Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Die Zeit der Handlung.

 

 

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Die Zeit der Handlung.

Die Zeit der Handlung ergibt sich aus Angaben des Dichters und Zusammenhang in folgender Weise: Der erste Akt spielt an einem Tag Anfang September 1830. Der zweite und dritte Akt
spielen beide am selben Tage, am 10. Juli 1831; Rostand überschreibt den zweiten Akt „Ein Jahr später", und das Monatsdatum wird in der siebenten Szene des dritten Akts genannt. Die Angabe „ein Jahr später" bezieht sich also nur auf die Jahreszahl. Die Akte hängen in der Weise zusammen, daß am Schluß des zweiten Akts für den Nachmittag desselben Tages eine Audienz des ,Kaisers angesagt wird, mit welcher dann der dritte Akt beginnt. Der vierte und fünfte Akt hängen ebenfalls zusammen. Der vierte Akt zeigt ein Kostümfest und der fünfte die Ereignisse der darauffolgenden Nacht. Man könnte versucht sein, für den vierten und fünften Akt das Jahr 1832 anzunehmen; denn durch die Angabe „einige Zeit später" wird der sechste Akt in engen Zusammenhang mit dem vorhergehenden gebracht, und für den letzten Akt ist der 22. Juli 1832 als Todestag des Helden gegeben. Die Ansicht laßt sich aber nicht halten, und es muß eine Ungenauigkeit in der Zeitangabe seitens des Dichters angenommen werden. Für den vierten und fünften Akt ist der 11. und 12. Juli 1831 aus folgenden Gründen anzusetzen: Im zweiten und dritten Akt ist von einem Ball die Rede. Nun brauchte damit nicht notwendig das Fest gemeint zu sein, das im vierten Akt vor sich geht, wenn nicht ein bestimmter Umstand dafür spräche: Im dritten Akt entflieht Flambeau in seiner Uniform des kaiserlichen Soldaten. Er verbirgt sich im Park und erscheint am Abend des Festes, wo er nun für eine Maske gehalten wird. Es kann sich demnach nur um das Fest des folgenden Tages handeln. Die irreführende Angabe wird auch durch eine Stelle am Anfang des zweiten Aktes widerlegt. In der zweiten Szene erteilt hier der Herzog den Befehl zu einer Übung, die am frühen Morgen des übernächsten Tages stattfinden soll. Das Eintreffen des Regiments in Erfüllung dieses Befehls bildet den Schluß des fünften
Aktes. Die Ereignisse des zweiten bis fünften Aktes verlaufen also in der Zeit vom 10. Juli vormittags bis zum 12. Juli morgens 1831.

Der letzte Akt spielt nicht unbestimmt „einige Zeit", sondern ein Jahr später, am 22. Juli 1832. Es ist Vormittag; dafür spricht das Erscheinen der Erzherzogin Sophie. Zu dem Kranken,
dessen Leben noch Stunden zählte, wird sie sich zeitig begeben haben. Der Tod des Herzogs ist somit aus der frühen Morgenstunde auf eine etwas spätere Tageszeit verlegt.
Der sechste Akt ist der einzige, der sich bezüglich des genaueren Zeitpunktes mit der Geschichte vergleichen läßt. Im allgemeinen sei über die Zeit von 1830 bis 1832, soweit die Ereig nisse in diesem Zusammenhang in Betracht kommen, folgendes gesagt:
Die zweite Hälfte des Jahres 1830 war der Höhepunkt im Leben des Herzogs von Reichstadt, weil damals ein Königtum Napoleons II. in den Bereich der Möglichkeit gerückt war. Die Bona
partisten hatten nie aufgehört, am Sturz der Bourbonen zu arbeiten, um nach deren Vertreibung den Sohn Napoleons als NapoleonII. auszurufen, und trieben auch nach der Julirevolution eine ausgedehnte Parteipropaganda. Jetzt aber kam hinzu, daß die Entwicklung der Dinge in Frankreich den Wiener Hof in Aufregung versetzte und eine Unterstützung des Herzogs von Reichstadt und seiner Rechte als Rettung in der Not erscheinen ließ. Metternich hat diesen Gedanken vielleicht schon im Juli 1830 erwogen 1), um unter allen Umständen die Form der Monarchie zu retten, sei es auch mit dem schon erkrankten 19jährigen Jüngling an der Spitze. Eine Republik Frankreich gefährdete allein durch das Beispiel die Ruhe Europas, und ganz zuerst wurde die österreichische Herrschaft in Lombardo-Venetien getroffen, das als frühere cisalpinische Republik ein fruchtbarer Boden für revolutionäre Gedanken war. Wenn nun auch mit Louis Philipp, dem „quasilegitimen" 2) Träger der Krone die Monarchie fortbestand, so war die Besorgnis nicht gehoben. In Italien gärte es, und das geschah „im Gedanken, daß Frankreich helfen werde" 3). Louis Philipp war der Beschützer der revolutionären Bewegung, und selbst die Erwägung, daß das Juli-Königtum nicht lange zu fürchten sein werde - war doch Metternich der Ansicht, Louis Philipp werde sich nicht länger als drei Monate halten können 4) --, gewährte keine Beruhigung, da bei einem neuen Umsturz die republikanische Staatsform aus dem Kampf der Parteien hervorgehen konnte. So wurde denn der Reservekronprätendent in Bereitschaft gehaltem. Metternich hatte sich nicht verrechnet. Louis Philipp verzichtete auf den Dank der Aufständischen, um sich die Freundschaft Osterreichs zu erhalten. Im Anfang des Jahres 1831 konnte die Bewegung in Oberitalien niedergeschlagen werden, ohne daß eine Verwicklung durch Eingreifen Frankreichs entstand, was im Herbst 1830 noch zu befürchten gewesen war. Als im Laufe des folgenden Jahres die Unzufriedenheit in Frankreich wuchs, ergingen wiederholt Anfragen an Metternich, die sich auf die Rückkehr des Kaisersohnes bezogen. Wertheimer nennt eine Reihe von Namen französischer Bevollmächtigter, die sich mit einem solchen Auftrage nach Wien begaben 5). Die Verhandlungen - wenn man Anfrage und Antwort so nennen will -verliefen völlig ergebnislos. Frankreich hatte trotz des größten Anrechts die geringste Aussicht auf den jungen Bonaparte. Es gab aber noch andere Kreise, in denen seine Thronbesteigung erwogen wurde. Das beweist allein der Ausspruch Metternichs, daß der Herzog von Reichstadt „von allen Thronen ausgeschlossen" 6) sei. Während des Jahres 1831 kämpfte Polen um seine Freiheit. Für die Krone, die man hoffte vergeben zu können, wurde nach einem würdigen Haupte gesucht. Erzherzog Karl, der Sieger von Aspern, kam in Betracht. Während die Verhandlungen mit Frankreich vor dem Herzog von Reichstadt geheimgehalten wurden, hat er offenbar von der polnischen Anfrage Kenntnis gehabt. Er wußte, daß die Zustände in Polen einem Chaos zu vergleichen waren, und hätte trotzdem nicht gezögert, die Krone anzunehmen 7). Er erlebte noch die Niederwerfung der Revolution im September 1831. In Griechenland löste eine provisorische Regierung die andere ab, bis kurz nach dem Tode des Herzogs ein bayrischer Prinz seinen Einzug als König hielt. Über Griechenland brachte Prokesch Ritter von Osten genaue Nachrichten nach Wien. Er erwog den Gedanken, die Mächte auf den Herzog von Reichstadt als Kandidaten aufmerksam zu machen, und sah eine Schwierigkeit nur im Glaubenswechsel, der für den künftigen König notwendig gewesen wäre 8). Derartige Pläne scheiterten alle an der fortschreitenden Krankheit des Herzogs. Im Herbst 1831, als er seinen Dienst nicht mehr versehen konnte, kam der Herzog von Reichstadt für die Politik nicht mehr in Betracht.

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1) Srbik, Metternich I p.673.
2) ibid. p. 651.
3) ibid. p.671.
4) ibid. p.652.
5) Zu vergl. Wertheimer, Der Herzog von Reichstadt p.332, 339 u. 386.
6) Aus den Tagebüchern des Grafen Prokesch von Osten p.71. Tagebuchaufzeichnung vom 27. Dezember 1830.
7) Zu vergl. Wertheimer a. a. 0. p. 350.
8) Zu vergl. Bourgoing, Aus den Papieren des Herzogs von Reichstadt p. 122.

 

 

 

Ottilie Lemke (1929)


 


Letzte Aktualisierung: 14.11.2005