Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Der Verlauf der Handlung.

 

 

Zurück

Der zweite Akt.
Im zweiten Akt zeigt der Held den großen Fortschritt in seiner Entwicklung. Er ist nun dem Erzieher entwachsen, bekleidet den Rang eines Oberst und hat seine militärische Um gebung. Seine äußere Erscheinung ist die, welche das Bild Daffingers zeigt, was auch für den dritten bis fünften Akt gilt. Er trägt den kleidsamen weißen Waffenrock mit grünen Aufschlägen, an der Seite den Degen, links auf der Brust seine beiden Auszeichnungen, die von Rostand als Maria-Theresienorden 1) und St. Stephansorden 1) bezeichnet werden. Nur die zweite Angabe ist zutreffend. Der St. Stephansorden, auf dem Bilde der höher getragene, war ein achteckiger silberner Stern aus brillantierten Strahlenbündeln mit einem weißen Doppelkreuz in der Mitte, dem alten Wappen von Ungarn. Er wurde als höchster Verdienstorden an Zivilpersonen verliehen. Schon auf dem Bilde, das Izabey von dem Vierjährigen malte, ist der Prinz mit dem Orden geschmückt. Fürst Schwarzenberg hatte ihn 1811 der Majestät des Königs von Rom als kaiserliches Patengeschenk überreicht. Jetzt trug ihn der Herzog von Reichstadt als kostbare einzige Reliquie aus der Zeit seines Königtums.

Der zweite Stern zeigt nicht das Aussehen des Maria-Theresienordens. Dieser war ein von grünem Kranz umgebenes vierarmiges Kreuz in weißer Emaille; es trug in der Mitte einen weißen, golden bordierten Querbalken auf rotem Grund, das alte österreichische Wappen. Auf dem Bilde ist wohl ein Kreuz zu erkennen, aber das Kleinod in der Mitte ist ein ganz anderes, und der Kranz fehlt. Der Orden war ausschließlich Kriegsauszeichnung und wurde statutenmäßig verliehen „für freiwillige, wirkliche militärische, ausgezeichnete Taten vor dem Feinde". Er ist also dem Eisernen Kreuz zu vergleichen, und der Herzog von Reichstadt konnte ihn nicht erworben haben. Der zweite Stern ist der uralte Konstantinorden, dessen Stiftung Konstantin dem Großen zugeschrieben wird; das Stiftungsjahr ist nicht bekannt 2). Der Orden wurde 1816 von Marie Louise rekonstruiert. Er hatte fünf Klassen. Für die erste Klasse verliehen, wurde er als „Senatorengroßkreuz" mit Kette getragen oder als Stern links auf der Brust. In dieser Form, die auf dem Bild von Daffinger vorliegt, war er ein achteckiger Silberschuppenstrahlenstern mit aufgelegtem Kleinod. Das Kleinod war ein rot emailliertes, vierarmiges, golden bordiertes Kreuz, mit dem Monogramm Christi in der Weise überlegt, daß das X über das Kreuz hinausragte. Der Orden ist auch auf der Reproduktion des Daffingerschen Bildes klar zu erkennen, besonders an dem X in der Mitte und an den Schuppen, die sich von den Strahlen des St. Stephansordens deutlich unterscheiden. Daß Marie Louise ihrem Sohn die Auszeichnung verlieh, ist nicht befremdend. Bedenkt man ferner, daß eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Briefen aus der Korrespondenz des Herzogs der Vernichtung entgingen und daß Wertheimer auch diese vergebens in Parma gesucht hat, wohin sie angeblich geschickt worden sind, so kann es nicht erstaunen, daß sich kein Dankschreiben findet, welches die Verleihung des höchsten Ordens von Parma bestätigen könnte.

Der Herzog ist nicht mehr geistesabwesend oder zerstreut, sondern scharfsichtig und schlagfertig. Er durchschaut die andern und bleibt Herr jeder Unterhaltung. Die erste Szene zeigt die strenge Bewachung seiner Person. Ausfragen der Dienerschaft und Durchsuchen der Korrespondenz gehörte zu Sedlnitzkys Mitteln zum Zweck 3).

Die historische Tatsache ist nur für das Drama zurechtgemacht. Der Polizeichef wird in seinem Treiben überrascht durch den unerwartet zurückkehrenden Herzog, der einen Unfall gehabt
hat. Dabei kann an den ernsten Kräftezusammenbruch gedacht sein, der sich aber erst später und in Wien zutrug 4), oder an einen jener Schwächezustände, wie sie damals schon auftraten. Man könnte auf das letztere schließen aus der Begleiterscheinung, daß dem Herzog die Stimme versagt hat. Er erklärt: „Ich habe einfach zu sehr geschrieen." Dr. Malfatti war in solchen Fällen schnell zur Stelle, suchte er seinen Patienten ja sogar in der Kaserne auf 5). Daß Dietrichstein den Arzt holte, war nicht notwendig. Das Auftreten Dietrichsteins ist auffallend; er tritt auch von nun an nicht mehr auf und erscheint hier vielleicht nur, um das Wort auszusprechen: „Der Herzog ist kein Gefangener, nur .. .." Es ist ein Ausspruch Dietrichsteins, der bei Welschinger erzählt wird 6). Dietrichstein sprach das Wort dem noch zu erwähnenden Franzosen Barthélemy gegenüber, der um eine Audienz bei dem Herzog von Reichstadt bat. Der Graf erklärte, daß der Herzog keineswegs ein Gefangener sei, hob aber seine Behauptung dadurch auf, daß er eine Reihe von Vorsichtsmaßregeln für notwendig hielt.

Die Gegenwart der Erzherzogin Sophie ist berechtigt. Sie war immer besorgt um ihren Neffen, der ihrer mütterlichen Fürsorge auch bedurfte. Es ist nicht ganz klar, warum sie das Herbarium des Kaisers mitbringt, vielleicht aus gleichem Grunde, warum dem Herzog die Schmetterlinge gezeigt werden sollten. Auf losen Blättern hat der Kaiser sich Notizen gemacht über harte Maßregeln, die er zu treffen denkt. Sie liefern den Gegenbeweis, als die Erzherzogin von der Güte des Kaisers spricht, um das Versprechen zu erhalten, daß Franz nichts unternehmen werde, ohne vorher einen Schritt bei dem Kaiser versucht zu haben. Ein solches Versprechen ist nirgends bezeugt, aber die Möglichkeit ist denkbar. Dasselbe gilt von den Gegenständen, lauter Erinnerungen an seinen Vater, die sie dem Herzog zum Geschenk gemacht hat und die aus der Kriegsbeute ihres Gatten stammen. Mit der besonderen Sache ist der Hut Napoleons gemeint, den der Herzog bald darauf als Signal für Flambeau auf den Tisch legen wird. Die Erzherzogin kündigt den Besuch von Prokesch Osten an. Der Dichter schreibt ihr zu, die Veranlassung gewesen zu sein. Prokesch Osten kam im August nach Schönbrunn. Das Ereignis ist um einen Monat zurückverlegt. Im Frühjahr 1831 hatten sich die Freunde getrennt nach zusammen verlebtem Winter 1830/31. Die Zeitangabe ist daher richtig, die aus den Worten Prokeschs hervorgeht: „Was machen Sie hier seit einem halben Jahr?" Da der Winter in Wien verlebt wurde, so ist es auch zutreffend, wenn Prokesch sagte: „Ich kannte Schönbrunn noch nicht." Daß der Herzog seine Bücher allmählich durch die Erzherzogin erhalten habe und daß er sie vor Metternich versteckte, trifft nicht zu; dagegen wird bestätigt, daß Metternich mit dem Herzog über dessen Vater gesprochen habe 7).

Zur Bibliothek des Herzogs gehört auch „Der Sohn des großen Mannes" von Barthelemy (Le Fils de l'Homme) 8). Es ist das Buch, das 1829 erschien und „wie eine Bombe" 9) wirkte. Es hat eine Vorgeschichte. Zwei Dichter, Barthelemy und Mery, verfaßten ein Lobgedicht auf Napoleon, betitelt «Napoleon en Egypte», und ließen Exemplare davon im Jahre 1828 an die Familie Bonaparte gelangen. 1829 begab sich Barthelemy selbst nach Wien, um auch dem Sohne Napoleons das Buch zu überreichen. In der eben erwähnten Audienz bei Dietrichstein wurde er mit seiner Bitte, dem Herzog vorgestellt zu werden, abschlägig beschieden. In dieser Unterredung äußerte sich Dietrichstein dahingehend, daß alles, was der Herzog lese und höre, einer sorgfältigen Prüfung unterzogen worden sei, wenn er auch nicht gerade ein Gefangener sei. Durch diese Äußerung und wahrscheinlich durch manches andere, was er in Wien hörte, gewann Barthelemy bei seiner unmutigen Stimmung über den Mißerfolg ein falsches Bild von der Behandlung, die man dem Herzog zuteil werden ließ. Sein Buch «Le Fils de l'Homme», das gleich nach seiner Rückkehr entstand, ist voll von gehässigen Anklagen. Hier steht auch die grundlos schwere Beschuldigung der Vergiftung 10). Das Gedicht schließt mit der Prophezeiung einer Rückkehr des jungen Napoleon. Dieser Schluß wurde für den Dichter verhängnisvoll. Er zog sich dadurch einen Prozeß zu, der ihm allerdings viele Sympathien erwarb und seinen Namen bekannt machte, der aber doch mit seiner Verurteilung endete und ihm eine Gefängnisstrafe von drei Monaten und eine Geldstrafe von 1000 Franken einbrachte 11).

Der Herzog bittet Prokesch, ihm ein Urteil über seinen Wert zu sagen. Eine solche Unterhaltung fand statt bei ihrem ersten Wiedersehen in Graz 1830 12). Damals sagte der Herzog: „Geben
Sie mir Wahrheit. Bin ich wirklich etwas wert und einer großen Zukunft fähig? Oder ist nichts an mir? ... Was kann der Sohn des großen Kaisers werden?" Rostand hat diese Worte aus dem Jahre 1830 auf den zweiten Besuch verlegt.

Von den drei Briefen, die der Herzog erhält, ist der dritte von der Stiftsdame, die ihn den jungen Adler nannte. Ein solcher Brief gelangte nicht in die Hände des Herzogs.

Mit dem Auftreten Marmonts und Metternichs nähert sich das Drama wieder der Wirklichkeit.
Marmont verabschiedete sich am 15. April 1831 von dem Prinzen, also ein Vierteljahr früher als im Drama. Die Sinnesänderung wird herbeigeführt durch die Wirkung, welche der Herzog auf ihn ausübt. Es ist etwas auffallend, daß dies so plötzlich und beim allerletzten Zusammensein geschieht. Marmont erweckt manchmal den Eindruck, als ob er den Herzog zum erstenmal sehe. Dagegen kann man sagen, daß der Herzog in der Stunde des Abschieds seine erzwungene Ruhe nicht länger habe bewahren können. Der Marschall Maison, den Marmont aufsuchen wird, gehörte mit zu den Verschwörern, die der Graf von Otranto in seinem Brief anführte. Um Marmont umzustimmen, bedurfte es nicht der langen vorwurfsvollen Rede von Flambeau, es ist eine jener Tiraden, die Doumic zu den Schwächen des Dramas zählt.

Bei seinem abenteuerlichen Umherschweifen hat Flambeau die Kusine des Herzogs, Napoleone Camerata, kennen gelernt. Beide, er mit falschen Papieren, halten sich in Schönbrunn in der Nähe des Herzogs auf, um im gegebenen Augenblick zu seinen Diensten zu sein. Der Herzog ist gerührt und möchte diese Ergebenheit belohnen. Flambeau soll sich etwas wünschen. Im Gedanken an Napoleons gelegentliche Vertraulichkeit mit seiner Garde will der alte Soldat beim Ohr genommen werden. Der Herzog erfüllt seine Bitte, stellt ihn aber nicht ganz zufrieden; Napoleon machte es besser.

Ich kann mich der Ansicht von Haraszti nicht anschließen, der an dieser Stelle Einfluß von Francois Coppée zu erkennen glaubt und zum Beweise eine Stelle aus «Le Fils de L'Empereur» heranzieht 13). Wo immer von einer Erinnerung an den großen Kaiser die Rede ist, müssen die Schilderungen sich mehr oder weniger gleichen, ohne daß ein Dichter aus dem andern geschöpft zu haben braucht. Auch hier liegt ein Anklang vor. Immerhin ist es doch wahrscheinlicher, daß Rostand den bekannten Zug von Napoleons Leutseligkeit selbständig verwertet hat.

Dagegen lehnt sich Rostand unverkennbar an Welschinger an, wenn er nun Flambeau eine Menge von Gebrauchsgegenständen vor dem Herzog ausbreiten läßt, die alle mit dessen Namen oder Bild versehen sind. Der Herzog soll erkennen, daß er in Frankreich nicht vergessen ist. Flambeau erreicht seinen Zweck. Zunächst will der Herzog versuchen, bei Kaiser Franz, den er zu gewinnen denkt, Hilfe. für seinen Plan zu finden. Erfüllt sich seine Hoffnung nicht, so soll die Flucht beschlossen sein. Es wirkt als glückliches Zusammentreffen, daß die Ankunft des Kaisers angekündigt wird, der noch am selben Tage zu seiner wöchentlichen Audienz nach Schönbrunn kommen werde.

-------------------------------
1) Vergl. die Abbildungen in Trost „Die Ritter- und Verdienstorden aller souveränen Staaten seit Beginn des 11. Jahrhunderts". Tafel VI und XXXIX.
2) Wahrscheinlich wurde der Orden in Erinnerung an Konstantin gestiftet und die überlieferung hat Konstantin zum Stifter gemacht.
3) Die Briefaufmachung wird regelmäßig betrieben; hier sind 60 Personen damit beschäftigt; viele Briefe werden aber schon an den Grenzen, in Graz, Linz usw. aufgemacht. Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten p.25.
4) Wertheimer a. a. 0. p.431.
5) Wertheimer a. a. 0. p.430.
6) Welschinger a. a. 0. p.319.
7) Wertheimer a. a. 0. p. 348.
8) Der vollständige Titel ist «Le Fils de l'Homme ou souvenir de Vienne» par Mery et Barthelemy angegeben bei Wertheimer a. a. 0. p. 341 Anm.
9) ibid. p.341.
10) Locusta - bei Rostand in diesem Zusammenhang genannt - ist eine Giftmischerin des Altertums. Stellen aus dem Gedicht sind bei Welschinger wiedergegeben.
11) Über den Prozeß berichten ausführlich Wertheimer a. a. 0. p.344/45 und Welschinger a. a.0. p. 319 ff.
12) Prokesch Osten, Mein Verhältnis zum Herzog von Reichstadt p. 12.
13) ... un des vieux
de la vieille
Que Bonaparte aimait
à tirer par l'oreille.
Jules Haraszti, Edmond Rostand p.57.

 

 

 

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005