich fühlte wohl, da war nicht mein Platz, auch wenn ich mir solch ein Kleid anzog und einen Tanzpartner anlächelte. Wie Toni Kröger27 empfand ich „Sehnsucht und schwermütigen Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganz keusche Seligkeit.“ Mein Platz war in dem stillen Neuhäuser28 mit den ganz in Gärten versteckten Villen. „Das ist ja ein Kirchhof hier,“ hatte Lissa abfällig gesagt. Es war dort still und schön; die Dünen ganz überwachsen mit blau-grünen Disteln, der Strand sauber, wie gefegt. Ich hatte dort in einem Sommer viel Bernstein gesammelt und zweimal Seehunde beobachtet. Einer ließ mich ganz nahe heran kommen, ehe er flüchtete. Und wie schön war die Steilküste mit der Fülle der blauen Glockenblumen!


„Auf Möwenflügeln flog ins Licht ins klare,

Die wilde Sehnsucht meiner 18 Jahre!“

sang Agnes Miegel29, die schöne Königsberger Kaufmannstochter.

Jetzt mit den Kindern an der See, wars wieder ganz anders. Sommer und Reife und befriedigte Stille. „Jetzt weiß ich, wie das wahre Glück für mich aussieht,“ schrieb ich meinem Mann, „ein Leben an der See mit den Kindern und dazwischen der große, fortreißende Augenblick des Wiedersehens mit dir!“ Wir sagen uns jetzt öfters. Von Warschau, wo er eine Autokolonne leitete, bis Bromberg war es nicht weit, und einige Tage konnte er schon Urlaub nehmen. -

„Wenn ich nur erst auf dem Bahnhof in Bromberg stünde, dann kann ja nichts mehr dazwischen kommen, dann sind wir ja eigentlich schon zusammen.“ Der Zug fuhr ein, aber nun war es noch so schrecklich weit bis zur Thornerstraße, ¾ Std. zu Fuß, wenn nicht gerade die Elektrische30 ging. Ich stand vor dem Haus, da war noch der Vorgarten, die Treppe – bis ich endlich klingeln konnte, war er zu Hause? Ich hörte seinen gleichmäßigen, ruhigen Schritt. Dank, Dank.

Eines fehlte mir immer in diesen Urlaubstagen: das Sonntägliche, Verantwortungslose, das jugendlich-unbeschwerte Zurück in eine andere Zeit. Ich war ja frei von Haus und Kindersorgen, man konnte gemeinsam lesen, ohne Ziel wandern, und was ich so liebte, regelmäßige Mahlzeiten verachten. Er hatte immer eine Menge guter Sachen mitgebracht; aber das Kochen und Abwaschen nahm viel Zeit, und nach der ersten Umarmung der Wiedersehensfreude kam bald der Überdruss seiner gereizten Nerven. Aber vor allem konnte er sich nicht frei machen von der Zeit, von seinen Erfahrungen und Erlebnissen, von denen er nur sehr ungern sprach.

Wir saßen auf unserem großen Balkon; es war mir gelungen, weiße und rosa Oleanderstecklinge zu bekommen, aus Stecklingen hatte ich auch einige sehr große gefüllte weiße Nelken gezogen – „sie sehen anbetungswürdig aus“, dachte ich. Über die Baumwipfel hinweg sahen wir hinunter zur Brahe31, „Es ist zu still hier,“ sagte mein Mann, „ich vermisse die Kanonen“. „Aber Rudolf, die Stille ist so schön, sie muss Dir doch wohltuend sein“. „Später, wenn wir einmal alle zu Hause bleiben, aber jetzt nicht; der Friede hier ist schwer zu ertragen, wenn es draußen weiter geht“. „das erinnert mich an Hermanns Besuch“. „Wo ist er jetzt?“ „Im Osten, er war lange im Westen, zuletzt in Verdun. Er besuchte uns einmal in Neukuhren; ganz überraschend; saß in der Veranda, als wir nach Hause kamen“. „Und was sagte er?“ „Ach, wenig, er war übermüdet; er scheint von seiner Kompagnie der einzige Überlebende zu sein. Er hatte“ - genau wie du, dachte ich dabei - „ungläubige Augen, zu trostlos, um auch nur den Eindruck eines innerlich verzweifelten Menschen zu machen, nein, ganz resigniert, ganz leer.“ „Wie steht es denn dort?“ „Sie haben ja nichts mehr“, entfuhr es mir, trotz meines Vorsatzes, über seine Mutlosigkeit zu schweigen; „sie nehmen Bindfaden statt der Schnürsenkel.“ „So steht es; - na ja“.

Wenn er abfuhr, immer spät abends, wäre es schön gewesen, ihn auf die Bahn zu begleiten und lieber dort auf meinen Zug zu warten, als hier allein zurück zu bleiben, aber ich musste ja das „Zu Hause“ wieder in Ordnung bringen, und das konnte ich nicht, so lange er noch da war. So war ich nun allein in den großen Zimmern, die plötzlich fremd, dunkeldrohend, tot verlassen erschienen. Überall Cigarrenasche, gebrauchte Teller, Zeitungen. In all der Unordnung schrieb ich den ersten Sehnsuchtsbrief. Die Uhren schlugen, es dämmerte langsam. Auch als die Vögel zu zwitschern begannen, schien mir meine vertraute Umgebung gespensterhaft fremd. Sobald es hell war, machte ich mich auf. Das Herz tat mir bitter weh, als die Türe ins Schloss fiel und doch wurde mir leichter bei jedem Schritt. Der Weg war weit; der übermächtig schwere Rucksack drückte, und ich legte ihn oft auf den Vorsprung einer Mauer, an die ich mich lehnte, um mich auszuruhen, ohne dass ich ihn abnahm. Nach einer guten Stunde war ich auf dem Bahnhof und schlief fast ein in dem Wartesaal, der unfreundlich und vernachlässigt aussah, gerade wie die übrigen Reisenden.

Endlich kam der Zug, wie immer mit starker Verspätung; es war gleich, ich brauchte nicht umzusteigen, mit jedem Kilometer kam ich den Kindern näher. Auf den ausdrücklichen Wunsch meines Mannes, was die Mutter besonders freute, brachte ich ihr einiges von den mitgebrachten Schätzen, vor allem Tee und Butter. Dann kam noch eine ¾ Stunde Samlandbahn. - Station Neukuhren – der salzige Hauch der See – nach wenigen Minuten, die lang schienen durch den ungeduldigen Wunsch auf das Wiedersehen – und ich war wieder bei meinen kleinen Mädchen, packte unter allgemeinem Jubel aus und eilte ins Wasser.

Das wunderbare Wetter hielt an durch den ganzen September bis in den Oktober hinein. Wir badeten nicht mehr oft, waren auch nur selten am Strand. Jetzt hatten wir unser Quartier in den Dünen. Die Kinder fanden es da herrlich, richteten sich Wohnungen ein und spielten „Puppeli“, wobei eines ein 1-jähriges Kind darstellte, das auf der Erde herum kroch und eine groteske Mundart sprach. „Bauernpeipe“ statt „Bauernkleid“, blieb lange im Sprachgebrauch. Wenn Renate „Puppeli“ war, das zum Schlafen hingelegt wurde, schlief sie mehrmals wirklich ein, was wegen des nun so echt wirkenden Spiels freudig festgestellt wurde.

Wenn man in den Dünen, geschützt vor dem frischer wehenden Wind in der Sonne lag, konnte man sich einbilden, dass es noch Sommer war. Die Täuschung schmerzte mich. Ich konnte Lissas vieles Reden vom nächsten Sommer nicht hören. Menschen kehren wieder, Zeiten nicht.

Ich machte nach langer Zeit einen Spaziergang ganz allein für mich. Ebereschen glühten. Unter dem wilden Apfelbaum lagen Unmengen kleiner, frisch duftender Früchte. Wir hatten sie manchmal gesammelt und viel Zucker an das schöne, goldgelbe Apfelmus verschwendet, aber es half nichts, sie blieben die Äpfel der Wiborad32. Die wenigen schmächtigen Birken standen gelb zwischen kleinen Tannen, mein Kleid war von Altweibersommer33 ganz umsponnen.

Das ist der Herbst – der bricht dir noch das Herz -.

1 Sumpfdotterblume

2 Zu den Langendorfern siehe das betr. Kapitel.

3 Nachtigall = Luscinia megarhynchos, Sprosser = Luscinia luscinia, zwei verschiedene Vogelarten

4 Nebenfluss des Pregel

5„ Die Kleine [Brigitte] ist eine Schönheit“

6 muffig

7 Eine der drei Städte im ostpreußischen Landkreis Wehlau

8 Verwalter eines Gutes

9 Festlicher Umzug über die Straßen einer Stadt

10 Im Volksmund bezeichnet man die Kleine Wasserlinse bzw. Wasserlinsengewächse im Allgemeinen auch als Entengrütze, Entengrün oder Entenflott, da sie Enten und Gänsen, aber auch Fischen als willkommene Nahrungsquelle dient. *)

11 Die kleine Mau v.Perbandt

12 Ostseebad in Ostpreußen

13 Im Erdgeschoss

14 Sümpfe in der Slowakei

15 Jahrestag der Schlacht bei Tannenberg, 26. - 30. August 1914. Die russischen Truppen zogen sich aus Ostpreußen zurück, nachdem sie geschlagen worden waren.

16 Heerführer in der Schlacht bei Tannenberg

17 Heerführer in der Schlacht bei Tannenberg

18 Sammlung von Novellen, von Giovanni Boccaccio

19 Sohn des Herzogs von Sachsen-Meiningen

20 Hedwig Courths-Mahler, geb. Mahler (* 18. Februar 1867 in Nebra (Unstrut); † 26. November 1950 in Tegernsee; gebürtig Ernestine Friederike Elisabeth Mahler) war eine deutsche Schriftstellerin. *)

21 Jean Paul (* 21. März 1763 in Wunsiedel; † 14. November 1825 in Bayreuth; eigentlich Johann Paul Friedrich Richter), war ein deutscher Schriftsteller. Die Namensänderung geht auf Jean Pauls große Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau zurück. *)

22 ein Mensch von zarter, sylphenartiger Gestalt. Bis in die erste Hälfte des 20 Jahrhunderts bezeichnete man auch ein zartes und anmutiges Mädchen als Sylphide (nach dem Ballett La Sylphide). Heute ist der Begriff in dieser Bedeutung so gut wie ausgestorben. *)

23„ Kurt“ kommt auch in der Schreibweise „Curt“ vor.

24 Ein Findling, auch Erratischer Block oder Erratiker genannt, ist ein heute meist einzeln liegender sehr großer Stein, der durch Gletscher während der Eiszeiten in seine heutige Lage verdriftet (transportiert und abgelegt) wurde. *)

25 Alte Bezeichnung für den Krämer, Lebensmittelhändler

26 Seebad in Ostpreußen in der Nähe von Königsberg, heute: Selenogradsk *)

27 Romanfigur aus „Buddenbrocks“ von Thomas Mann

28 Ortsteil

29 Agnes Miegel (* 9. März 1879 in Königsberg; † 26. Oktober 1964 in Bad Salzuflen) war eine deutsche Schriftstellerin, Journalistin und bedeutende Balladendichterin. *)

30 Straßenbahn

31 Die Brda (deutsch Brahe) ist ein Fluss im nordwestlichen Polen. Er mündet bei Bromberg in die Weichsel. *)

32 Wiborad, eine fromme Frau („Klosterfrau“) kommt im Märchen (Gebrüder Grimm) „Udalrich und Wendilgart und der ungeborne Burkard“ vor. Sie bietet darin von ihren Äpfeln an: „Ich habe schöne Äpfel, wie sie arme Leute essen"; „... sie schmeckten so herb, daß sie [ihr] den Mund zusammenzogen.“

33 Der Name leitet sich von Spinnfäden her, mit denen junge Baldachinspinnen im Herbst durch die Luft segeln. *)

 


*) Einige der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2007
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Letzte Aktualisierung: 12.01.2008