Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Der Verlauf der Handlung.

 

 

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Der sechste Akt.
Mit dem fünften Akt ist die Handlung vollständig zu Ende geführt. Für den sechsten Akt, den „Epilog", kann ich keinen anderen Grund finden, als daß der Dichter sich von seinem Gegenstand nicht trennen mochte und das kurze Leben seines Helden bis zum Ende künstlerisch darstellte.

Es ist der 22. Juli 1832. Auf diesen Tag ist auch die Kommunion verlegt, die in Wirklichkeit am 19. Juli stattfand 1). Um den Kranken sind noch einmal alle bemüht, die ihn geliebt haben; die Gräfin Camerata ist auch jetzt noch bereit, für ihn zu kämpfen, sie stellt Metternich. Er weicht ihr aus und verschanzt sich hinter seiner Pflicht. Nur ein kleiner Kreis war beim Tode des Herzogs zugegen: Dr. Malfatti, Baron Hartmann, Hauptmann Stadeiski, ein Baron Marschall, der Erzherzog Franz Karl, Marie Louise, die Gräfin Scarampi - diese wohl aus Sorge um Marie Louise - und Baron Moll, der mit Hartmann und Stadeiski die nächste militärische Umgebung des Herzogs bildete. Moll war es auch, der gleich nach dem Todestage Notizen über die Hauptumstände machte, die er dann in einem Brief vom 6. August 1830 Graf Dietrichstein mitteilte. Allein auf diese Schilderung bezieht sich Wertheimer 2).

Danach ist vieles bei Welschinger Ausschmückung, herübergenommen aus Montbel. Montbel schrieb die Biographie des Herzogs unter den Augen Metternichs, und Metternich hatte offenbar
gegen belanglose Ausschmückungen nichts einzuwenden. Rostand folgt hier wieder sehr genau der Darstellung bei Welschinger. Als nicht den Tatsachen entsprechend ist anzusehen, daß der Herzog sich in seinen Fieberphantasien mit seinem Vater beschäftigt habe, seine letzten Worte bezogen sich auf seinen Zustand und enthielten die Bitte um Erleichterung. Das Benehmen des Kranken, wenn ihm vorgelesen wurde, findet bei Wertheimer seine Bestätigung. Baron Moll, der den Herzog mit größter Hingabe pflegte, griff zu diesem Mittel der Zerstreung. Der Herzog faßte den Sinn nicht mehr, aber die Stimme des Vorlesenden wollte er deutlich vernehmen. „Wurde sie stiller oder hörte man sie gar nicht mehr, so öffnete er sofort die Augen und schien fragen zu wollen, warum man anhalte." 3)

Die Ansicht ist ausgesprochen worden, daß Rostand zur Verlesung im letzten Akte nur deshalb „zu der trockenen Schilderung der Tauffestlichkeiten gegriffen habe", weil ihm keins der Gedichte auf die Geburt des Königs von Rom bekannt gewesen sei; ein solches Gedicht wäre an dieser Stelle wirkungsvoller gewesen 4). Beides läßt sich widerlegen. In der politischen Unterhaltung, die sich in der fünften Szene des ersten Aktes findet, wird wiederholt die Hydra erwähnt; ich vermute darin eine Anspielung auf eines der besten jener Gedichte. Man spricht von der Hydra, der Anarchie, weil im Zustand der Anarchie ein Staat mehr als ein Haupt hat, da die Parteien sich bekämpfen. Ähnlich heißt es an einer Stelle des Gedichtes:

Da ist, was unsere Hoffnung stützt und hält:
Ein Kind erneut das Gleichgewicht der Welt.
Ein Kind beschwört den Hader blut'ger Kriege.
Sein erster Blick sah der Parteien Wut,
In wilden Strömen floß um seine Wiege
Der hundertköpf'gen Hydra dampfend Blut 5).

Rostand hat höchstwahrscheinlich dieses Gedicht und wohl noch andere jener Lobeserhebungen gekannt. Nicht in Ermangelung von etwas Besserem ist die Schilderung der Taufe in den letzten Akt aufgenommen worden, sondern weil diese den Zwecken des Dichters am besten entsprach. Durch nichts hätte der Gegensatz des traurigen Endes zu dem so viel versprechenden Anfang deutlicher zum Ausdruck kommen können als durch die Erinnerung an die einstige Prachtentfaltung, wie sie in der Beschreibung der Tauffestlichkeit zum Ausdruck kommt. Der junge Adler, den die Dichter träumten, mit hohem Sinn und ungebeugtem Mut war der Sohn Napoleons geworden, was aber der Kaiser, was die Taufpaten ihm wünschten, das hatte er nicht erreicht. Wertheimer sagt über die folgenden Tage nur, daß die Beisetzung unter den in der kaiserlichen Familie üblichen Feierlichkeiten stattfand. Welschinger beschreibt ausführlich die Aufbahrung in der Kapelle der Hofburg. Der Verstorbene war mit der weißen Uniform seines Regimentes bekleidet. Es hat nichts Unwahrscheinliches, daß die Anordnung auf Metternich zurückging, so daß die letzten Worte des Dramas ihre Berechtigung haben.

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1) Welschinger p.441.
2) Wertheimer a. a. 0. Anm. „Die einzig authentische Darstellung der letzten Momente des Herzogs."
3) Wertheimer a. a. 0. p.444.
4) Claude Pierray Revue 1902.
5) Le voilà, ce soutien où notre espoir se fonde.
Un enfant rétablit l'équilibre du monde ;
des sombres factions il brise le faisceau.
Ses yeux se sont ouverts au milieu des conquêtes,
Et de l'hydre aux cent têtes
Ont vu fumer le sang autour de son berceau.
Von Claude Pierray a. a. 0. mitgeteilt.

 

 

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005