Winter 1916/17. Bromberg

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Hat es jemals einen so furchtbaren Winter gegeben wie den Kohlrübenwinter 1917? Ach, sicher haben Generationen vor uns noch schwerer gelitten als wir damals, aber das Deutschland nach 1871 war viel mehr als nur verwöhnt, es war sicher! Sicher in seiner Weltstellung, in seiner Lebensführung. Es war tatsächlich groß, es fühlte sich nicht nur so, und es ging zu Grunde durch die Kurzsichtigkeit seiner Führung. Auch damals gab es Arme und Reiche, aber jedem boten sich Möglichkeiten nach seinen Gaben und seinem Fleiß, jeder konnte auf eine Altersversorgung rechnen. Und nun, aus solcher Sicherheit heraus gerissen, fasste man zunächst nicht einmal das Aufhören der selbstverständlich gewordenen, kleinen Alltäglichkeiten.

Urte hatte sich ein Milchzähnchen ziehen lassen [müssen] und sollte sich nun zur Belohnung ein Schokoladentäfelchen holen. Sie kam zurück??! Es gab keins und würde in absehbarer Zeit auch keines geben.
Wie war das möglich? Es hatte doch immer Schokolade gegeben, und ebenso wars mit der Butter. Ich lief von einem Geschäft zum anderen ... "Sie werden in ganz Bromberg heute keine Butter bekommen." Ein Abendessen, ein Morgenfrühstück ohne Butter, ohne die Möglichkeit, sie wenn nötig, zu beschaffen. Am nächsten Tag bekam ich Butter in der Meierei und dann wieder tagelang nicht; aber auf dem Markt kannte ich eine Butterfrau. Landbutter war immer noch besser als gar keine. Ich ging um 7 Uhr hin; die Frau stand schon dort und gab mir 2 Pfund aus ihrem Korb; das war ja ganz einfach. Das nächste Mal sah ich mich vergeblich nach meiner Butterfrau um. Andere Hausfrauen kamen mit Butterpaketen; sie waren der Landfrau weit entgegen gegangen und hatten alles aufgekauft, so dass sie gar nicht erst zu ihrem Stand zu kommen brauchte. Dann fuhren Leute per Rad ins Dorf - man kam nicht mehr mit bei dem Wettlauf. So gings mit allem.

Das Kartensystem1 wurde immer umfangreicher, 1917 war die Hungersnot da. Nur Steckrüben gab es reichlich. Mein Mann hatte Eintopf von Schweinefleisch mit Wruken oder Bratklops mit gestovten2 Wruken3 sehr gerne gegessen. Er wunderte sich, dass ich über die vielen Steckrüben klagte; er meinte, man dürfe ins Feld überhaupt keine Klagen schreiben. Nach schweren Zeiten im Westen und vor allem im Osten in den Rokitnosümpfen4, befehligte er jetzt eine ganze Autokolonne, und wenn das Klima unangenehm war, ging er auf Jagd in die Berge, sobald der Dienst ihm etwas Zeit ließ. Er kam nur einmal jährlich auf Urlaub und hatte keine Ahnung, wie wir lebten.

Den Morgen fingen wir mit einem abscheulich bitteren Ersatzkaffee an. Das war kein kleinbürgerlicher, aber ehrlicher Kathreiner5, nicht einmal Eichelkaffee, den Frau v.Perbandt als Sparmaßnahme vergeblich ausprobierte und vorschlug. Nein, Rübenschnitzel, vermischt mit irgend welchem Unkraut. Dazu saures, durch nicht erkennbare Zusätze verfälschtes Brot und rotgefärbte Rübenmarmelade6.

Die Soldaten, deren Kost zuerst viel besser gewesen war als die der armen Zivilisten, sahen jetzt auch kaum etwas anderes auf ihrem Brot. "Marmelade, Marmelade, ist der schönste Fraß im ganzen Staate", sangen sie und der Witz: "Nun noch 1 Pfund Apfelkerne in die Schmiere, damit die Leute eine Freude haben;" sprach Bände.

Mittags zählten wir die wenigen Kartoffeln. Vielleicht machten wir dazu als Karbonade7 gebratene, vorher weich gekochte Steckrübenscheiben, ein Rezept, das in der Zeitung gestanden hatte. Es war mal etwas anderes und schmeckte nicht schlecht, aber die eben abgeholte Fettzuteilung war so zusammen geschmolzen, dass man dieses Menü nicht so bald wiederholen durfte. So wurde denn das zähe Rindfleisch gekocht und wieder Rüben in die magere Brühe geschnitten; Kartoffeln wurden nicht mitgekocht, um zu sparen, sondern nur 2 gerieben hinzugetan, um das Gericht ohne Mehl einzudicken.

Am Sonntag gab es dann das ausgekochte Fleisch in ein wenig Fett geröstet, einige Löffel graues Mehl und Magermilch mit einem Schuss Essig schufen die Sahnesoße, gebräunt durch eine Flüssigkeit, die man in großen Flaschen kaufen konnte.

Neben dieser Flasche stand eine andere mit einem Ersatztee, dem man nachrühmte, dass er wie schwarzer Tee schmeckte. Ich hatte einmal die Flaschen verwechselt, und wir hatten die Bratenbräune getrunken, ohne einen Unterschied zu bemerken. Als es dann abends Bratkartoffeln gab - nur wenige in der Pfanne ohne Fett erhitzt und mit Ersatzkaffeegrund gebräunt und Rübenmarmelade dazu, da entschloss ich mich, den Pferdefleischer an der Ecke der Thorner-Straße aufzusuchen. Er hatte ja schon in Friedenszeiten "fettes Fohlenfleisch" annonciert.

Wer kaufte denn dort? Ich war immer schnell und scheu vorbei gegangen. Allein das dunkle, trübselige Äußere war nicht zu vergleichen mit der fliesengelegten, nickel-gläsern-strahlenden Sauberkeit der appetitlichen Läden in der Hauptstraße. Jetzt glaubte man in seinem durch Hunger ausgehöhlten Sinn gerne, dass Pferdefleisch eine Lieblingsspeise der alten Germanen gewesen und ihnen der Genuss durch die Priester verboten worden war. Ich kam mit einem zarten Filet nach Hause. Welche Hilfe! Ach, auch dieser Fall wurde bald schwierig. Immer mehr Leute kamen auf den Ausweg, bei Pferdefleisch sich der alten Germanen zu erinnern und lange ehe die Tür geöffnet wurde, gab es ein lebensgefährliches Gedränge, bei dem einmal einer Frau die Rippen eingedrückt wurden. Ohnmachtsanfälle waren an der Tagesordnung.

Geschätzte Kunden bekamen einen unauffälligen Wink, außerhalb der offiziellen Ladenzeit hinten herum in die Küche zu kommen. Da standen nun die Bevorzugten eng zusammen und sahen durch das kleine, trübe Fenster auf den trostlos kahlen Hof. Die Frau Meister war ins Bad8 zur Erholung gefahren. Sie ließ, wie ihr Mann uns bestellte, "die verehrte Kundschaft sehr herzlich grüßen".

Es war andauernd eisig kalt durch den Nordost[wind], der trockenen Staub aufwirbelte, der in alle Ritzen drang. Der Himmel gleichmäßig sonnenlos grau, eine lastende, bleierne Decke, keine weichen Daunenkissen, die sanft niederfallende Flocken versprachen. In Wunschträumen sah man in der Sonne glitzernden Rauhreif, dachte an klare Winterluft und sprach von einst gemütlich warmen Zimmern und kräftig duftenden, dampfenden Kochtöpfen. Wer wenigstens ein Zimmer heizen konnte, war froh. Das Essen aus der Gemeinschaftsküche wurde immer schlichter. In der Mittelstandsküche gab es zwei Gänge. Es lohnte nicht, dort zu essen, weil zu viele Lebensmittelmarken abgegeben werden mussten.

Als ich einen ganzen Nachmittag in Wind und Staub auf der Suche nach günstigen Einkäufen herum gelaufen war, wachte ich nachts durch stechende Schmerzen auf der linken Seite auf. Da ich auch Fieber hatte, fragte ich den Arzt, der eine leichte Rippfellentzündung feststellte und vor allem Bettruhe verordnete. Ich fühlte mich auch nach wenigen Tagen ganz wohl, nur ein leichter Husten, der sich allerdings nach einiger Zeit manchmal zu einem Krampf steigerte, der sich trotz reichlich angewandten Codeins9 schwer stillen ließ, wollte nicht weichen. Sonst aber fühlte ich mich ganz angenehm belebt. Meine Mutter besuchte mich gegen Ende des Winters, damit ich nicht ganz allein mit den Kindern blieb, denn meine getreue Martha war erkrankt und musste, da Magengeschwüre zu befürchten waren, schleunigst zu ihrer Mutter aufs Land, wo eine bessere Verpflegung möglich war.

Als ich gerade eine Kanne Wasser ins Fremdenzimmer eine Treppe höher bringen wollte, bekam ich einen so heftigen Hustenanfall, dass ich lange Zeit nach Luft rang und zu gleicher Zeit so starke Schmerzen links an der alten Stelle, dass ich mich auf die Stufen setzen musste und gar nicht erholen konnte. Absolute Ruhe verordnete der Arzt, Liegekur, bei Regen auf dem Balkon, sonst im Garten."Können Sie nicht aufs Land, wo sie gutes Essen - Milch und Butter - haben könnten? Wenn Sie weiter leben wie bisher, haben Sie in vier Wochen die schönste Schwindsucht."

Ich war damals auch so besonders angegriffen, weil ich einen leichten Anfall von Roter Ruhr10 gehabt hatte. Es waren ganz abscheuliche Schmerzen; am Sonntag kein Arzt zu erreichen, und alle üblichen Hausmittel - Kamillentee, Haferschleim, Zwieback hatten nichts genützt. Die Mutter war ganz verzweifelt: "Als meiner Schwester Elise bei einer ähnlichen Erkrankung gar nichts mehr helfen wollte, gab ich ihr Sekt", schlug sie als letztes wohl hoffnungsloses Hilfsmittel vor. "Wir haben eine Flasche im Keller, die ich zu Rudolfs Rückkehr verwahren wollte." Martha kam mit der unvorschriftsmäßig verstaubten Sektflasche. Wir tranken alle, aus "Insektgläsern", wie Martha einmal vor allen Gästen, als sie Sektgläser holen sollte, staunend gefragt hatte; die Kinder sehr interessiert aus Likörgläsern.

Ich spürte sofort eine Erleichterung. "Sie haben großes Glück gehabt", sagte Dr. Lipowski, als er nach einigen Tagen von einer Reise zurück kam "wäre ich hier gewesen, hätte ich eine Quarantäne anordnen müssen. Aber nun scheint es ja gut zu sein. Ein ganz leichter Fall." Ich erholte mich schnell, nur der Husten wollte nicht weichen, und so kam es zu dem völligen Zusammenbruch. Als nun der Arzt gegangen war, nachdem er die Schwindsuchtsdrohung stark betont hatte, und ich so zu allem unfähig dalag, klingelte es und mein Mann stand plötzlich im Zimmer.
Nein, wie sah er gut aus!

Er schien noch größer und schlanker in dem grauen Offizierspelz mit Otterkragen. Hinter ihm stand der Bursche mit den Koffern, und zum Entzücken der Kinder hatte er einen braunen, langhaarigen Jagdhund mitgebracht. "Er war herrenlos und ist mir zugelaufen, ein ganz edles und hochintelligentes Tier." Ich hatte noch einige Vorräte in Weckgläsern, die schnell herauf geholt wurden; mein Mann hatte Butter, Brot, Kaffee, Speck und Wurst mitgebracht. Ich war so völlig matt, dass es mir erst später klar wurde, welch ein trauriges Wiedersehen das war. Die 1 ½ Tage, die er blieb, glitten vorbei wie eine neblige Landschaft, die man vom Zug aus sieht. Nur der Druck seiner warmen, schlanken, von mir so geliebten Hand schien mir wirklich zu sein.

Nach einigen Tagen kam ein Brief: "Ich glaubte den Verstand zu verlieren, als ich Dich so krank sah ... Ich erwäge immer, wie ich Dich herholen könnte! Es ist hier so schön! Meine Autokolonne macht Station und bildet ein Dorf für sich. In jedem freien Augenblick gehe ich mit meinem Hund in die herrlichen, menschenleeren Berge auf Jagd. Ich habe Eier aufgekauft ...". Schon nach einer Woche eine Eiersendung: 2 Kisten, mit 700 und mit 500 Eiern. Sie waren so gut in Häcksel verpackt, dass zwar viele geknickt, aber nur sehr wenige unbrauchbar waren. Wir machten uns ans Sortieren und legten die größten in Garantol - 3 große Steintöpfe voll.Von den Knickeiern machte meine Mutter dreimal am Tag Rührei. Wir waren so ausgehungert, es wurde uns nicht über.

Nach Pomedien hatte ich auf eine Einladung geantwortet, ich könnte nicht kommen, ich wäre krank. Postwendend die Antwort: "Krankheit ist ein Grund mehr, herzukommen, sobald Sie reisefähig sind." Nach 4 Wochen reisten wir, an einem ersten schönen Frühlingstag im Mai. Die Wohnung war schön aufgeräumt, die Möbel bedeckt, die Teppiche mit Mottenkugeln in Zeitungspapier eingerollt; die Eier an verschiedenen Stellen versteckt wegen einer möglichen Einbruchsgefahr. Den Schlüssel brachten wir einer guten Nachbarin, die Kinder jubelten. An der Gartenpforte sah ich noch einmal zurück nach dem schönen Heim, in dem ich so glücklich hatte sein wollen.
Die Fensterladen waren herabgelassen.


 

1"Lebensmittelmarken" auf Karten, für die es Esswaren gab.

2gestovt = ostpreußisch für: gestampft, im Sinne von Kartoffelbrei; mit Dank an Miechen Ogilivie und Norchen Zimmermann, die den Begriff aus dem "Ostpreußischen Wörterbuch" für mich heraussuchten.

3Steckrüben

4Sümpfe in Rokitno, einem Landkreis in der polnischen Woiwodschaft Lublin.

5"Kathreiners Malzkaffeefabriken" stellten den Ersatzkaffee seit 1892 her.

6Zuckerrübensirup

7Eigentlich: Als Rippenstück, Rücken, Karbonade, Karree oder Kotelettstrang (nur beim Schwein), wird der Rücken von Schlachttieren wie Schwein, Rind, Kalb und Lamm bezeichnet

8Kurort

9Codein, ein Alkaloid, ist ein Opiat, das als Schmerzmittel (zumeist in Kombination mit Paracetamol), aber auch als Hustenstiller verabreicht wird.

10Durchfallerkrankung

(Einige der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/ )  

 

 



© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2007
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Letzte Aktualisierung: 12.01.2008