Hat es jemals einen so furchtbaren
Winter gegeben wie den Kohlrübenwinter 1917? Ach, sicher haben
Generationen vor uns noch schwerer gelitten als wir damals, aber das
Deutschland nach 1871 war viel mehr als nur verwöhnt, es war
sicher! Sicher in seiner Weltstellung, in seiner Lebensführung.
Es war tatsächlich groß, es fühlte sich nicht nur so,
und es ging zu Grunde durch die Kurzsichtigkeit seiner Führung.
Auch damals gab es Arme und Reiche, aber jedem boten sich
Möglichkeiten nach seinen Gaben und seinem Fleiß, jeder
konnte auf eine Altersversorgung rechnen. Und nun, aus solcher
Sicherheit heraus gerissen, fasste man zunächst nicht einmal das
Aufhören der selbstverständlich gewordenen, kleinen
Alltäglichkeiten.
Urte hatte sich ein Milchzähnchen
ziehen lassen [müssen] und sollte sich nun zur Belohnung ein
Schokoladentäfelchen holen. Sie kam zurück??! Es gab keins
und würde in absehbarer Zeit auch keines geben.
Wie war das
möglich? Es hatte doch immer Schokolade gegeben, und ebenso wars
mit der Butter. Ich lief von einem Geschäft zum anderen ... "Sie
werden in ganz Bromberg heute keine Butter bekommen." Ein
Abendessen, ein Morgenfrühstück ohne Butter, ohne die
Möglichkeit, sie wenn nötig, zu beschaffen. Am nächsten
Tag bekam ich Butter in der Meierei und dann wieder tagelang nicht;
aber auf dem Markt kannte ich eine Butterfrau. Landbutter war immer
noch besser als gar keine. Ich ging um 7 Uhr hin; die Frau stand
schon dort und gab mir 2 Pfund aus ihrem Korb; das war ja ganz
einfach. Das nächste Mal sah ich mich vergeblich nach meiner
Butterfrau um. Andere Hausfrauen kamen mit Butterpaketen; sie waren
der Landfrau weit entgegen gegangen und hatten alles aufgekauft, so
dass sie gar nicht erst zu ihrem Stand zu kommen brauchte. Dann
fuhren Leute per Rad ins Dorf - man kam nicht mehr mit bei dem
Wettlauf. So gings mit allem.
Das Kartensystem wurde
immer umfangreicher, 1917 war die Hungersnot da. Nur Steckrüben
gab es reichlich. Mein Mann hatte Eintopf von Schweinefleisch mit
Wruken oder Bratklops mit gestovten
Wruken sehr
gerne gegessen. Er wunderte sich, dass ich über die vielen
Steckrüben klagte; er meinte, man dürfe ins Feld überhaupt
keine Klagen schreiben. Nach schweren Zeiten im Westen und vor allem
im Osten in den Rokitnosümpfen,
befehligte er jetzt eine ganze Autokolonne, und wenn das Klima
unangenehm war, ging er auf Jagd in die Berge, sobald der Dienst ihm
etwas Zeit ließ. Er kam nur einmal jährlich auf Urlaub und
hatte keine Ahnung, wie wir lebten.
Den Morgen fingen wir mit einem
abscheulich bitteren Ersatzkaffee an. Das war kein kleinbürgerlicher,
aber ehrlicher Kathreiner,
nicht einmal Eichelkaffee, den Frau v.Perbandt als Sparmaßnahme
vergeblich ausprobierte und vorschlug. Nein, Rübenschnitzel,
vermischt mit irgend welchem Unkraut. Dazu saures, durch nicht
erkennbare Zusätze verfälschtes Brot und rotgefärbte
Rübenmarmelade.
Die Soldaten, deren Kost zuerst viel
besser gewesen war als die der armen Zivilisten, sahen jetzt auch
kaum etwas anderes auf ihrem Brot. "Marmelade, Marmelade, ist der
schönste Fraß im ganzen Staate", sangen sie und der
Witz: "Nun noch 1 Pfund Apfelkerne in die Schmiere, damit die Leute
eine Freude haben;" sprach Bände.
Mittags zählten wir die wenigen
Kartoffeln. Vielleicht machten wir dazu als Karbonade gebratene,
vorher weich gekochte Steckrübenscheiben, ein Rezept,
das in der Zeitung gestanden hatte. Es war mal etwas anderes und
schmeckte nicht schlecht, aber die eben abgeholte Fettzuteilung war
so zusammen geschmolzen, dass man dieses Menü nicht so bald
wiederholen durfte. So wurde denn das zähe Rindfleisch gekocht
und wieder Rüben in die magere Brühe geschnitten;
Kartoffeln wurden nicht mitgekocht, um zu sparen, sondern nur 2
gerieben hinzugetan, um das Gericht ohne Mehl einzudicken.
Am Sonntag gab es dann das ausgekochte
Fleisch in ein wenig Fett geröstet, einige Löffel graues
Mehl und Magermilch mit einem Schuss Essig schufen die Sahnesoße,
gebräunt durch eine Flüssigkeit, die man in großen
Flaschen kaufen konnte.
Neben dieser Flasche stand eine andere
mit einem Ersatztee, dem man nachrühmte, dass er wie schwarzer
Tee schmeckte. Ich hatte einmal die Flaschen verwechselt, und wir
hatten die Bratenbräune getrunken, ohne einen Unterschied zu
bemerken. Als es dann abends Bratkartoffeln gab - nur wenige in der
Pfanne ohne Fett erhitzt und mit Ersatzkaffeegrund gebräunt und
Rübenmarmelade dazu, da entschloss ich mich, den Pferdefleischer
an der Ecke der Thorner-Straße aufzusuchen. Er hatte ja schon
in Friedenszeiten "fettes Fohlenfleisch" annonciert.
Wer kaufte denn dort? Ich war immer
schnell und scheu vorbei gegangen. Allein das dunkle, trübselige
Äußere war nicht zu vergleichen mit der fliesengelegten,
nickel-gläsern-strahlenden Sauberkeit der appetitlichen Läden
in der Hauptstraße. Jetzt glaubte man in seinem durch Hunger
ausgehöhlten Sinn gerne, dass Pferdefleisch eine Lieblingsspeise
der alten Germanen gewesen und ihnen der Genuss durch die Priester
verboten worden war. Ich kam mit einem zarten Filet nach Hause.
Welche Hilfe! Ach, auch dieser Fall wurde bald schwierig. Immer mehr
Leute kamen auf den Ausweg, bei Pferdefleisch sich der alten Germanen
zu erinnern und lange ehe die Tür geöffnet wurde, gab es
ein lebensgefährliches Gedränge, bei dem einmal einer Frau
die Rippen eingedrückt wurden. Ohnmachtsanfälle waren an
der Tagesordnung.
Geschätzte Kunden bekamen einen
unauffälligen Wink, außerhalb der offiziellen Ladenzeit
hinten herum in die Küche zu kommen. Da standen nun die
Bevorzugten eng zusammen und sahen durch das kleine, trübe
Fenster auf den trostlos kahlen Hof. Die Frau Meister war ins Bad zur
Erholung gefahren. Sie ließ, wie ihr Mann uns bestellte,
"die verehrte Kundschaft sehr herzlich grüßen".
Es war andauernd eisig kalt durch den
Nordost[wind], der trockenen Staub aufwirbelte, der in alle Ritzen
drang. Der Himmel gleichmäßig sonnenlos grau, eine
lastende, bleierne Decke, keine weichen Daunenkissen, die sanft
niederfallende Flocken versprachen. In Wunschträumen sah man in
der Sonne glitzernden Rauhreif, dachte an klare Winterluft und sprach
von einst gemütlich warmen Zimmern und kräftig duftenden,
dampfenden Kochtöpfen. Wer wenigstens ein Zimmer heizen
konnte, war froh. Das Essen aus der Gemeinschaftsküche wurde
immer schlichter. In der Mittelstandsküche gab es zwei Gänge.
Es lohnte nicht, dort zu essen, weil zu viele Lebensmittelmarken
abgegeben werden mussten.
Als ich einen ganzen Nachmittag in Wind
und Staub auf der Suche nach günstigen Einkäufen
herum gelaufen war, wachte ich nachts durch stechende Schmerzen auf
der linken Seite auf. Da ich auch Fieber hatte, fragte ich den Arzt,
der eine leichte Rippfellentzündung feststellte und vor allem
Bettruhe verordnete. Ich fühlte mich auch nach wenigen Tagen
ganz wohl, nur ein leichter Husten, der sich allerdings nach einiger
Zeit manchmal zu einem Krampf steigerte, der sich trotz reichlich
angewandten Codeins schwer
stillen ließ, wollte nicht weichen. Sonst aber fühlte
ich mich ganz angenehm belebt. Meine Mutter besuchte mich gegen Ende
des Winters, damit ich nicht ganz allein mit den Kindern blieb, denn
meine getreue Martha war erkrankt und musste, da Magengeschwüre
zu befürchten waren, schleunigst zu ihrer Mutter aufs Land, wo
eine bessere Verpflegung möglich war.
Als ich gerade eine Kanne Wasser ins
Fremdenzimmer eine Treppe höher bringen wollte, bekam ich einen
so heftigen Hustenanfall, dass ich lange Zeit nach Luft rang und zu
gleicher Zeit so starke Schmerzen links an der alten Stelle, dass ich
mich auf die Stufen setzen musste und gar nicht erholen konnte.
Absolute Ruhe verordnete der Arzt, Liegekur, bei Regen auf dem
Balkon, sonst im Garten."Können Sie nicht aufs Land, wo sie
gutes Essen - Milch und Butter - haben könnten? Wenn Sie
weiter leben wie bisher, haben Sie in vier Wochen die schönste
Schwindsucht."
Ich war damals auch so besonders
angegriffen, weil ich einen leichten Anfall von Roter Ruhr gehabt
hatte. Es waren ganz abscheuliche Schmerzen; am Sonntag kein Arzt zu erreichen,
und alle üblichen Hausmittel - Kamillentee,
Haferschleim, Zwieback hatten nichts genützt. Die Mutter war
ganz verzweifelt: "Als meiner Schwester Elise bei einer ähnlichen
Erkrankung gar nichts mehr helfen wollte, gab ich ihr Sekt", schlug
sie als letztes wohl hoffnungsloses Hilfsmittel vor. "Wir haben
eine Flasche im Keller, die ich zu Rudolfs Rückkehr verwahren
wollte." Martha kam mit der unvorschriftsmäßig
verstaubten Sektflasche. Wir tranken alle, aus "Insektgläsern",
wie Martha einmal vor allen Gästen, als sie Sektgläser
holen sollte, staunend gefragt hatte; die Kinder sehr interessiert
aus Likörgläsern.
Ich spürte sofort eine
Erleichterung. "Sie haben großes Glück gehabt", sagte
Dr. Lipowski, als er nach einigen Tagen von einer Reise zurück
kam "wäre ich hier gewesen, hätte ich eine Quarantäne
anordnen müssen. Aber nun scheint es ja gut zu sein. Ein ganz
leichter Fall." Ich erholte mich schnell, nur der Husten wollte
nicht weichen, und so kam es zu dem völligen Zusammenbruch. Als
nun der Arzt gegangen war, nachdem er die Schwindsuchtsdrohung stark
betont hatte, und ich so zu allem unfähig dalag, klingelte es
und mein Mann stand plötzlich im Zimmer.
Nein, wie sah er gut
aus!
Er schien noch größer und
schlanker in dem grauen Offizierspelz mit Otterkragen. Hinter ihm
stand der Bursche mit den Koffern, und zum Entzücken der Kinder
hatte er einen braunen, langhaarigen Jagdhund mitgebracht. "Er war
herrenlos und ist mir zugelaufen, ein ganz edles und
hochintelligentes Tier." Ich hatte noch einige Vorräte in
Weckgläsern, die schnell herauf geholt wurden; mein Mann hatte
Butter, Brot, Kaffee, Speck und Wurst mitgebracht. Ich war so völlig
matt, dass es mir erst später klar wurde, welch ein trauriges
Wiedersehen das war. Die 1 ½ Tage, die er blieb, glitten
vorbei wie eine neblige Landschaft, die man vom Zug aus sieht. Nur
der Druck seiner warmen, schlanken, von mir so geliebten Hand schien
mir wirklich zu sein.
Nach einigen Tagen kam ein Brief: "Ich
glaubte den Verstand zu verlieren, als ich Dich so krank sah ... Ich
erwäge immer, wie ich Dich herholen könnte! Es ist hier so
schön! Meine Autokolonne macht Station und bildet ein Dorf für
sich. In jedem freien Augenblick gehe ich mit meinem Hund in die
herrlichen, menschenleeren Berge auf Jagd. Ich habe Eier aufgekauft
...". Schon nach einer Woche eine Eiersendung: 2 Kisten, mit 700
und mit 500 Eiern. Sie waren so gut in Häcksel verpackt, dass
zwar viele geknickt, aber nur sehr wenige unbrauchbar waren. Wir
machten uns ans Sortieren und legten die größten in
Garantol - 3 große Steintöpfe voll.Von den Knickeiern
machte meine Mutter dreimal am Tag Rührei. Wir waren so
ausgehungert, es wurde uns nicht über.
Nach Pomedien hatte ich auf eine
Einladung geantwortet, ich könnte nicht kommen, ich wäre
krank. Postwendend die Antwort: "Krankheit ist ein Grund mehr,
herzukommen, sobald Sie reisefähig sind." Nach 4 Wochen
reisten wir, an einem ersten schönen Frühlingstag im Mai.
Die Wohnung war schön aufgeräumt, die Möbel bedeckt,
die Teppiche mit Mottenkugeln in Zeitungspapier eingerollt; die Eier
an verschiedenen Stellen versteckt wegen einer möglichen
Einbruchsgefahr. Den Schlüssel brachten wir einer guten
Nachbarin, die Kinder jubelten. An der Gartenpforte sah ich noch
einmal zurück nach dem schönen Heim, in dem ich so
glücklich hatte sein wollen.
Die Fensterladen waren
herabgelassen.
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