Der historische Hintergrund zu dem Drama von Edmond Rostand „Der junge Adler" (L'Aiglon)

Vorwort

 

 

Zurück

Vorwort.
Fabel. Stellung des Dramas unter den anderen Werken Rostands. Grundgedanke. Wirkung. Zeitgenössische Kritik.

Am 15. März 1900 erlebte Edmond Rostands Drama „Der junge Adler" am Theater Sarah Bernhardt seine Erstaufführung. Die Fabel ist einfach. Der Sohn Napoleons I. ist am österreichischen Hofe erzogen worden und hat allen Versuchen, zum Habsburger gemacht zu werden, Widerstand geleistet. Er trägt den Titel Herzog von Reichsstadt, fühlt sieh aber als Sohn seines Vater und träumt davon, den Thron Frankreichs zu besteigen. Trotz eifriger Überwachung seiner Person bestehen Beziehungen zwischen dem Prinzen und der Partei der Bonapartisten. Als es seinen Freunden gelingt, ihn von dem Mißtrauen gegen sich selbst zu befreien, beschließt er, zu handeln. Der Kaiser ist schon für den Plan der Thronbesteigung gewonnen, als Metternich mit niederschmetternden Worten, die denPrinzen moralisch schwächen sollen, die Hoffnung zerstört. In der Hauptsache jedoch verfehlt er seinen Zweck den Kaiser konnte er umstimmen, den Sohn Napoleons nicht. Der Prinz ist jetzt dem Gedanken der Flucht zugänglich. Auf einem Kostümfest übernimmt seine Kusine, Napoleone Camerata, in geschickter Verkleidung seine Rolle, so daß er entfliehen kann. Auf der Ebene von Wagram trifft er mit den Verschwörern zusammen. Hier erfährt er, daß ihm von einem Mörder nachgestellt wird, dem nun die Prinzessin in ihrer Verkleidung zum Opfer fallen muß. Bei diesem Gedanken schrickt er vor dem Aufbruch zurück. Als Napoleone nach glücklichem Kampf, in dem ihr Gegner gefallen ist, unverletzt erscheint, ist es zu spät. Der Plan ist entdeckt worden. Der Prinz sieht sich von Österreichern umgeben und kehrt nach einer schauerlichen Vision, seelisch gebrochen, nach Schönbrunn zurück, wo er nach einiger Zeit stirbt.

Die Todesszene bildet den kurzen sechsten Akt, der nur in schwachem Zusammenhang mit dem zu Ende geführten Drama steht und von dem Dichter selbst „Epilog" genannt worden ist.

Rostand kennzeichnet die einzelnen Akte durch kurze Überschriften, die den Fortgang der wenig bewegten Handlung erkennen helfen und in freier Wiedergabe lauten: Im Werden, Flügge, Kampfbereit, Verwundet, Müde, Tot 1).

Das Drama unterscheidet sich deutlich von dem nächsten darauffolgenden, dem „Chantecler", in welchem der kleine Mensch, der sich überschätzt, das Problem des Dichters ist. Es zeigt andererseits eine unverkennbare Verwandtschaft mit den beiden voraufgehenden. Rostand schrieb den „Cyrano von Bergerac" „die Samariterin" und „den jungen Adler" in einem gleichen Stadium seiner Entwicklung. In diesen drei Dramen bricht er eine Lanze für die Verachteten, Andersgearteten und Geschädigten. Der Makel der Zugehörigkeit zu einem Pariahvolk, die große Masse der Neider und ein einzelner persönlicher Feind sind die feindlichen Gewalten, die dem Helden entgegenstehen. Dieser Kampf ist das Gemeinsame; es überwiegt den Unterschied, der vielleicht in der Hauptsache in folgendem besteht: Die Tochter des verachteten Volkes kommt zu einer Würdigung, Cyrano findet neben seinen Feinden auch Freunde, während das Leben des im Purpur Geborenen völlig wirkungslos verläuft. Die Zusammenhänge waren nicht beabsichtigt und zeigen sich erst, wenn man das Schaffen des Dichters aus weitem Abstand betrachtet. Rostand selbst drückt seine Absicht bei der Abfassung des dritten Dramas - soweit bei künstlerischem Schaffen von Absicht die Rede sein kann - in den Worten aus: "Ich habe ein Stück voller Leben und Leidenschaft schreiben wollen" und in diesem Stück sollte in verschiedener Form derselbe Gedanke immer wiederkehren. 2) Die Form für diesen Gedanken scheint mir die angestrebteund gefürchtete Thronbesteigung Napoleons II. zu sein. Den Grundgedanken sehe ich in der Bestimmung des Menschen zum Kampfe, wobei der wahrscheinliche Ausgang vielleicht anspornend, niemals entmutigend wirken darf. Es ist derselbe Gedanke, den ein anderer Franzose in die Worte faßt: Es mag sein, daß der Mensch vergänglich ist; aber laßt uns nicht ohne Widerstand untergehen, und wenn das Nichts uns bestimmt ist, so laßt es unverdient sein. 3).

Es war „der junge Adler'', welcher dem Dichter die Pforten der Akademie üffnete. Am 4. Juni 1903 hielt Rostand seine Aufnahmerede.
So hatte sich doch eine Mehrheit für das Werk ausgesprochen, dessen unbefangener Beurteilung zunächst manches im Wege stand. Die Dynastie des Helden gehörte noch nicht allein der Geschichte an. Erst vor einem Menschenalter hatte ein Bonaparte, ein Vetter des Herzogs von Reichstaft, den französischen Thron inne gehabt. Es hieß also mehr oder weniger Politik treiben und Stellungnahme zur bestehenden Staatsform verraten, wenn man sich der Anteilnahme nicht verschloß. die der Dichter für einen Angehörigen der Familie Napoleons III. erweckte. Rostand selbst hielt es für gut, sich durch ein kurzes Eingangswort gegen den Vorwurf politischer Hintergedanken zu verwahren:

Nein, die Sache sei nach Für und Wider
Nicht geprüft im Stile des Gerichts ...
Nur das Schicksal eines armen Kindes
Künden diese Blatter, weiter nichts. 4).

Die Warte stehen nicht zufällig gerade unter der Widmung; denn wenn irgendwo, so ist aus dieser und vielleicht noch aus dem Motto ein Bedauern herauszulesen, daß die Geschichte Frankreichs gerade jene Wendung nehmen mußte. Die Widmung lautet: „Meinem Sohne Moritz und dem Andenken seines heldenhaften Urgroßvaters Moritz, Graf Gerard, Marschall von Frankreich." Dieser Graf Gerard, Großvater von Rosamunde Gerard, der Gattin des Dichters, hatte unter Napoleon I. gekämpft und teil am Siege von Ligny gehabt. Die Erwähnung seines Namens an dieser ehrenden Stelle kann also als Huldigung aufgefaßt werden, die Rostand der großen napoleonischen Zeit darbrachte. Es ist aber auch denkbar, daß der Name nur deshalb in der Widmung steht, weil Rostand in der Erinnerung an diesen Vorfahr der Familie seiner Gattin die erste Anregung zur Bearbeitung des Stoffes gefunden haben mag.

Mit dem Motto verhält es sich ähnlich. Es ist das Wort Heines: "Man kann sich den Eindruck nicht vorstellen, den der Tod des. jungen Napoleon hervorrief; sogar junge Republikaner sah ich weinen." 5) Auch hier findet sich eine naheliegende Erklärung. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Worten des Mottos und der Fabel, handelt es sich doch durch das ganze Stück um die Hoffnung, den Kaisersohn zurückkehren zu sehen.

Nachteilig mußte auf die Beurteilung die Tatsache wirken, daß an dem ruhmlosen Blatt der französischen Geschichte, das noch dazu außerhalb Frankreichs geschrieben war, das National
empfinden schwerlich erregt werden konnte und daß einem Helden, dem wie Cyrano weder Rose noch Lorbeer zuteil wird, der Reiz der Neuheit fehlte.

Von Bedeutung war ferner, zumal bei der Erstaufführung, die Besetzung der Titelrolle. Für seinen Cyrano hatte Rostand einen idealen Darstellergefunden. Frau Sarah Bernhardt ver mochte bei aller Kunst nicht so überzeugend einen Herzog von Reichstadt zu schaffen, wie Coquelin der Gascogner gelungen war. Sie besaß die schlanke, gerade Gestalt, die für ihre Rolle notwendig war, ihre Bewegungen waren zugleich anmutig und elegant. Ihr erstes Erscheinen, wobei sie einige Minuten stillschweigend dazustehn hatte, war nach dem Bericht einer Augenzeugin von größter Wirkung; aber schon die ersten Worte zerstörten die Illusion. Die Stimme des 20jährigen Jünglings, den man zu sehen glaubte, war die einer Frau. Darüber konnte: die vollendete Kunst nicht hinwegtäuschen, mit welcher Sarah Bernhardt Rostands Verse, man möchte sagen, zu interpretieren wußte, so daß sie auch mit manchen Szenen einen Sturm der Begeisterung erregte. Am wenigsten vermochte sie den gänzlichen Mangel an Minenspiel vergessen zu lassen, so gut und getroffen auch die Maske war.

Die. zeitgenössische Kritik ist nicht günstig. Rene Doumic faßt seine Betrachtungen in das Urteil zusammen: „Ein wenig zusammenhängendes Stück, in dem die fortreißenden Punkte der Handlung zu wünschen übrig lassen, von dem man aber einige ansprechende Stellen, hübsche Verse und Wortspiele im Sinn behält." 6) Das Urteil trifft zu, aber es ist nicht erschöpfend. Länger hält sich der Kritiker bei den Fehlern auf. Doumic tadelt die langen Tiraden aus dem Munde irgendeiner Person über irgendeinen Gegenstand, die possenhafte Erscheinung Flambeaus, der mit der Pfeife im Munde aus seinem unterirdischen Versteck hervorkommt, den Helden, der im ersten Akt zögert und im letzten Akt immer noch zögert, die verzerrte Gestalt Metternichs, der zum melodramatischen Bösewicht wird. Doumic gesteht dem Dichter das Recht nicht zu, die großen historischen Personen gar zu sehr abzuwandeln. Nur wo er unbestimmte Züge vorfand, durfte der Dichter nach seinem Willen ausmalen; was den Helden betraf, blieb nicht einmal etwas anderes übrig; denn „da der Herzog von Reichstadt im Leben nichts getan hatte, so war es schwer, ihn auf der Bühne etwas tun zu lassen". Als erwiesen bleibe von dem historischen Herzog von Reichstadt nur sein Schmerz über seine Untätigkeit, und diese führt Doumic, ohne tiefere Gründe aufzusuchen, auf das allgemeine mal du siècle zurück, unter dem in jener Zeit noch viele seiner Altersgenossen zu leiden hatten. Eine richtige Beurteilung hält Doumic für unmöglich bei des Prinzen frühem Tod 7). So schrieb der französische Kritiker im Jahre 1900. Seither hat Eduard von Wertheimer das in den Archiven Gegebene verarbeitet und Bourgoing die Niederschriften des Schülers und Jünglings fast vollständig herausgeben. Beide Arbeiten 8) ergänzen sich und ergeben ein sehr klares Lebensbild.

Schlimmer noch als bei Doumic ergeht es dem Dichter bei Frederic Masson 9). Im Gegensatz zu Doumic geht Masson bei seiner Beurteilung davon aus, daß der Dichter nicht nur das Recht,
sondern die Bestimmung habe, mit den historischen Personen frei zu schalten; daher seien die geeignetsten diejenigen, deren Bild am unbestimmtesten ist, hier sei das Feld für die frei schaffende Phantasie am größten. Der Versuch historischer Treue sei der Fehler des Dramas. Rostand hätte nicht versuchen sollen, das Geheimnis zu lüften, das immer das Leben des Helden umgeben werde, sondern ihn ausdenken, wie er hätte sein können. Masson macht den Versuch, das historische Urbild des Helden zu zeichnen. Da findet sich das Märchen von des Prinzen völliger Unkenntnis über die Schicksale seines Vaters, die geistige Verdummung, auf welche seine Erziehung berechnet gewesen sei; und wenn Masson dem Prinzen Vorliebe für alles Militärische läßt, so fügt er geringschätzig hinzu: wie sie eben die Prinzen haben.

Es sind die Ansichten, die Masson in seinem Buch «Napoleon et son Fils» entwickelt. In diesem Zusammenhang sei kurz auf das Buch eingegangen. Massen stellt eine minderwertige
geistige Begabung des Prinzen fest und führt diese auf die Abstammung aus der alten Familie der Habsburger zurück; das korsische Blut wird bei dieser Behauptung ganz außer acht gelassen. Der schwächste Beweis ist der der Handschrift. Das Fehlen des Zusammenhanges zwischen den einzelnen Buchstaben soll ein Zeichen von geistigem Tiefstand sein.
Das unangebracht Komische tadelt wie Doumic auch ein Italiener 10). In zunächst auffälliger, aber berechtigter Heranziehung der deutschen Dichter schreibt Menasci: „Wenn Rostand
wie Schiller das Glück gehabt hätte, mit Goethe zu korrespondieren, so würde ihm dieser gesagt haben, daß die Verkleidung des Herzogs und seiner Kusine ein Sprung in die komische Oper ist; „aber", fährt Menasci fort, „die komische Oper ist etwas französisch", womit er sagen will, daß die Franzosen in ihrer Komik zur Übertreibung neigen.

Selbst die günstige Kritik Mühlfelds 11) scheint mir nur ein zweifelhaftes Lob zu sein: „Der junge Adler" ist unbestritten das Meisterwerk Rostands, und es ist erstaunlich, daß ein Drama den Zuhörer fesseln und seine Aufmerksamkeit erwecken kann ohne Liebe, ohne Intrigue, nur durch die schönen Charaktere und Gedanken und durch den Zauber der Verse."

Oscar Mügge, der sich in zwei kürzeren Arbeiten 12) mit Rostand beschäftigt und voller Bewunderung für dessen Verse ist, findet, daß das Drama keinen Helden habe, eine Beanstan dung, in der ich nur eine rein persönliche Auffassung sehen kann. Der Held erhebt sich genügend über seine Umgebung durch die hohe Aufgabe, die ihn erfüllt, durch seine Seelengröße und eine leichte Ironie. Sein Zögern ist kein Mangel, sondern die im Drama notwendige tragische Schuld.

Die Vision im vierten Akt, womit Rene Doumic, der schwer zufriedenzustellende Kritiker, nicht einverstanden ist, findet ihren Verteidiger in einem englischen Kritiker 13). An die Geisterwelt Shakespeares gewöhnt, konnte begreiflicherweise der Engländer jene Stelle nicht befremdend finden. Er vergleicht das Drama in dieser Hinsicht mit Macbeth.

Mehr Ähnlichkeit besteht meines Erachtens mit Hamlet. An einer Stelle wird der Herzog auch als Hamlet in österreichischer Uniform bezeichnet, als „weißer Hamlet" 14). Rostand fürchtete
sogar eine zu große Ähnlichkeit mit dem Hamlet Shakespeares. Deshalb führte er Szenen von komischer und solche von rein künstlerischer Wirkung ein, die zum Aufbau des Dramas nicht unbedingt notwendig waren 15).

Die Ähnlichkeit besteht in folgendem: dem Sohn Napoleons wie dem Prinzen von Dänemark vorenthält das Schicksal das väterliche Erbe. Beiden auferlegt die Erinnerung an ihren Vater
eine heilige Pflicht; sie entschließen sich nur schwer zur Tat. Beide enden früh durch ein in gleichem Maße tragisches Geschick.

-------------------------------
1) Les ailes qui poussent. Les ailes qui s'ouvrent Les ailes qui battent. Les ailes meurtries. Les ailes baissées. Les ailes fermées..
2) Oppeln-Bronikowsky, Edmond Rostand in Westermanas Monatsheften 1907.
3) L'homme est périssable, il se peut. Mais périssons en résistant. Et si le néant nous est réservé, faisons que ce soit une injustice. Worte von Senancour, angeführt bei Graf Hermann Kayserling, Wiedergeburt p.147.
4) Grand Dieu! Ce n'est pas une cause
Que j'attaque ou que je défends .
Et ceci n est par autre chose
Que l'histoire d'un pauvre enfant.
5) H. Heine, Französische zustände Bd. 9 der sämtlichen Werke. Leipzig s. a. p. 152.
6) Revue des Deux Mondes 1900.
7) ibid.
8) Eduard v. Wertheimer, Der Herzog von Reichstadt. Jean de Bourgoing, Aus den Papieren des Herzogs von Reichstadt.
9) Revue de Paris 1900.
10) Guido Menasci, Nuova Antologia 1901.
11) Lucien Mühlfeld in 1'Echo de Paris, angeführt bei Catulle Mendes, Le Mouvement Poetique Frangais p.259.
12) Friedeberger Schulprogramme 1903, 1912.
13) Kritik in der Zeitschrift „The Athenaeum" 1. Juni 1901, angeführt bei Oscar Mügge, Ed. Rostand I p. 18.
14) Akt 4 Sz. 2.
15) Oppeln-Bronikowsky a. a. 0.

Ottilie Lemke (1929)

 

 


Letzte Aktualisierung: 07.11.2005