Die Welt ist eine Bühne
eine Persiflage von Dr. Ottilie Lemke
entstanden ca. 1950


 

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Die Welt ist eine Bühne.

Es war wie ein Schauspiel, was ich auf dem Hintergrund von Interieurs und Wald an ein paar schönen Herbsttagen auf Schloß Blumenburg erlebte. Wir waren die Nebenpersonen, die Baronin von Blume, ihre Enkelin und ich. Ein Gast schürzte den dramatischen Knoten, und es fehlte auch nicht die Kammerjungfer aber sie wer nicht "Kammerkätzchen," sie war die Heldin.

Sie wurde "Fräulein Elsbeth " gerufen, obwohl in der Seelenliste "Frau Elsbeth Römer" geschrieben stand. Wann immer ein Wort über den Widerspruch fiel, bat sie flehentlich, davon zu schweigen. Sie zog sich nach einem solchen Zwischenfall noch mehr als sonst zurück, wagte sich schließlich kaum noch aus ihrem Kämmerlein heraus. So fest verschlossen hielt sie Herz und Lippen, daß es eines Tages kam, wie es kommen mußte. Nur um so rückhaltloser äußerte sie sich, als sie zu einem Menschen Vertrauen gefaßt hatte. Dieser Mensch war ich.

Ich weiß nicht mehr, was ich an jenem Tage in Ihrem Zofengemach zu bestellen oder zu fragen hatte. Ich fand sie in den Anblick eines Bildes versunken, der ein anmutiges junges Mädchen in Kostüm und Stellung einer Tänzerin darstellte. Die Ähnlichkeit mit ihr fiel mir sofort auf. Ich fragte vorsichtig, nur indem ich das Bild und dann sie ansah, und sie antwortete mit einem Kopfnicken. Ich nahm das kleine Foto In die Hand und sagte ihr etwas Freundliches darüber, ohne daß ich nötig gehabt hätte zu schmeicheln. Wir schwiegen wohl eine Minute. Dann sagte sie leise: "Das bin ich". Dabei rückte sie einen Stuhl heran. Ich verstand und blieb. Nun erfuhr ich aus unbeholfener Rede, daß sie beide Eltern in einem Jahr, kurz nachdem sie mündig geworden, verloren habe, daß ihre Ehe mit einem Kollegen ihres Vaters kinderlos und daher schmerzlich für sie, anfangs aber nicht unglücklich gewesen sei. Dann sprach sie ohne Bitterkeit von Mißgunst und Widrigkeiten. Ich begriff, daß sie mit ihrem Mann In Not geraten war, daß sich bei ihm in steigendem Maße Gereiztheit und üble Laune gezeigt hatte; er war dann auch zu ihr grundlos heftig geworden. Sie schwieg, sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen.

"Da bekam ich Angst" gestand sie einfach und fuhr, wie erleichtert, fort: "Ich habe selbst die Trennung vorgeschlagen, und er ging leichter noch als ich gedacht darauf ein. Er machte in freiwilliger Versteigerung unseren geringen Besitz zu Geld, wir haben die Miete und die Rechnung beim Kaufmann bezahlt und dann jeder für sich Verdienst gesucht. Wir haben uns auch noch geschrieben." - Sie kramte in der Schublade des kleinen Tischs und zeigte mir einen kurzen Brief in steifer, herrischer Handschrift. - "Aber jetzt weiß Ich nicht mehr, wo er ist, und von meiner neuen Stelle hier weiß er auch nichts."

Als ich mich erbot, bei einer Nachforschung behilflich zu sein, die außerdem so schwer nicht sein könnte, schüttelte sie den Kopf. Nein, sie wollte nicht zurück in "Unsicherheit und Zigeunerleben." Ich bedrängte sie nicht und sprach noch einmal von ihrer Tänzerinnenlaufbahn; nach dem Bild, das ich gesehen, konnte diese nicht ohne Erfolg gewesen sein. Temperamentvoll, wie sie war, schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Ich stand auf, strich ihr übers ,Haar und wollte gehen. Da ergriff sie meine Hand und sagte leise: "Nun lassen Sie sich auch das noch erzählen, es ist eine kurze Geschichte und bleibt bei Ihnen ruhen."

Sie hatte also einen Freund gefunden oder war gefunden worden. "Wir sind nach der Vorstellung zusammen gewesen," erzählte sie, '"dann hielt er mich frei. Er sagte immer, er müsse sich trösten über die erbarmungslosen Menschen, die ihm zusetzten, und wenn er mich ansehe, vergesse er für Augenblicke seine Sorgen. Und. dann kam ein schrecklicher Abend. Eine der letzten Vorstellungen war zu Ende. Es war kalt in der zugigen Garderobe, die nicht mehr geheizt wurde. Ich zog mich schnell um und wollte eilen in mein Logis. Da stand er auf dem dunkeln Hof, über den wir Artisten gingen und kamen. Er umschlang mich fest und sagte "Nun leb' wohl, mein kleines Mädchen, leb' wohl mit der ganzen Welt." Dann wandte er sich und ging. Ich eilte ihm ungesehen nach, mir war's unheimlich zu Mut. Er lief mehr als er ging zur Stadt hinaus, lief an einer Kirchhofsmauer entlang und rüttelte am Tor.

Es war verschlossen. Da schwang er sich auf die Mauer, und ich erkannte mit Entsetzen, was er aus der tiefen Tasche seines Mantels zog. Ich schrie auf, ich wollte bemerkt werden. Im Nu hatte ich die Mauer erklommen und drückte mich an ihn. Er hatte sich beobachtet erkannt und war wie unschlüssig erstarrt. Ich zitterte. Er rührte sich nicht. Endlich sprach er. Ich habe nichts verstanden von dem, was sich ihm über die Lippen drängte, ich wußte nur, von seinem Entschluß hatte ich ihn abgebracht. Ich hätte bei ihm bleiben mögen, ihn nie mehr verlassen. Wir mußten uns ja trennen, doch erst als ich ihn auf den Bahnhof begleitet hatte. Er fuhr zurück auf sein Gut, wo ihn Sorgen erwarteten, Sorgen, die kaum noch zu meistern waren." Sie habe ihn seither nicht mehr gesehen und wisse nicht, ob er wieder Mut gefaßt habe oder doch in Verzweiflung versunken sei. Tänzerin hatte sie nicht mehr sein wollen. Es war ja auch nichts gewesen mit dem großen Verdienst, den sie sich nach den Versicherungen anderer erträumt hatte. Bei den verblümten Belehrungen der Kolleginnen, bei ihren zweideutigen Blicken, ihrem herablassenden "Du verstehst's eben nicht" wusste sie nur, daß sie's auch nicht lernen würde. Weil der Polizei nichts Nachteiliges von ihr bekannt war, fand sie Hilfe zu Verdienst in neuem Beruf.

Ich sah sie nun mit anderen Augen an, die ernste kleine Frau. Sie blieb der Gegenstand der leisen Gespräche, seit kurzem besonders interessant. Bald drang's auch an mein Ohr: "D i e sind doch ein Paar", die, unsere Elsbeth und ein Diener gleichen Nachnamens auf einem nicht zu fernen Gut.

Dies die Exposition, wie heim Drama der technische Ausdruck heißt.
Jetzt, möchte ich sagen, ging der Vorhang auf.

Ich saß mit meiner Schülerin Angelika, der Enkelin der Baronin, an einem sonnigen Herbstnachmittag im Park. In der Allee bemerkten wir einen Herrn, der offenbar eben durch das Parktor eingetreten war. Er hat uns auch gesehn und kommt auf uns zu. Eine Reihe blanker Knöpfe an seinem blauen Jacket blitzen in der Sonne. Er bleibt ein paar Sehritte vor uns stehen, Mütze in der Hand, und stellt sich vor wie einer, was sich gehört - ich verstehe deutlich 'Römer' - und fragt nach der Zofe von Frau Baronin. "Frau Römer ist nämlich meine Frau, wir wollen sehen, ob wir uns wieder selbständig machen können."

So hatte sich das Eheaar wohl doch schon in Verbindung gesetzt, der Seelenschmerz der Kleinen mochte Schauspielerei gewesen sein. Der Mann gefiel mir ausnehmend gut. Ich freute mich recht über das glückliche Wiederfinden. Ich wußte nicht, daß der Wunsch meines Gedankens Vater war und daß 'wir wollen sehen' eigentlich hieß 'ich habe beschlossen'.

"Angelika soll Astern pflücken," rief uns die Baronin aus einem Fenster des Schlosses zu. Das war der übliche Herbststrauß für das Gastzimmer. Es hatte sich wohl eben ein Besuch. angemeldet.

Als wir die Blumen hineinbrachten, hörten wir wie von mehrfachem Echo wiederholt: "Wo steckt nur Elsbeth?" Die Baronin aufgeregt und ärgerlich, das Stubenrnädchen verzweifelt, sie sollte ein Zimmer zurecht machen und Fräulein Elsbeth war nicht da, 'zu sagen, was und wie', Die Köchin, tief gekränkt, beteuerte, sie habe Elsbeth nicht in der Küche gebraucht. Angelika wollte in kindlicher Gefälligkeit oben nachsehen. Man hatte das natürlich längst getan, sie sei nicht dort, in Schloß, Hof und Park nicht zu finden.

Ich ging von der Hintertreppe aus auf die Landstraße. Elsbeth mußte ihren Mann begleitet haben. Nach etwa hundert Schritt kam man an eine Waldung. Dort, am Rande des Gehölzes fand ich sie. Von einem Gebüsch verborgen, lag sie im Gras, aufgelöst in Tränen.

"Was soll das heißen?" sagte ich absichtlich unwillig. Sie fuhr zusammen, stand langsam auf und mußte sich dann, leise weinend, meinem eiligen Schritt anpassen.

Als sie die Sprache wieder gewonnen hatte, sagte sie: "Er kommt." "Gewiß, ich habe ihn ja empfangen," und wollte ihr gratulieren. "Nein, nein, er kommt ja erst."
Ich fragte mich ernstlich, ob sie gestört sei.
Bei den letzten Schritten erklärte sie, abgerissen und unbeholfen wie immer, was geschehen war.

Sie hatte in den Salon die offene Karte gebracht, auf welcher Graf Hohenberg seinen und seiner Frau Besuch ankündigte, und, als sie zurück kam, Römer in der Halle getroffen.

Ich wußte, wer es war, der sich da anmeldete, aber ich sagte nur:
"Nun haben Sie Ihren Mann und denken an keinen andern."

Sie ging langsamer und sagte träumerisch: "Er wird mich nicht erkennen. Ich will ihn von weitem sehen und mich freuen, daß er lebt."
Von ihrem Mann sprach sie nicht.

Sie huschte in ihr Zimmer und brachte es wohl, mit alten Schauspielerkünsten zu Wege, daß man ihr nichts von ihrer Erregung anmerkte, als sie endlich erschien und nach kurzer Entschuldigung geschickt und eifrig zugriff'.


Am folgenden Morgen hatte ich die Empfindung, in der Eintönigkeit des Landlebens eine Abwechslung zu genießen und etwas wie ein Theaterstück sich abspielen zu sehen. Mehr als ein Einakter, meinte ich, mit einem kleinen noch zu erwartenden Nachspiel würde es wohl nicht werden Der frühere Liebhaber brachte eine Frau mit und würde sich nicht auf der Stelle scheiden lassen. Am Wiedersehen mit der Zeugin seiner Verzweiflung in schwacher Stunde konnte ihm kaum gelegen sein. Der Ehemann Römer hatte mir einen ernsten, verständigen Eindruck gemacht, Elsbeth sollte zufrieden sein und sich in ihre Lage finden. Und so würde sie uns wohl auch verlassen.

Sehr bald sah es nach schneller Lösung noch rieht aus. Der Vorhang hob sich zum zweiten Akt. Zu einer frühen Vormittagsstunde war wieder der Diener da. Er hatte seinen Herrn zu einer Sitzung, in die Kreisstadt gefahren und machte nun einen Privatausflug. Der Zweck war offenbar nicht erreicht worden. Er sah bekümmert aus, als er zu dem Auto zurückkehrte, das in einiger Entfernung von dem hinteren Eingang stand. Ich begegnete ihm, und um nicht wortlos an einem betrübten Mitmenschen, vorbeizugehen, sagte ich, als er mich höflich grüßte: "Wir mögen sie alle gern, unsere Elsbeth."

"Darum will sie ja auch nicht weg". Es war in einer Mischung von Sehmerz und Ärger gesagt.

Als ich ein begütigendes Wort versuchte, zuckte er die Achseln. Ich sah Ihn einsteigen und wie auf der Rennbahn davonjagen.

Das Ereignis des Tages war dis Mittagessen zu Ehren der Gäste. Ein mächtiges Tamtam, das aus der Zeit stammte, als Angelikas Vater und seine Geschwister von Feld und Park die Freitreppe hinauf oder vom Turm die Wendeltreppe hinunter stürmten, rief uns zu Tisch: Im Salon wurden wir vorgestellt. Nach dem äußerst kühl aufgenommenen Handkuß bei der Gräfin geriet meine Schülerin um so mehr in Verlegenheit bei der Galanterie des Grafen. Sie sei ja eine Dame geworden, seit er sie als kleines Mädchen gesehen habe, sie möge entschuldigen, wenn er vergesse, daß er 'Sie' sagen müsse. Die Baronin lachte ihn aus und bat bei den eben sich öffnenden Flügeltüren zum Essen. Und sie, die Gräfin, die links vor mir Platz nahm? Sie erinnerte mich an eine Engländerin, die ohne ein Wort einer fremden Sprache zu können, in der Welt herumfuhr und auf meine erstaunte Frage erklärte: "My money speaks for me." Sie war nicht hübsch trotz reichen Haares und großer Augen. Das einzige die Blicke Anziehende waren die Ohrringe, die dicht unter der dunkeln Fülle hervorblitzten.

Es ab ein reiches Diner, Brühe als Vorgericht, Pasteten als Zwischengericht, Wild als Hauptgericht, Wein natürlich und zwei weitere Gänge, bis man beim Mokka angelangt war, der wieder im Salon serviert wurde. Von uns fünf Tischgenossen sprachen fast nur die Baronin und der Graf. Wir hörten nicht ungern zu. Er schilderte äußerst lustig seinen Eindruck, als er das Schloß seiner Väter wiedergesehen habe "zu romantischer Ruine restauriert". Es habe sich denn auch eine Dichter- und Malerkolonie darin niedergelassen und in den früheren Dienerzimmern einige alte "Verzeihung ältere" Damen, die sich von der Welt zurückzogen. Er sei grade Im Begriff gewesen, sich mit einem großen Besen zu bewaffnen, den die Damen natürlich nicht zu fürchten hatten, da sei einer nach dem anderen angerückt, um seiner Mieterpflicht zu genügen, Bei diesem erfreulichen Eifer habe er, um "mit Goethe (!)" zu reden, ein menschliches Rühren gefühlt und es gemacht wie seine früheren Mitbewohner, die taktvollen, kleinen Fledermäuse, er habe das Feld geräumt und in der Nähe sein Zelt aufgeschlagen. Damit wandte er sich an sie; sie brachte wirklich ein Kopfnicken zustande und sagte: "Ja". Wie ich später erfuhr, hatte eine Bank noch einiges Geld an seinen Besitz gewandt und es verstanden, etwas mehr Geld herauszuholen, besonders durch Nutzbarmachung jedes nur irgend bewohnbaren Raumes. Ihm war es dann mit Hilfe jenes sprechenden Geldes möglich gewesen, zurückzukehren, nachdem er an der Grenze des Vaterlandes gegen ein Taschengeld unter einem Inspektor gearbeitet und wohl auch endlich etwas, wenigstens in seinem Fach, gelernt hatte.

Ich mußte immer an Elsbeth denken, die in ihrem kleinen Zimmer unterm Taubenschlag verlassen und einsam saß in nächster Nähe glücklicher Menschen, und mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Erinnerungen und Zukunftsforderungen fertig werden mußte - ganz allein!

Ihr Mann kam immer wieder und machte sein Recht geltend, und je mehr er sie bedrängte, desto mehr dachte sie an den Anderen. Ich gab mich der Hoffnung hin, daß ihr ein Zusammentreffen mit dem Grafen erspart bleiben möchte. Sie konnte es leicht vermeiden, denn sie wurde nur bei großen Gesellschaften zum Servieren herangezogen. Aber sie hatte mir ja gesagt, daß sie ihn von weitem sehen wollte, und das betrieb sie nun auch. Sie zeigte sich je und je. Wo hatte sie nur überall zu tun! Sie war auf der Treppe, auf der Veranda, immer im richtigten Augenblick, um sich sofort zurückzuziehen, und zwar mit einem niedlichen Theaterknicks, der nicht unbemerkt bleiben sollte und nicht unbemerkt blieb. Für mich war es von komischer Wirkung, daß nicht sie allein herumhuschte. E r zeigte sich auch je und je von ungefähr. Ich folgte vorsichtig Elsbeths Schritten. So kam es, daß Angelika durchs Schloß hüpfte und mich suchte. Und auch die Baronin traf man, wo man sie nicht erwartet hatte.

Es herrschte etwas wie eine allgemeine Befangenheit, und so erschrak ich als eines Abends noch spät an mein Zimmer geklopft wurde. Es war die Baronin, die auf mein 'Bitte' leise eintrat.

"Sagen Sie, was ist mit der Elsbeth los?" fragte sie unvermittelt.
"Ist sie verheiratet oder nicht?' Was ist das für ein Besuch, den sie in aller Herrgottsfrühe empfängt? Wenn sie auf mein Schellen kommt, ist sie ganz aufgeregt, wenn sie mich frisiert, zittern ihr die Hände, und fragt man, dann bekommt man eine dumme, ausweichende Antwort."

Ich gab über Elsbeths Ehe Auskunft, soweit ich Beseheid wußte, konnte alles als natürlich und in der Ordnung erklären und legte ein gutes Wort für die arme Elsbeth ein.

Wir sprachen wohl eine halbe Stunde über die Sache.

"Das sind die Freuden, die man von Dienerschaft hat," sagte die Baronin, als sie sich erhob, und verließ mich dann beruhigt und mit freundlichem Dank.
Noch keine zehn Minuten, da klopfte, es wieder und meine Aufforderung wurde kaum abgewartet.

"Ich sah noch Licht bei Ihnen, darum erlaubte ich mir, anzuklopfen," sagte Graf Hohenberg und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Darf man fragen? Wo in all diesen hübschen Räumen, großen und kleinen, nistet das Fräulein Elsbeth? Unser Zimmermädchen hörte ich sie so nennen. Ich hätte Veranlassung, Fräulein Elsbeth einmal zu sprechen. Ich wende mich an sie, gnädiges Fräulein, weil ich das junge Mädchen doch nicht heimlich aufsuchen will."

Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen trotz des beruhigenden Schlußsatzes Er merkte es, und es fiel ihm eine treffliche Ausrede ein. Er hatte wohl nicht zum ersten Mal Veranlassung, sich herauszureden.

"Meine Frau hat sicher etwas zu bügeln oder zu nähen. Da möchte ich wissen, an wen ich mich zu wenden hätte, die zuständige Stelle, verstehen Sie, es muß doch alles seine Ordnung haben."

Du Schlingel, dachte ich. Wie war er besorgt um die Wohlanständigkeit! Dabei war er doch mit der unverkennbaren Absicht gekommen, von mir direkt zu Elsbeth geführt zu werden. Ich konnte ihm nur versprechen, Elsbeth zu Frau Gräfin zu schicken. Da er keine Aussicht mehr sah, seinen Zweck zu erreichen, so verließ er mich mit einem höflichen "Gute Nacht denn und besten Dank."

Ich hielt mein Wort. Als ich annehmen konnte, daß der Besuch sich anschickte, zum Frühstück zu kommen, schickte ich Elsbeth ins Gastzimmer. Sie blieb nicht lang, es war ja auch nicht viel zu besprechen. Im Korridor blieb sie stehen und drückte beide Hände auf ihr klopfendes Herz. Ich nahm sie in mein Zimmer mit, sie war verständig und ließ mit sich reden. Die Angst vor der Ungewißheit blieb. Ihr Mann war von seinem Herrn darüber zur Rede gestellt worden, daß er über den Wagen verfügt habe und nicht zur Stelle sei, wenn er gebraucht werde. Er tauge nichts, habe sein Herr gesagt und könne gleich gehen. Das hatte sie nicht von ihm gehört, von wem erfuhr ich nicht; sie war jetzt im Gerede der Leute, und das Gerede kam nahe an sie heran. Römer habe wörtlich geantwortet: 'Nichts lieber als das". Er habe dann seinen Lohn auf der Stelle ausgezahlt bekommen. Nun spiele er Portier im "Goldenen Adler", auf wie lange und was er verdiene, wußte sie nicht.

"Hier fühle ich mich geborgen", sagte sie und wollte von einer Änderung nichts wissen. Mit Mühe bekam ich sie schließlich dahin, daß sie ihren Mann einmal in Ruhe anhören wollte, nicht nur bei den flüchtigen heimlichen Besuchen. Er kam am selben Tag um die Mittagszeit. Er durfte nicht zu ihr hinauf. Sie sprachen sich an der Hinterfront des Schlosses vor der Tür, die auf die Landstraße führte. Darüber lag mein Zimmer, und daneben das Gastzimmer.

"Also gut, Franz," hörte ich sie sagen, "du mußt mir genau erklären, wie und wo wir uns einrichten wollen, wovon du denkst, daß wir leben wollen, alles ganz genau. Und dann mußt du zuhören, was ich zu sagen hab', wenn du das willst, dann können wir mit'nander reden. Aber das muß vor meinem Dienst sein, anders geht's nicht. Um sechs ist es gerade schon hell, sei morgen um sechs an der Jagdkanzel.
"Ich hab' nur leider keinen Wagen mehr", kam die Antwort, "aber meinetwegen, soll mir recht sein. Abgemacht."

Oben wurde ein Fenster geschlossen. Dumme kleine Elsbeth! Jemand spähte noch nach ihr aus, wo immer. sie zu sehen war. Das hätte sie doch bedenken müssen.

Zum dritten Akt hob sich der Vorhang über einer Waldlandschaft.
Als die Sonne noch mit den Nebeln kämpfte, gingen zwei Jäger auf verschiedenen Wegen in den Wald, und beide pirschten nach demselben Wild. Es war nicht schwer, den Zufall herbeizuführen, daß der eine den andern traf. Da rief der eine dem andern ein leichtes "Heda!" zu und als der langsam näher kam: "Ein gutes Trinkgeld, wenn Sie mir aus dem Schloß meinen Jagdstock holen?'

Der andere hatte mit klügeren Augen in die Welt gesehen und konnte seine Mitmenschen wenigstens ahnend durchschauen. Er glaubte Bescheid zu wissen. Zunächst kehrte er gehorsam um.

Der andere eilte über den feuchten Boden, erleichtert und siegesgewiß. Die er suchte, saß schon fröstelnd auf einem Baumstamm; sie hatte das Schloß so früh wie möglich verlassen, noch ehe auf der Landstraße der Tag begann.

"Um Gottes willen!"

Er hatte gesorgt, daß sie ihn nicht kommen sah, und stand plötzlich vor ihr. Wie hatte sie im Schloß, seine Spur gesucht, jetzt wollte sie entfliehen.

Er vertrat ihr den Weg. So kam es, daß er sie umschlang.

"Keine Angst„ nur keine Angst, kein Grund dazu," sagte er langsam und freundlich, überzeugt, sie zu beruhigen. "Ich weiß, wen Du erwartest. Er geht noch für mich ins Schloß. Bis er zurückkommt, bin ich längst weiter. Der Wald ist groß genug, mich zu verbergen. ich will dir doch nur danken, will hören, wie dir's geht. Und wenn du Hilfe brauchst, werde ich glücklich sein, dir zu helfen. Wie bist du hübsch geblieben, noch hübscher geworden ohne die garstige Schminke ...!"

Es knackte im Gebüsch. Zehn Schritte vor ihnen stand der andere. Er war nicht zurückgegangen. Das hatte der Lebensunkundige nicht bedacht der da meinte, ein Diener würde immer gehorchen.

Elsbeth schrie nicht auf und weinte nicht. Sie lehnte am Baum und sagte nur: "Es ist genug - genug."

Der Graf sah dem Gegner ruhig ins Auge. Ein kleines Abenteuer der Art brachte ihn nicht aus der Fassung.

"Gewiß," sagte er auf eine Frage, die in Blick und Haltung lag, "gewiß, ich werde Rede stehen."

Franz Röder wandte sich wortlos um und ging ohne besondere Eile zurück. Elisabeth erkannte das Unheimliche in seiner Ruhe.

"Jetzt laß mich nicht allein" bat sie zitternd. Er, an den sie sich nun doch klammerte, verlor keinen Augenblick die Fassung.

"Kein Grund zur Aufregung, liebes Kind," tröstete er, Da mußte sie doch lächeln. "Noch schläft alles im Schloß, niemand weiß von unserem Glück, laß uns gehen. Schön war's, daß ich dich einmal wieder im Arm hatte."

"Ich find's gar nicht schön, ich find's furchtbar. Und was nun kommt ..."

Was soll denn kommen?"

"Ich steh' heut' abend auf der Straße."

"Um so besser, dann kann ich für Dich sorgen."

"Vielleicht in deinem Haus?"

"Natürlich."

"Um Gottes Willen."

Während sie so sprachen und endlich Elsbeth schluchzend auf ihr Bett sank, gab die Baronin eine frühe Audienz. Es hatte jemand höflich gefragt, wann man hoffen dürfe, Frau Baronin zu sprechen. Besorgt, zu erfahren, worum es sich handele, hatte sie sogleich bitten lassen. Die Läden waren noch geschlossen. Unter der elektrischen Birne glänzten die Falten ihres Morgenkleides.

Vor ihr stand, als sie eintrat, ein ernster Mann, der sich auf ihre Aufforderung setzte. Sie hörte ihn ruhig an, daß etwas spielte, wußte sie. Seine Stimme schwankte, als er von seiner Freude sprach, wie ihm zugetragen wurde 'Im Schloß dient Frau Römer'. "Ich müßte sie mir ja nur holen, um mit ihr abzurechnen und Schluß zu machen ... aber jetzt ..."

"Nicht wahr", sagte die Baronin freundlich, "jetzt meinen Sie, man muß auch erst Elsbeth hören. Sie ist nicht schlecht, davon bin ich überzeugt. Graf Hohenberg war bekannt als ein toller Junge, nicht ganz aus eigener Schuld, das muß man zu seiner Ehrenrettung sagen. Er war zu früh sich selbst überlassen und in schwieriger Finanzlage. Aber dann hat er eine harte Schule durchgemacht und ist doch nun auch verheiratet. Wir meinten, er sei verständig geworden. Seine Frau ist leider sehr apathisch, beeinflusst ihn gar nicht. - Ja - Elsbeth werde ich nicht behalten können, und mit meinem Gast muß ich ja nun reden. Er ist Ihnen eine Erklärung schuldig, Sie können dabei sein."

Ach nein, das wollte er nicht.

Noch vor dem Frühstück wurde auch Graf Hohenherg von der Baronin empfangen.

"Warum konnte mir der Mensch nicht meinen Jagdstock besorgen" sagte er, nachdem er sich über die Hand der Baronin gebeugt hatte. Er hatte Römer im Schloßhof gesehen und wußte, daß seine Gastgeberin im Bilde war . "Ich hätte mich bei der kleinen Frau bedankt, ja , bedankt, hätte in Erfahrung gebracht, wie es um sie steht und was ich für sie tun kann. Kein Mensch hätte etwas von unserer Schäferstunde geahnt. Der Jagdstock, den ich nicht bekam, der hat das ganze Unglück angerichtet. Das arme Kind, wie steht sie nun da. Aber das sag' ich dem ganzen Schloß, wenn sie hier rausgeworfen wird, ich nehm' sie mit. Ich bin's Ihr schuldig."

"Nun erklären sie mal", wurde er unterbrochen. "Sie hätten sich bedankt. Bei Frau Römer bedankt, wofür?"

"Nun, daß ich lebe, der ich das Leben so liebe und sich so schwer freiwillig davon getrennt hätte. Daß ich von neuem Mut faßte, als ich ganz fertig war, daß ich die Kraft gewann, noch einmal einen Bittgang zu tun und gerettet wurde und endlich meinen Grund und Boden wieder betreten durfte. Ja, so war's."

Dann erzählte er ruhiger, erinnerte daran, wie er nirgends mehr aufgenommen wurde, wie seine Stanndesgenossen ihm auswichen, und die Baronin sagte sich im Stillen, daß man sich damals mehr um den jungen Menschen hätte kümmern müssen. Er sprach davon, wie er selbst keinen Menschen mehr habe sehen mögen, wie er gemeint habe, es bleibe ihm nur ein letzter verzweifelter Ausweg. "Da hat  s i e  mir den Revolver aus der Hand genommen."

"Das muß Römer erfahren," entschied die Baronin, "er wußte wahrscheinlich so wenig wie ich von einer früheren Bekanntschaft."

"Dann wollen wir's doch schnell erledigen," schlug der Graf vor, damit wir zum Frühstück kommen. Mir hat der Frühspaziergang mächtig Hunger gemacht."

Es wurde doch ein spätes Frühstück, denn zunächst übernahm die Baronin die nötige Aufklärung, und das mußte langsam und taktvoll vor sich gehen. Da man inzwischen auch schon mich gesehen hatte, so bekam ich auch noch zu tun. Meine Hilfe wurde benötigt, Elsbeth hervorzuholen, das Ehepaar sollte hinzugezogen werden. Sie erschien noch vollständig verzweifelt, behauptete, sie müsse unbedingt sterben, so schnell wie möglich, sie werde sich in den Wald setzen und verhungern.

''Vorher wirst du noch vom Gendarm aufgegriffen, paß mal auf, erklärte sehr kühl der Graf zu allgemeiner Belustigung. und zu dem andern sich wendend, "sie hat nämlich stark ihr Köpfchen für sich."

"Das weiß ich," sagte Römer.
Nun ja, ihren "schönen Plan", wie sie ihre Absicht nannte, gab sie auf, aber in den Ehestand zurück wollte sie durchaus nicht. "Hier war es nun so schön" brachte sie heraus, und wieder war sie den Tränen nahe.

Von der Baronin an ein Versprechen erinnert, das sie einmal vor Gottes Angesicht gegeben, sagte sie aufrichtig, sie sei sich ihrer Pflicht bewußt, sie fürchte sich nur so sehr vor der Unsicherheit des Herumziehens. Bei dem heftigen Einwurf "Wer sagt denn, daß wir herumziehen werden?" hätte sie sich am Iiebsten wieder an den geschmiegt, dessen Auge sie auf sich ruhen fühlte.

"Und wenn dein Mann eine feste Stelle findet, wenn er zum Beispiel mein Schloßwart würde? Ich brauche schon lange neben meinem ' Rendanten eine Hilfe im Schloßhaushalt."
"Ja, dann ... aber ich kann ,ja nicht hier bleiben."
"Wenn du zu deinem Mann gehörst, dann bleibt dir nichts übrig, als mit ihm zusammen hier zu arbeiten."
Flüchtig, im kurzen Zeitraum, während der neuernannte Schloßwart der Baronin die Hand küßte, traf sich noch einmal, noch zum Abschied Blick und Blick. Dann streckte Graf Hohenberg die Hand aus, und Franz Römer schlug ein .

"Die Gräfin wird schon auf uns warten, kommen Sie, lieber Graf."

"Mit Vergnügen, gnädigste Baronin."

"Elsbeth, du sorgst, daß dein Mann eine Tasse Kaffee bekommt."
Eine Tasse Morgenkaffee hieß im Schloß so viel wie ein gutes Früchstück. Das war ein Ereignis für die Dienerschaftl Das war ein Feiern und Glückwünschen! Daß am Abend desselben Tages im "Goldenen Adler" noch ein Feiern vor sich gehen würde, das wurde Elsbeth bald klar; sie dachte mit Bangen daran.

"Laß mich noch einmal zurückkehren," bat sie.

"Versteht sich," und er bemühte sich, nicht ärgerlich zu sein. "Ich selbst bring' dich ins Schloß zurück, heut' abend, nicht heut' nacht, du mußt doch morgen wieder deinen Dienst tun. Was denkst du denn? Ich hab' keine Lust, mich schon wieder zu verkrachen, noch eh' ich angefangen hab. Im Gegenteil, mein früherer Herr soll sehn, was er an mir verloren hat."

Da wurde sie ganz ruhig, und er merkte wohl, daß sie ihn zum ersten Mal wieder freundlich ansah.

Meine Schülerin und ich fanden uns zu unserer Pause im Frühstückszimmer ein und nahmen teil an der guten Nachricht und frohen Stimmung. Auch Gräfin Luisa hörte mit Interesse die Geschichte des frohen Wiederfindens, die ihr Gatte in üblich launiger Form - stark gekürzt - erzählte.

Angelika pflückte einen bunten Strauß und stellte ihn Elsbeth auf ihr Zimmer.

Am Tage darauf fuhren die Gäste ab.

Als wir alle auf der Veranda standen, als herzliche Worte gewechselt, Händedrücke getauscht wurden, als ein großer Schein in eine kleine Hand gelangte "zum neuen Hausstand", als der Motor zu rasseln begann und jemand aus reinem Übermut die Hupe drückte, als Wiedersehensrufe erschollen und Tücher geschwenkt wurden, als wir dann alle wieder an unsere Pflicht gingen, da hatte ich die Empfindung, als sei der Vorhang gefallen über einem echten Theaterschlußeffekt.

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Letzte Aktualisierung: 26.09.2007