Spaziergänge

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Spaziergänge sind etwas anderes als Wanderungen; ich schwärmte für Wanderungen und hasste Spaziergänge. Als ganz kleines Mädchen an Amalies Hand, das war etwas anderes. Sie folgte meinen Wünschen. Wir gingen zum Volksgarten, vorbei an dem trübseligen, roten Backsteinbau der Anatomie, an dem kleinen Fleischerladen, über dem geschrieben stand:

Ochsen, Kälber, Schaf und Schweine -
Haben Knochen und Gebeine.
Darum muß beim Fleischverwiegen
Jeder ein paar Knochen kriegen.

Dorthin gingen wir nur im Frühling, wenn das erste Grün sproß, die Vögel sangen und überall kleine Wässerchen und Quellchen sprudelten. Im Sommer war es dort nicht schön, aus dem Fleischerladen, aus einer kleinen Schnapsbude und vom Rinnstein her kam eine unerträglich dicke Luft. Es gab ja um 1890 herum keine Kanalisation; die Tore waren noch nicht gefallen, und wie im Mittelalter drängten die Häuser sich immer enger aneinander, und immer mehr öffentliche Anlagen wie Bäume um die Hauptpost, der tief gelegene Garten der “Loreck’schen Höheren Töchterschule”, auf dessen aufgefülltem Gelände die Prinzenstraße gebaut wurde, machten Häusern Platz. Um einen freien Blick und frische Luft zu haben, mußte man schon weiter gehen vor das Tor nach Luisenwahl. Luisenwahl hatte seinen Namen von der Königin Luise, die sich gerne in dem Park, der an das bescheidene Häuschen, in dem sie während des Koenigsberger Exils wohnte, grenzte. Es war demnach historischer Boden, ein großer Vorzug in den Augen der Mama, die von den schwäbischen Burgen erzählte, dem einsam-melancholischen Gebirgskegel, wo einst das Schloß der Hohenstaufen stand, dem schön renovierten, mit Zinnen und Türmchen geschmückten Hohenzollern und dem durch Hauff freundlich verklärten Lichtenstein.
“Wenn ich gefragt wurde, wie mein Bräutigam heißt,” fügte sie dann gerne hinzu, “sagte ich Georg, Georg und Marie, wie im ‘Lichtenstein’. Nach Schwaben möchte ich gern mit Euch fahren, wenn ihr groß seid, da ist jeder Fußbreit historischer Boden.”
Nach dem Kindermädchen ging die Kindergärtnerin mit uns spazieren und dann die Privatlehrerin Fräulein Anna Wermke. Sie machte uns das Leben nicht schwer. Wenn ich sagte, ich wollte lieber zu Hause bleiben, um Stammbilder in mein Album zu kleben, griff ich in Wirklichkeit doch bald wieder zu einem Buch. - ließ sie mich gewähren, und wenn ich mitging, trug sie meinen Wünschen Rechnung, ging hinauf zum Schloß oder noch lieber den Landgraben entlang zum Fürsten- und Philippsteich und erzählte vom Ritterorden, dem wir die Anlage des Landgrabens verdankten und ein weniges auch von den Pflanzen, die wir ihr zeigten - Pechnelken und Labkraut, das im Volksmund “Unserer lieben Frau Bettstroh” hieß und das durchlöcherte Johanniskraut, dessen lateinischer Name Hypericum perforatum uns nichts sagte; aber “Feen Wundkraut” behielten wir, wenn wir beobachteten, wie die gelben Blüten und Knospen beim Zerreiben die Finger rot färbten. Wenn später die gute Mademoiselle Louisa Francois mit uns Spaziergänge machen wollte - wir sollten auf den Wunsch der Eltern möglichst wenig allein ausgehen - war es noch einfacher.
Ich war nun 13 Jahre alt und fühlte mich selbständig und überließ sie Ottilie, die so gerne sittsam mit ihr ging und ängstlich vermied, was von der vorgeschriebenen Hausordnung abwich. Ich unternahm lieber Streifzüge mit Dora auf den von Arbeitern verlassenen Neubauten und in der Schlucht bei den Bürgergärten, die dann zu unserem Kummer dem Tiergarten einverleibt wurde. Auf einen Neubau nahmen wir an einem Sonntag Nachmittag auch Rose mit, die aber keine rechte Freude daran hatte. Es ist mir heute rätselhaft, wie wir es fertigbrachten, 3 Stock hoch auf den Querbalken bis zum anderen Ende und zurück zu gehen und ohne Schwindel bis in den Keller hinunter zu sehen. Jetzt verstehe ich wohl die Angst der armen Mademoiselle, wenn ich im Dämmern noch nicht zu Hause war. Sie fühlte sich wohl verantwortlich, seitdem die Mama den Haushalt wie immer tadellos organisierte, aber in erster Linie nur mit der Pflege des Vaters beschäftigt war, den ich seit meinem 10. Jahr nur leidend kannte. Mademoiselle verließ uns im Herbst 96 besonders von Ottilie schmerzlich vermißt, die sie zweimal in Brüssel besuchte. Wir hätten sie gerne noch behalten, aber ihr war eine staatliche Anstellung angeboten worden, die sie nicht ausschlagen durfte.
Vor Spaziergängen mit Miss Carmichael, einer auffallend hübschen und auffallend langweilig-kalten Engländerin konnte ich mich leider nicht drücken; sie war zu Spaziergängen mit uns, auf denen nur englisch gesprochen werden sollte, ausdrücklich gegen Bezahlung verpflichtet. Marie, die aus Amerika zurückgekehrt war, unterhielt sich eifrig; wenn es sich ums Lernen handelte, war sie immer mit ganzer Seele dabei. Tilchen ging ziemlich still daneben in einem netten, offiziellen Kostüm, vollständig glücklich im Gefühl der Tatsache, mit einer extra für sie engagierten Engländerin als Großkaufmannstochter spazieren zu gehen. In Ermangelung auch der geringsten Gelegenheit zu einer kleinen Entdeckungsreise und sei’s nur ein unbekannter Seitenweg, ein verlassenes Gartenhäuschen, ein blühendes oder geflügeltes Etwas, das ich aufspürte, ging ich über die kleine Brücke, die zum dauernd rinnenden Luisenbrunnen führte, trank ein paar Schlückchen von dem eisenhaltigen Wasser und ging nun wenigstens von Miss Carmichael getrennt auf der anderen Seite des Baches. Diese zahme Eskapade trug mir immerhin die Kritik ein: “Elisabeth is a tom-boy.”
Nach der Rückkehr wurde zu Hause gemütlich Tee getrunken. Marie bestritt wieder die Unterhaltung. Miss Carmichael sprach wenig und lang gedehnt und vertilgte in ungeheuren Mengen langsam aber stetig eine überaus köstliche, nach Tante Gretchens Rezept von Mieze bereitete Marmelade aus teilweise ganzen Früchten von Pflaumen und Birnen, durch Kaneelstangen gewürzt. Ehe Miss Carmichael zu meiner großen Erleichterung nach England zurückkehrte, hatte sie uns drei Schwestern noch einmal zu sich geladen, in ein schmales, reizloses Zimmer im Hinterhaus, von dem aus man weder Bäume noch Sterne sah. Auf einer kleinen Schüssel lagen ein paar Keks uns Bonbons. Von den Leuten, bei denen sie gegen englische Stunden Kost und Logis frei hatte - ich glaube, sie hießen Retzlaff - Frieda R. war ein sehr hübsches Mädchen, das ich einmal in Neuhäuser traf, - von diesen Leuten sah man nichts. Es war im ganzen Haus frostig still, und selbst Maries Art wirkte manchmal gewollt und konnte leicht zartere Stimmungen eines Gesprächs übertönen oder verderben; das störte mich, aber bei diesem Zusammensein wäre ich über jede Unterbrechung der sich hinschleppenden Unterhaltung froh gewesen. Ich sehe sie dann noch einmal wie ein Bild vor mir bei ihrem Abschiedsbesuch. Sie trug ein zart in sich gemustertes, hellgraues Schneiderkostüm, taylor-made, sagte man offiziell und zu dem kleinen Hut einen halblangen, leuchtend roten Schleier, unter dem das goldblonde Haar schimmerte. Ich sagte schnell adieu und beeilte mich zu der Lektüre der “Bride of Lammermoor” zurückzueilen, bei der ich gerade unterbrochen war. Lucy Ashtons Liebesleid um Lord Ravenswood interessierte mich mehr als Miss Carmichaels Abschied.
Die Spaziergänge mit englischer Konversation sollten aber fortgesetzt werden, und dazu war Mrs. Shalders - klein, rund und freundlich - ausersehen. Es war aber Spätherbst, und das Wetter sehr unfreundlich. Außerdem wollten Ali und George, die häufig mit Engländern zu tun hatten, teilnehmen. So fielen zu meiner Freude die Spaziergänge fort. Mrs. Shalders kam zweimal wöchentlich von 8 - 10 Uhr abends zu Tee und belegten Brötchen; zum Schluß gab es eine Speise oder Obst und dazwischen lasen wir ‘Julius Caesar’. Besonders glücklich war diese Lektüre nicht gewählt, aber es war doch lustig, weil Ali bei der Verteilung der Rollen besonders gern mit viel Stimmaufwand die empörten oder anfeuernden Rufe der Menge übernahm, während George unter unseren bewundernden Blicken mit weitausholenden Handbewegungen und angenehmem Organ “Friends, Romans, Countrymen ...” vortrug. Mrs. Shalders gab auch ein paar Stunden in unserer Schule. Ich liebte gar nicht eine Verquickung von Haus und Schule, was sich nun leider nicht ändern ließ. Sie machte es nicht sehr geschickt, während die meisten unter dem Tisch lasen oder Schularbeiten machten. Wenn sie uns keine große Literatur zum Auswendiglernen geben wollte, wären die Nursery Rhymes mit ihrem einzigartigen Humor, den interessanten historischen Quellen, auf die viele zurückzuführen waren und ihren oft bezaubernden Melodien ein fesselndes, ganz neues Gefühl für uns gewesen. Statt dessen wählte sie kleine, langweilige Gedichtchen, die wir auswendig lernen sollten. Es war dieselbe Fabel wie die von La Fontaine, wenn auch nicht mit solch einem praktisch-höhnischen Schluß, vielleicht weil diese aufregende Geschichte von Biene und Grashüpfer zur Sommerszeit spielt:

A bramble bee, yellow as gold
Sat perched on a red clover top,
When a grass-hopper, wiry and old,
Came near with a skip and a hop.

Ihre Stunden hatten keine Bedeutung für die Zeugnisse, sie wurden mehr als Spaß von uns aufgefaßt, und die meisten lernten nur den letzten Vers. Als Anna Eichler als erste gefragt wurde, sagte sie kühn und wahrheitsgemäß: “I’ve only learnt the philosophy of the grasshopper:

There’s a time to be glad
And a time to be sad
And a time both for working and stopping
For man to make money,
For you to make honey,
And for me to do nothing but hopping.

Die anderen folgten Annas Beispiel, und Rose und ich, die pflichtgemäß das ganze gelernt hatten - durften aus Corpsgeist natürlich auch nur “the philosophy” zum besten geben. - Eines Tages sprach Mrs. Shalders von “going to the station and the hope of a soft crossing” und war fort, ohne daß wir sie in der Schule oder zu Hause vermißt hätten, aber sie war entschieden sehr nett.

 

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2006
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Letzte Aktualisierung: 17.09.2007