Ich fand mich zeitig ein in Fräulein Arnheims
"Höherer Mädchenschule". Fräulein Arnheim
hatte diesen Namen gewählt, weil sie nicht die in vielen
Witzblättern gutmütig karikierte "Höhere Tochter"
schwarz auf weiß über ihrer Schulpforte verewigen wollte.
Niemand antwortete, als ich an dem Zimmer mit dem architektonischen
Namen "Oberbau" anklopfte. Ich ging hinein und sah mich um. Frl.
Arnheim war modern. Vor den Fenstern waren Blumenkästen;
auf dem Bücherschrank sah ich "Gedichte von Dehmel",
"Die versunkene Glocke" Rilke
- aber das Klassenbuch auf dem Katheder und vor allem zwei etwas
abgewetzte Schulbänke waren älteste Schultradition.
Wie gerne wäre ich wieder hinaus gegangen! Mittlerweile kamen
4 junge Mädchen, für die ich, dem Stil des Zimmers
angepasst, den etwas verstaubten Namen "Mitschülerinnen"
hervor kramen musste; alle ansehnlicher, größer und
stärker als ich und außer H.R., mit Haaren wie die
Märchenfräulein bei Moritz v. Schwindt. Ich erkannte bald,
dass sie weltanschaulich in Religion und Politikganz verschieden
etikettiert waren, was amüsante Reibungen versprach.
Mathilde Rupp hatte große, kurzsichtige Augen, zwei
armdicke Zöpfe um den Kopf und hinkte leicht, infolge einer
Hüfterkrankung im Kindesalter. Sie war frei-religiös als
Enkelin des Königsberger Pfarrers Rupp,
dem Gründer der frei-religiösen Gemeinde, von dessen
Persönlichkeit die älteren Koenigsberger schwärmten,
selbst Onkel Paul, der streng lutherische Bibelchrist besaß
seine gesammelten Werke. Von ihrer Kusine der Bildhauererin Käthe
Kollwitz beeinflusst rechnete sie sich zur Sozialdemokratie, nicht
zur "königlich reußischen", sondern bewusst zum linken
Flügel.
Regina Tieffenbach, die Tochter des von den Brüdern
her wohlbekannten "Teut" - wie der Vater rötlich blond -
Brauen und Wimpern waren hell, beinahe weiß - mit sehr heller
Haut, die zu ihrem Bedauern nie richtig bräunte, sondern in der
Sonne nur schmerzhafte Blasen zog - Regina war stock
konservativ und mittelalterlich orthodox. "Wer nicht an den
persönlichen Teufel glaubt, der glaubt auch nicht an den
persönlichen Gott", hatte sie in den Konfirmationsstunden des
angebeteten Pfarrers Borgius gelent.
Edith Kafemann kam im letzten Augenblick. Sie zog eine
Schildpattnadel
aus ihren schönen Flechten,
schlitzte einen Brief auf und steckte ihn errötend fort, als der
zur gleichen Zeit mit ihr eingetretene Religionslehrer Koppermann
ihr einen erstaunten Blick zuwarf. Ich betrachtete sie von der Seite.
Nein, wie hübsch sie war! Eine Schneewittchenschönheit! Und
so blumenhaft unbewusst, freilich auch ohne geistig-seelischen
Tiefgang: Nun 17 Jahre, sweet seventeen! Als sie mit der Schule
fertig war, ging sie ohne weitere Ziele und Wünsche in den
Abiturkursus, auch ohne Ehrgeiz, lernte gerne, freilich nur das, was
aufgegeben war, jederzeit bereit, den Kursus zu verlassen, wenn es
sich so fügen sollte, denn an ein weiteres Studium dachte sich
nicht. Sie war so ganz "das junge Mädchen aus guter Familie"
ohne eigene Urteile und Meinungen.
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Edith Kafemann, Elisabeth Lemke,
Margarethe Loepp, Regina Tieffenbach, Mathilde Rupp |
Gertrud Reubekeul war undurchsichtig, sie hinterließ
keine Lücke, als sie nach einem Vierteljahr wegen mangelhafter
Leistungen zu den neu eingerichteten, offiziellen Realgymnasialkursen
hinüber wechselte und ein Jahr nach uns das Examen bestand.
Auf ihrem Platz saß dann Frl. Loepp, die auch einen
dicken Zopf aufzuweisen hatte und die als Methodistin
die Vielfalt unserer Gemeinschaft noch um eine Schattierung mehr
bereicherte.
Ich selber hatte mich in der Pomedier Zeit von jedem
Wortchristentum gelöst, das glaubenslose Leben in Bendiglaucken
aber als tödliche Leere empfunden und gefiel mir nun in
mystisch-pantheistischen
Schwärmereien, die mich nicht restlos befriedigten. Zu gleicher
Zeit zog mich eine schlichte, positive Frömmigkeit ebenso an,
wie der tiefe Ernst in Jens Peter Jacobsens "Atheismus".
Politisch hatte ich mich in gerader Linie aus der im Elternhaus
wurzelnden Tradition weiter entwickelt: Weltbürgertum im
Schillerschen Sinne.
Als ich am ersten Vormittag reichlich ermüdet nach Hause ging
- bis zum Herbst 1908 gab ich ja noch nebenbei Hilde Franck
vollen Unterricht - musste ich doch sagen, dass ich noch nie so
viele gute Stunden hintereinander gehabt hatte. Der Religionslehrer
Koppermann mit bestechend schönem Christuskopf war
liberal; Regina schwärmte trotzdem für seine
anregenden Stunden und trauerte nach seinem Fortgehen, das leider
schon nach einem Jahr erfolgte ebenso verzweifelt in eine
unzugängliche Starrheit versunken wie nach Pfarrer Borgius'
Tod.
"Über die Auferstehung Jesu", sagte er, "gibt es 3
Theorien oder sagen wir Auffassungen: eine wundergläubige, eine
materiell-realistische, eine wissenschaftliche. Ich will Sie nicht
beeinflussen, jeder muss da seinen eigenen Weg gehen".
Klassenlehrerin war Grete Skrodzki. Ihr Einfluss und der
ihrer 3 Schwestern auf Frl. Arnheim war so stark, dass man
von der "Skrodzki'schen" Schule sprach. Sie hießen Liese,
Anna, Grete, Marie. "Mein Vater hat gesagt", erzählte
Grete, "dass wir ja keine hochtrabenden Namen bekommen
sollten. Wir lebten in Masuren und er meinte, wir könnten uns zu
kleinen, unscheinbaren Masurenpferdchen entwickeln, für die dann
irgend ein stolzer Name gar nicht passte". Und nun waren sie so
hübsch, besonders die blonde Grete und die schöne,
dunkle Marie, die Gesangstunden gab. Sie waren modern,
trugen zum Entsetzen konservativer Damen Reformkleider und Sandalen.
Bei ihrer schönen Kopfform konnten sie sich einfache, glatte
Scheitel mit kleinen, griechischen Knoten leisten. Grete war
Oberlehrerin und sie begrüßte mich als "Elisabeth".
Sie kam nicht darauf, dass ich die älteste war, kaum 10 Jahre
jünger als sie selbst. Nun ja, ich fiel nicht auf, wie ich klein
und farblos dastand unter den hochgewachsenen Mädchen, von denen
jede ein ausgesprochener Typus war.
Die Arnheimsche Schule hatte vor anderen Töchterinstituten
einen großen Vorzug, der für unseren Oberbau allerdings
auch einige schwerwiegende Schattenseiten in sich begriff. Diese
Schule sollte man wirklich einmal "bilden", Menschen bilden,
denen wohl für einen Beruf oder ein Examen die nötigen
Kenntnisse übermittelt werden sollten, deren Charakter eine
gerade, sittliche Ausrichtung erfuhr, aber darüber hinaus war
die Hauptsache verstehendes und beglückenderes Eindringen in
Wissenschaft und Kunst, das innigste Erfassen der Menschheitsideale
der größten und edelsten Geister, religiöses und
kosmisches Gefühl - ich glaube, sie hätte uns gerne die
Harmonie der Sphären zu Gehör gebracht.
Wir hatten Spezialisten für alle Fächer. Der
Mathematiker kam von der Oberrealschule. Er erklärte, dass
Mathematik esrt mit dem binomischen Satz beginne, drang ganz unnötig
zu Integral- und Differenzialrechnung vor und war gegen das
Auswendiglernen von Formeln, die man sich besser immer selbst
ableiten und bilden sollte. Er paukte prinzipiell nicht. Der
Lateinlehrer las mit uns Horaz,
was auf dem Real-Gymnasium
gar nicht verlangt wurde, ebenso wenig wie die Geschichte der Antike,
die sich in der kurzen Zeit, die uns zum Examen blieb, so breit
machte, dass für die gerade aufkommenden sozialen Probleme, nach
denen wir dann gefragt wurden, keine Zeit blieb. Beide Lehrer
kamen vom humanistischen
Gymnasium. Für unsere Zwecke vollkommen überflüssig
waren die Gedichtstunden bei Marie Skrodzki. Ach, sie trug
wundervoll vor! Mir ist eine Sehnsucht geblieben nach dieser gerade
beim Deklamieren so musikalischen Stimme. Und es war so selten, dass
wir sie hören durften, eigentlich nur, wenn jemand verbessert
wurde. Ich hätte es halten können wie Frl. Loepp,
die zwar an den Gedichtstunden teilnahm, es aber durchaus ablehnte,
von einer Stunde zur anderen lange Gedichte wie 'Archibald Douglas',
'Gorm Grymme',
usw., auswendig zu lernen, Gedichte, die nur einmal sehr interessant
besprochen wurden und dann nie mehr oder nur am Rande erwähnt
wurden. Nein, eine Presse waren diese Kurse nicht, aber warum
konnten sich alles diese klugen Menschen nicht von der Schulmaschine
trennen! Wir schrieben Probearbeiten mit Zensuren - unter meiner
ersten Lateinarbeit stand die seltsame Note: Noch I, und vor allem
gab es viele Zwischenzensuren durch Sternchen. *I-II war besser als
I-II*, weil der Stern vorn stand. Bei jungen Mädchen, die den
Willen hatten, ihr Ziel zu erreichen waren Zeugnisse ganz unnötig,
besonders für mich. Wer sollte sie lesen und unterschreiben!
Darum war es so lächerlich, dass der Chemielehrer, dem es nicht
recht war, dass plötzlich eine Fremde mit der Klasse mitmachen
wollte, die er schon 2 Jahre unterrichtet hatte, in meinem Zeugnis
bei "Aufmerksamkeit" schrieb: "in den Naturwissenschaften nicht
bewiesen", und fast ebenso lächerlich war Grete Skrodzkis
ganz ernsthafte Mahnung: "Ja, Elisabeth, Sie müssen Herrn
Fritzsche nun eben von dem Gegenteil überzeugen".
Fritzsche nannte uns bald
darauf einige Gebiete, über die wir am nächsten Tag eine
Arbeit schreiben würden; das sollte jetzt regelmäßig
geschehen. Er kannte nur zwei Zensuren: eins und fünf; er sagte
"fenf". Die anderen erzählten, dass er bei einer mündlichen
Prüfung allen hintereinander eine V [fünf] angeschrieben
hatte, bis es zu Edith K., seinem Liebling kam. Auch Edith
konnte seine Frage nicht beantworten. "Nein", sagte der Edle,
"Ihnen, Edith, kann ich keine fenf geben", und um der
Gerechtigkeit willen strich er die anderen Fünfen auch
aus. Ähnlich war es bei dieser Arbeit. Ich lernte
stundenlang, fast die ganze Nacht, denn mir waren die genannten
Gebiete ganz fremd. Es war keine gedankliche, nur eine
mnemotechnische
Leistung; er verlangte ja in erster Linie nur Formeln, und die lernte
ich nun eben. Es war denn auch eine volle, runde I. Von den anderen
Arbeiten schwieg er; Edith hatte die schlechteste, Tilla
Rupp wenigstens eine III. Mir machte er den Vorwurf, ich hätte
beim Schreiben einen "Schummelzettel" benützt und beorderte
mich wie ein Kind zur Prüfung an die Tafel. Er stellte Fragen
aus Gebieten, die wir noch gar nicht durchgenommen hatten, so dass
ich alle Antworten schuldig bleiben musste. Es gelang ihm aber nicht,
mich zu blamieren, da ich mich nach jeder Frage fröhlich zu den
anderen umdrehte: "Wisst Ihr's Kinder?", worauf ein jubelnder
Chor: "Nein" rief. Es war die erste und letzte Klassenarbeit. Wir
ließen uns fortan gegenseitig in Ruhe. Ich machte mich
selbständig, und da bei ihm nicht viel zu holen war, lernte ich
aus Büchern, was so gerade zu einer 3 reichen würde.
Ich machte mir allerdings kein Gewissen daraus, die
langweiligen Nachmittagsstunden, die er uns gab, unauffällig zu
kürzen, indem ich der Schulfrau die Weisung gab, 5 Minuten
früher als sonst zu klingeln. Es glückte ein paar Mal, denn
bis Fritzsche vergleichend seine Uhr hervor zog, hatten
schon unsere Sachen zusammen gerafft und ließen uns im
Hinausgehen nicht mehr zurückrufen. Nun gaben einmal Edith
und Regina, die nacheinander kamen, der Frau die gleiche
Weisung, 5 Minuten früher zu klingeln; ich war schon vorher mit
dem selben Auftrag an ihr vorbei gekommen, und der Erfolg war, dass
sie die jeweiligen 5 Minuten addierte und ¼ Stunde vor Schluss
läutete. Da legte Professor Fritzsche, ohne die Sache
richtig zu durchschauen, ein energisches Veto ein. Schade!
Die erste Zeit im Kursus wurde mir sehr
schwer. Ich war immer noch sehr ungern in die Schule gegangen, obwohl
ich gern lernte, und dieser "Oberbau" war eben doch eine zweite
Schule. Dann aber blühten bald wundervolle Freundschaften auf,
und ich hatte manchmal das Gefühl, ein geliebtes und sehr
verwöhntes - nun - sagen wir Gemeindekind zu sein, denn die
"Mitschülerinnen" teilten mich untereinander auf, so dass
ich oft von ihnen erst erfuhr, wo ich die einzelnen Freizeiten und
Sonntage verbringen würde. Fräulein Loepp, so
ungeheuer gediegen, dass sie ein wenig schwerfällig wirkte,
stand mehr außerhalb, aber wir lernten manchmal zusammen, und
ihre prächtige Tante, bei der sie in Pension war, bewirtete uns
mit Kakao und erlesenen belegten Broten.
So viel ich nun auch mit meinen neuen
Freunden zusammen war, Mieze Heumann und Pomedien
durften nicht zu kurz kommen.
Mieze hatte sich entlobt. Man erzählte sich in
Königsberg, Dr. Strauch hätte vor der Hochzeit
noch eine Italien-Abschiedsreise mit seinem bisherigen Verhältnis
gemacht. Ich weiß nicht, ob das nur Klatsch war; ich habe sie
nicht gefragt. Sie holte mich aus der Nachmittagsstunde´ab, und
ich wanderte ohne Ziel stundenlang mit ihr durch Königsbergs
enge und an dem Tag regenfeuchte, schlecht beleuchtete Straßen,
und ich hatte doch so wnig Zeit, war müde und hungrig, aber ich
habe sie niemals, nicht vor- und nicht nachher so fassungslos
gesehen. Bei Mieze war ich in den beiden Königsberger
Wintern manchmal zum Wochenende. Es begann um 4 Uhr mit Mesolata in
ihrem Atelier. Mesolata war eine Reiseerinnerung, als ich mit ihr
nach Dresden fuhr und etwas übernächtigt Kaffee als zu herb
und Chokolade als zu süß ablehnte. Da schlug sie mir
Mesolata vor, das italienische Getränk, beides gemischt. Es
hatte mir gefallen und gehörte dann zu unseren Sonnabenden.
Neben meiner Tasse lag immer eine kleine, für mich
unerschwingliche Überraschung: ein Kopenhagener Entchen, die
Sprüche Omars des Zeltmachers
in einer besonders hübschen Ausgabe, ein Füllfederhalter,
Süßigkeiten. Nach dem Abendessen - "Heute gibt's für
Lieschen Apfelflinsen", rief Herr Heumann gut gelaunt - es wurde
immer Rücksicht auf meine Lieblingsspeisen genommen - nach dem
Abendessen fuhren wir häufig - lautlos auf Gummirädern,
man hörte nur das liebe, taktmäßige Aufschlagen der
Hufe - ins Theater. Wir brauchten nicht in der Garderobe abzulegen.
Heumanns hatten für den ganzen Winter ihre Proszeniumsloge
mit 4 Sitzen, in einem Wandschränkchen waren Operngucker und
Konfitüren. Was wir sahen, war natürlich etwas wahllos
zusammengewürfelt, da ich nur am Sonnabend Zeit hatte. Sehr
hübsch waren Benefizvorstellungen, wenn die Publikumslieblinge,
Julie Lerda Carlsen mit Blumen überschüttet und immer
wieder vorgerufen wurden, oder wenn an Festtagen die heitere Stimmung
sich von der Bühne bis hinter die Kulissen fortpflanzte, wo wir
von unserer Seitenloge aus die tanzenden Paare beobachten konnten.
Der Sonntag war still und ausruhsam mit gutem Essen und langem
Nachmittagsschlaf.
Mieze hatte eine sehr schöne Bücherei und kosbare
Kunstblätter. Sie zeigte mir die Skizzen, die sie zu
Illustrationen für ein Buch entworfen hatte, und dann ging ich
frühzeitig aus dem schönen, alten Haus mit dem Garten, der
zum Pregel
hinabführte, als Aschenbrödel in das Hinterhaus in der
Mozartstr., Aschenbrödel im wahren Sinn des Wortes, denn Mieze
hatte mir bei der "Luck" das schönste Abendkleid machen
lassen, das ich je besaß, weil ich aus leicht durchschaubaren
Gründen die Gesellschaften nicht besuchen wollte.
Als das Examen näher rückte, hörte meine
anfängliche Zurückhaltung immer mehr auf. Ich hatte mein
Ziel nun bald erreicht, ich würde irgend wie das Studium möglich
machen und nicht mehr das Gefühl einer nutzlos vertanen Jugend
haben. Auf unseren Reisen schrieb Mieze Heumann schon gerne bei
Besichtigungen neben meinen Namen stud.phil. Ins Fremdenbuch. Es war
reizend, wie sehr sie sich als Mäzen fühlte.
Der Glanz der alma mater
ging auch in der Langendorfer Gegend wie eine Sonne über mir
auf. Wer hatte dort schon Abitur gemacht! Vor grauen Jahren der
Landrat von Perbandt, der als alter Junggeselle mit einer
Wirtschafterin hauste und mit Wissenschaften nicht mehr viel zu tun
hatte. Willy zeigte mir einmal eine Fotografie: "Das ist der
Landchen mit seiner Tulpe." Die "Tulpe" war ein kleines
Mädchen, das auf seinem Schoß saß. "Ist sie das
Töchterchen seiner Wirtin?" "Aber sicher", lachte Willy.
Ich verstand die Zusammenhänge damals nicht ganz. Na ja.
Ich war viel in Pomendien im letzten Sommer, meistens per Rad
zusammen mit dem bildhübschen Werner Thaer, einem Neffen von
Frau von Perbandt. Dodo Volkmann, die Tochter des Chemieprofessors
war seine gute Freundin, aber wie oft junge Menschen, schwärmte
er für ältere Menschen, und in diesem Sommer für mich
die 7 Jahre ältere. Ich verstand seine Stimmungen, denn ich
kannte das alles ja so gut, die grundlosen Seligkeiten, die
Melancholie der Entsagung, der Schmerz um Verlorenes, das man nie
besessen, das gekränkte Sichzurückziehen, in der sicheren
Erwartung doch gerufen zu werden, den nur um der nachfolgenden
Versöhnung willen vom Zaun gebrochenen Streit. Und dazu Reginas
kritiklos-schwärmerische Freundschaft. Das alles würde
nicht dauern. Auf Werner wartete Dodo in ihrer stillen Treue. Regina,
die jetzt mit dem heimlich eroberten Wohnungsschlüssel mir
morgens um 6 Uhr einen phantastischen Geburtstagstisch gerüstet
hatte, ohne dass ich bis zum letzten Augenblick etwas davon bemerkte,
würde mir wohl später noch eine freundliche Karte zum 17.9.
schicken und ihn dann ganz vergessen. Aber in diesen romantisch
überglänzten Sommer meiner zweiten Schulzeit, diesen
letzten Sommer meiner Jugend, meiner ganz persönlichen, nur mir
gehörenden Jugend, da passte das alles zusammen: das Waldfeuer
in Pomedien, die Kahnfahrten auf dem Pregel bei Mondschein und ein
grün-braunes Regenmärchen in Löwenhagen
bei Tillas Bekannten, freundlichen, alten Damen, die mich in einer
zwanglos-selbstverständlichen Weise aufnahmen.
Ich sah hier auch nur einmal Tillas liebste Freundin Frl. Rose.
Später hörte ich von ihrem frühen Tod an Tuberkulose.
Sie war damals schon leidend, aber "Nun geht es ihr so gut hier,
sie ist ganz gesund", sagte Tilla. Die fremden Menschen, der fremde
Ort, das Losgelöste von den alltäglichen Bindungen machte
alles so unwirklich hinter den Regenschleiern. Es war ein so
freundlicher Regen! Er rieselte warm und sanft auf die Blätter
als wollte er sie nur waschen und erfrischen, das dichte Laubdach
schützte uns wie ein großer, grüner Familienschirm
und überall leuchteten die Erdbeeren. Wir trugen ein paar Mal
volle Eimerchen nach Hause. Wir füllten Schalen, Körbe und
Töpfchen und vergaßen daneben auch die Blaubeeren nicht.
Von dem wohlschmeckenden Nachtisch gaben mir die alten Damen das
Rezept: Kochend heiße Blaubeeren auf entrindetes Weißbrot
gießen; dazu Vanillensoße. - Es schmeckte sehr gut; ich
muß es doch einmal ausprobieren.
Auf einem Schreibtisch erinnerte mich das aufgeschlagene
Physikbuch an das nahe Ende der Sommerferien. "Lernst Du viel
Tilla?" "Die Beeren lassen mich nicht dazu kommen. Ich verliere
viel Zeit mit dem zweiten Band von Wilhelm Meister.
Schon den ersten finde ich streckenweise sehr öde; ich
sympathisiere mit der Braut, die bei den Erzählungen von seinem
Theaterpuppenspiel einschläft, aber noch schlimmer ists im 2.
Band mit dem verschlossenen Kästchen; der Schlüssel wird
gesucht, man sieht eine Abbildung desselben, aber der Inhalt wird
nicht bekannt gegeben. Sind es alles Symbole? Ich liebe die Bücher
nicht, zu denen man in jedem Fall ein Commentar braucht."
Nach den Sommerferien war das Lernen besonders schön. Die
Schrecken der Mathematik waren verschwunden, da wir es abgeschlossen
hatten. Es war lustig, wie sich je nach der Stellung von Blickpunkt
und Augenpunkt, die Linien von Grundriss und Aufriss kreuzten und
immer verschiedene perspektivische Bilder entstanden. Dr. Jahnke ließ
uns die Abenteuer im Reich der Zahl miterleben: die Entdeckung der
Brüche, das sich immer weiter ausdehnende Feld von Abscisse und
Ordinate, das Geheimnis der imaginären Zahl, die bei kubischen
Gleichungen, gleichsam unerkannt mitspielend, bei den Wurzeln wie
eine Überraschung positive Ergebnisse hatte. Wir dachten wenig
an materielle Dinge, an Essen und Kleidung, wir sprachen nicht von
Politik und Wirtschaft, wir sahen nur oberflächlich die reale
Welt um uns, während wir in der Tiefe die aus Gedichten
geborenen Erschzütterungen als eigenste Erfahrung schmerzlich
erlebten. Uns wie Kinder an den Händen fassend gingen wir der
Zukunft entgegen, die von Frühnebeln verschleiert als blühende
Weite vor uns lag und flochten uns aus Sehnsucht, Traum und
Schwärmerei Sternenkränze der Romantik. Auch Frl. Loepp,
die schwerfälliger und Edith, die nüchterner dachte, waren
ganz eins mit uns in einer, alle Examensängste überstrahlenden
Heiterkeit.
Von der Familie sah ich nicht viel. Georg, mit dem ich zuerst sehr
eng zusammen gelebt hatte, hatte sich mit seinem Tippfräulein
Elise Plehn verlobt. Sie war nun bei Verwandten in Berlin. Sie war
eine hübsche Erscheinung und hatte eine kleine süße
Stimme, aber das war auch alles. Ich wäre gerne fortgegangen,
denn sie wollten bald heiraten, aber Georg bat mich so sehr, zu
bleiben, wenigstens zunächst. Zu den Geschwistern in Rastenburg
[Bock], bei denen die Mutter im Schülerheim wohnte, fuhr ich
nur, wenn es sein musste. Diese Fremdheit, Georgs unerwünschte
Heirat, Tinys Besuche mit ihren Bedrückungen kamen aber wenig an
mich heran. Ich war so mit meinen Freundinnen verwachsen, dass ich
Regina mehrmals nach Pomedien mitnahm, auch einmal nach Rastenburg.
Die Herbstferien kamen. Ich saß viel mit Mieze
Heumann im Atelier und zitierte Nietzsche:
"Das ist der Herbst - Der bricht dir noch das
Herz."
Mieze lachte: "Ich meine, wir sollten eine Wanderung
machen." "Wohin?" "In 6 Tagen über die Nehrung".
"Ich kann nicht, Mieze, wirklich nicht. Ich habe es Tiny ganz fest
versprochen, in den Herbstferien für sie da zu sein." "Ich
lade sie mit ein. Du brauchst für nichts zu sorgen; ich nehme
Proviant mit". "Vielen Dank!"
So kam es zu einer wunderbaren Herbstwanderung. Tiny lief sich
schon am 2. Tag den Fuß wund. Mieze mietete einen kleinen
Einspänner
für sie. Mir war es nicht unlieb, dass ich mit Mieze allein
wandern konnte. Wir trafen uns dann am späten Nachmittag in den
sehr einfachen Gasthäusern. "Was suchst Du nur immer im
Gästebuch?" fragte Mieze, ohne eine richtige Antwort zu
bekommen. Ich wusste, dass Jankowsky in seiner Studienzeit mit einem
Freund die selbe Strecke gewandert war, und wo ich die Eintragung
fand "R. Jankowsky stud.phil. und Kalina stud.vet. schrieb ich mit
ganz kleiner Schrift aber sehr deutlich "E. Lemke; gelesen"
daneben. Er wird die Tour noch einmal machen, vielleicht als alter
Mann, träumte ich vor mich hin, er wird in Gedanken an seine
Jugend seinen Namen in dem vergilbten Buch suchen, und er wird meinen
Namen neben seinem finden. Er wird dann wissen, dass ich an ihn
gedacht habe - er wird fühlen, wie teuer er mir war -
vielleicht sehen wir uns noch einmal - vielleicht - das Essen
kam, immer das selbe ob in Sarkau oder in Pillkoppen: Fische, die ich
doch nicht mag. In Schwarzort trafen wir Grete Skrozki. Wir waren
schon auf dem Dampfer, um nach Memel zu fahren; Grete, vergnügt
und impulsiv lief im Gespräch mit uns auf dem Landungssteg neben
dem langsam anfahrenden Dampfer her und wäre als
"Guck-in-die-Luft" bestimmt ins Wasser gefallen, wenn die
Hippchen sie nicht im letzten Augenblick festgehalten hätte. Ich
hatte mich schon so völlig in ein Schulmädchen-Millieu
eingelebt, dass mir diese private Begegnung mit Lehrerinnen
interessant war.
In Königsberg erwartete mich schon Regina. Sie wollte mich am
nächsten Tag abholen zu einer Tour nach Groß Kuhren. "Wir
haben ja noch 8 Tage frei; meine Eltern haben eine kleine Wohnung
gemietet, auch ein Zimmerchen für Dich". Es war ein
wunderbarer, ein echt ostpreußischer Herbst, dessen
Mittagswärme besonders in den Dünen von betrügerischer
Eindringlichkeit war. "Es ist zu traurig, Regina", sagte ich nach
einem langen Schweigen, "der Sommer ist vorbei, dieser Sommer im
"Oberbau" und damit unsere Gemeinsamkeit". "Vorbei", rief
sie empört, "jetzt beginnt es doch erst, jetzt kommt das
Schöne, das Studium, die Freiheit vom Zwang; wie werden wir alle
das genießen, gemeinsam genießen, auch bei zeitweiliger
Trennung". Ich sah Regina an, indem ich liebevoll ein wenig
retuschierte.
Sie passte gut hierher auf die Steine am Strand mit ihrem rotblonden,
langen Haar, den grünlichen Augen, die dann wieder wie
braungoldener Bernstein schimmern konnten. Sie war nur eben jünger
als ich, erst 19 Jahre alt und hatte noch nicht erlebt, dass von den
schönen Erinnerungen dem "Weißt Du noch?" eine
Freundschaft leben kann. Ich wollte da nichts zerstören. "So,
nun pass auf", sagte ich, "jetzt werde ich Dir den Vers sagen,
den ich in Nidden ins Gästebuch schrieb; ich werde zu dem Stein
weiter draußen balancieren; er ist schön flach und breit,
da kann ich gut stehen, denn nach der 6. Reihe muss ich die Arme weit
ausbreiten, gleichsam auffliegen, ach, mich auflösen, und da
habe ich keine Lust, meine Begeisterung in 8° Wasserwärme
einzubüßen". Ich hatte den Stein erreicht. So ganz
glücklich kann man doch eigentlich nur an der See sein, dachte
ich und begann meinen Vers:
"Im Rucksack trag ich Speck und Brot, Zur
Nehrung zieht's mich hin; Daß ich Examen machen muss Schlag
ich mir aus dem Sinn. Jetzt werf ich fort den Tacitus, Dem
Livius hinterher!
Jetzt bin ich nichts als Sand und Wind Und Haff
und blaues Meer!"
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