In Memoriam

Zur 100. Wiederkehr des Todestages von
Marie Eckhardt, geb. Stein
im Alter von 36 Jahren gestorben am 21.10. 1856

von ihrer Enkelin Ottilie Lemke
Wehrda Kreis Hünfeld, den 21.10.1956
2005, zur Wiederkehr des 150. Todestages, von ihrem Ur-Ur-Enkel Jost Schaper aufgearbeitet.

Es gewährt einen schönen Anblick, das Jugendbildnis von Mutters Mutter.
Es stellt ein junges Mädchen dar in der Mode, von der Ranke gesagt hat, lieblicher habe sich das weibliche Geschlecht nie getragen. Ein schlichtes Kleid, eng über den Schultern anliegend setzt die feine Linie des Halses fort, der sich frei aus Marie Eckhardt, geb. Steindem leichten Spitzenkragen erhebt. Von den langen Locken umrahmt, die jeden Morgen sorgfältig über ein Lockenholz gebürstet wurden, ein Antlitz in vollkommen regelmäßigem Oval. Tiefe Ruhe im Ausdruck, wie nur jemand sie zeigen kann, dem leidige Arbeit, Hast und Sorge fremd sind. Auffallend ernst, die Augen. Der Mund könnte sich eben über dem Wort geschlossen haben: "Ich kenne meine Mission."
Marie war die jüngste Tochter des königlich sächsischen geheimen Finanzregistrators Stein und kam im Jahr 1819 in Dresden zur Welt. Neben ihr wuchsen noch drei Brüder und drei Schwestern heran. Ein schönes Heim umschloß in geruhsamer Zeit Eltern und Kinder. Man war nach den Stürmen der Jahrhundertwende zur alten Ordnung zurückgekehrt, und was sich an Kämpfen entwickelte, das lag noch ganz im Keim. Der Kreis eines verantwortungsvollen Beamten in gesicherter Stellung blieb davon unberührt. Vater und Mutter waren gütig und zufrieden; das spricht deutlich aus einem Bild, das auch von den Eltern erhalten ist. Die Kinder hatten es gut. Für die Jüngste herrschte eine gewisse Vorliebe, nicht unverdient, stellt doch der Vater ihr das Zeugnis aus, sie habe, so lange sie im Elternhause war, die Eltern nie betrübt. Ihrem edlen Sinn entsprach ihre Erscheinung sie hieß in ihren Kreisen "die schöne Marie".

Marie hatte eine Freundin, die sich nach Stuttgart verheiratete. Sie hieß Frau [Bertha, lt. Taufschein von Marie Lemke, geb. Eckhardt, auf dem sie als Taufzeugin, zusammen mit ihrem Mann Traugott Bromme aufgeführt wird.] Bromme, der Mann, war Buchhändler. Zart von Gesundheit und auch darum vielleicht nicht gleich in einigem Verkehr, bangte sich Frau Bromme nach ihrer Dresdener Freundin und lud Marie nach Stuttgart ein. Nun war Württemberg damals ein fremdes Land, und die Reise zur Hauptstadt, dauerte vier Tage. So waren denn die Eltern sehr besorgt als Marie sie um die Erlaubnis bat, der Einladung Folge zu leisten.

Endlich, als sie erkannten, welches Herzeleid sie der Tochter durch Versagen bereiteten, gaben die Eltern nach. Marie war glücklich. Sie wußte, daß sie der Freundin eine Hilfe sein würde, und freute sich darauf. Mit dem Mut der Jugend erklärte sie alle Schwierigkeiten der Reise als leicht zu ertragen.
Eines Tages ließen die Eltern einen Maler kommen. Der sollte die Tochter zeichnen, sie wollten ein Bild von ihrem Liebling haben. Marie begriff den Schmerz der Ihren. Obwohl man sie bat, so fröhlich und mutig dreinzuschauen, wie man es an Ihr gewöhnt war und liebte, vermochte sie es nicht, sich zu einem erzwungenen Lächeln zu entschließen.
Der Künstler redete ihr nicht zu, er war entzückt von seinem Modell. Nein, sie sollte keine besondere Stellung einnehmen. Er wollte keinen Augenaufschlag, keine Hand an der Wange, keinen seidenen Schal mit tiefen Falten. So still und ruhig dasitzend im einfachen Kleide gefiel sie ihm am besten. Die Eltern und alle, die fertige Bild sahen, mußten zugeben, daß ein sehr schönes Bild entstanden war.
Dann kam der Abschied. Der Vater versah die Tochter mit Reisegeld. Die Mutter hatte ihr geholfen, anzuschaffen, was sie irgend brauchen würde und versah sie reichlich mit Mundvorrat, daß sie ja nicht Mangel leide auf der weiten Reise.
Unter heißen Tränen wurde sie umarmt. Sie versprach, gleich zu schreiben, und fuhr mutig in die Welt.

Sie hielt Wort. Ihr erster Brief brachte neben dem Dank, daß sie der Freundin etwas sein durfte, einen Bericht über so manches Fremde und daher Merkwürdige. Vom oder zum Markt - dass hatte sie noch nicht erkannt - trugen die Frauen auf einem Kissen von besonderer Form die Last auf dem Kopf. Und wenn dann der Inhalt des Korbes in einer Gans bestand, die, an Schwingen und Füßen unbeweglich gemacht, ihren langen Hals um so lebhafter nach allen Seiten herausstreckte und ihren roten Schnabel nicht zumachte, dann mußte Marie herzlich lachen. Vom anderen Klang und Wortschatz der deutschen Sprache schreibt sie nicht nichts, sie muß sich Mühe gegeben haben, sich bald hineinzufinden.

Frau Bromme vergalt Liebe mit Liebe. Und hatte sie eine Freundin, so hatte ihr Gatte einen lieben, treuen Freund. Anders als Marie es von den Beamtenkreisen ihres Vaters kannte, war hier die Unterhaltung der Herren; sie sprachen oft über die noch nicht fern liegende Vergangenheit des Bundesstaates und dessen nächste Zukunft. Hatten sie dann ihre Gedanken ausgetauscht, so rief Frau Bromme zu behaglichem Mahl, bei dem zum Nachtisch oder zum Kaffee das feine württembergische Gebäck nicht fehlte. Die Unterhaltung mit den Damen blieb auf engeren freundlichen Gebieten.
An einem solchen Besuchstage machte Marie die Bekanntschaft des Kaufmanns Gottlob Eckhardt. Da geschah's, daß Herr Eckhardt insgeheim den Herrn Bromme fragte, wer die reizende Freundin seiner Gattin sei, und daß Fräulein Stein zu Frau Bromme sagte: "Wer ist denn der Herr Eckhardt, der heute bei euch zu Besuch war?" "Er ist ein reicher Kaufmann, hoch angesehen über Stuttgart hinaus", war die Antwort, "und doch ist er zu beklagen. Er ist zum zweiten Mal Wittwer geworden, er hat das Haus voller Kinder. Den Buben hat er einen Hauslehrer gegeben, für die Mädchen findet er das mutterlose Haus nicht das Rechte. Die sechzehnjährige Älteste, die einzige Tochter aus seiner ersten Ehe, ist in einem Institut in der Schweiz, die beiden jüngeren sind in Augsburg bei einer Schwester seiner vor kurzem verstorbenen Frau. Das Haus mit dem Geschäft dazu ist immer noch groß genug, daß eine Frau dort fehlt." Maries Herz schlug heftig. Sie hatte noch kaum an Ehe gedacht und gewiß nie im Stillen die Bedingung erwogen, daß sie verwöhnt werden wolle. Ihr hatte die im Elternhaus erfahrene Verwöhnung nicht geschadet, sie nur liebreizender und hilfsbereiter gemacht.

Es kam zum Verlöbnis. lm Jahr 1846 war Marie Stein die Braut des Kaufmanns Gottlob Eckhardt. Das bedeutete als erstes die Änderung ihrer Staatsangehörigkeit. Sie war bisher das Kind es Sachsenlandes geblieben. Nun war es nicht mehr dasselbe mit dem Rechtsschutz der Heimat.
Gottlob führte sie zum Stadtpfleger und bezahlte dort 75 Gulden und 30 Kreuzer. Damit trat seine Braut unter den Rechtsschutz des Königreichs Württemberg. ,
Bis zum Einzug in das große Kaufmannshaus war es noch einige Zeit hin. Die Eltern hatten sich einer schmerzlichen Empfindung nicht erwehren können, als Marie ihnen ihren Entschluß kund gab und um Ihre Zustimmung bat, mußten sie doch ihre schönste Hoffnung aufgeben. Wie oft hatten sie schon davon gesprochen, daß Marie nun wohl bald heimkehren würde. Aber durften sie ein "Nein" aussprechen? Es gab ja keine andere Zukunft für ein Mädchen. Es gereicht ihnen zur Ehre, daß sie nicht in törichter Eigenliebe, die erwachsene Tochter an das Elternhaus fesselten in einer Zeit, als nach Recht und Gewohnheit die Eltern den Gatten bestimmten. Eine Tochter war schon in Leipzig verheiratet, die jüngere hatte dasselbe Recht. So konnte denn Marie ihrem Verlobten sagen, daß ihre Eltern ihren Segen zu dem Bunde gaben. Sie galt nun als die neue Mutter. Gottlob führte sie oft in sein Haus, stellte ihr seine sechs Buben vor und erzählte ihr von seinen Töchtern. Er bat sie, recht häufig vorzusprechen, sie kam und tat ihr Möglichstes, das Herz der Kinder zu gewinnen.
Bevor sie in ihren neuen Lebens- und Wirkungskreis eintrat, fuhr Marie noch einmal nach Dresden. Es war ein glückliches, rührendes Wiedersehen. Aus Leipzig kam die Schwester zu Besuch, denn Leipzig und Dresden waren schon durch die neue Erfindung des Dampfwagens verbunden. Durch einige Anschaffungen an Kleidern und Wäsche wurde noch die Aussteuer ergänzt. Nach Ihrer Rückkehr trat Marie auch mit den entfernten Kindern durch Briefwechsel in Verbindung. Am freundlichsten zeigte sich Elise, die Älteste. "Ich freue mich darauf", schrieb sie aus Lausanne, "Dir, liebe Mutter, nun bald eine folgsame, liebe Tochter zu sein."
Am 19. April des Jahres 1847 fand die Trauung statt, der eine schlichte Hochzeitsfeier folgte. Nun fand Marie ihr Heim in dem großen Giebelhaus in der Kronprinzenstraße. Julius, der älteste Sohn, der rechte Bruder der Elise, war ein genialer Junge mit feinen, der Zeit entsprechend, etwas romantischen Ansichten und Manieren. Er machte in Erziehung und Leitung keine Mühe, hatte nur leider keinen Einfluß auf die wilde Schar der jüngeren. Diese, die Kinder der hochgebildeten, temperamentvollen zweiten Frau, die später die Firma auf eine bedeutende Höhe brachten, ihre Waren in Wien, London, Paris und Übersee verkauften, waren von der sanften Marie nicht leicht zu lenken.

Damit seine junge Frau sich einmal ausruhen könne, nahm Gottlob fünf Buben zu einem mehrtägigen Ausflug im Sommer mit. Bald zu Fuß, bald zu Schiff ging's durch die herrliche schwäbische Landschaft. Man besuchte Bekannte und war zur Nacht willkommen in einem größeren der freundlichen Gasthäuser, deren es noch viele gab, denn das Eisenbahnnetz war noch weitmaschig. Es war ja kaum länger her als ein Jahrzehnt, daß die große Neuigkeit der Eisenbahn Nürnberg-Fürth in allen Blättern beschrieben und in allen Familien besprochen wurde. Von der Geschwindigkeit, hieß es damals, könne man sich einen Begriff machen, wenn man bedenke, daß ein Fahrgast nicht zum Genuß seiner Zigarre gekommen sei; in Fürth war er eingestiegen, und ehe sein Feuerschlagen von Erfolg gekrönt war, hatte er in Nürnberg aussteigen müssen.

Von unterwegs schrieb Gottlob eifrig nach Stuttgart "Von jeder schönen Aussicht", heißt es in einem Brief, "wird ein Blümchen gepreßt und für Dich mitgenommen". Er schrieb absichtlich nicht, daß er dies tue, die Knaben sollten teil an dem Liebeswerk haben, und sie hatten ja die Blümchen auf seine Anregung vom Abhang geholt. Zuhause waren Hilfskräfte reichlich vorhanden, langjährige, geschulte Leute, Gottlob wußte sowohl Julius, als auch den kleinen Theodor wohl versorgt; so hätte er es denn gern gesehen, daß seine Frau ihm nach gereist wäre. An einem kleinen schwäbischen Ort ging er voller Erwartung rechtzeitig zur Haltestelle des Postwagens. "Aber siehe da, keine Frau, jedenfalls nicht meine", schrieb er des Abends an Marie. Er tröstete sich im Gedanken an die Geschäftsreise, die er demnächst unternehmen würde. Dann sollte sie ihn begleiten, schrieb er im selben Brief, und dann wollte er ihr vom Dampfschiff aus die Höhen zeigen, die er mit den Buben erstiegen hatte.

Geschäftlich hatte Gottlob, wenn nicht Sorgen, so doch mancherlei Besorgnisse, denn eine unruhige, stürmische Zeit war angebrochen. Im Jahre 1847 feierte man noch friedlich das Weihnachtsfest, bei dem Marie doch staunte über die "Gutleplatten", nicht -teller unter den reichen Gaben. Dann brach ein bewegter Frühling an. Gottlob, auf Seiten der Fortschrittler, stand zu seinem Landsmann Professor Uhland aus Tübingen. Als die Glocken der Paulskirche die Eröffnung des ersten deutschen Parlaments verkündeten, als eine neue Zeit anzubrechen schien, erhöhend, ja vollendend, was endlich sich Bahn gebrochen hatte, als der Deutsche sich nun "frei und stark für immer" wähnte, da teilte Gottlob die allgemeine Freude und Erwartung und ruhte nicht, bis er sich die Erinnerungsmedaille an "das erste deutsche Parlament" verschafft hatte. Die Münze trug noch den alten doppelköpfigen Reichsadler mit seinen starken Fängen, und unter den mancherlei Emblemen fehlte auch die Krone nicht, wollte man doch eine Krone vergeben.
Jedoch an einem Haupt für die Krone und an mehr noch fehlte es dem "Deutschen Parlament". Das Volk aus "des Deutschen Vaterland" war in einem jeden seiner Stämme n i c h t vertreten, und die hohen Häupter fehlten alle.

Gottlob gehörte zur Stuttgarter Bürgerwehr. So kam's, daß er ein halbes Jahr später, traurig und enttäuscht, in den Reihen derer stand, die dem Rumpfparlament den Fang zu geben hatten. Es war ein trüber, regnerischer Tag, als er den Uniformrock anlegte und das Koppel mit Schußwaffe umgürtete. Sein Herz war schwer, besorgt um die Zukunft Deutschlands, um die Entwicklung seines Geschäfts; was er lagerte und in Aus- und Inland verschickte, war Spielzeug für die Kleinen, Tand für die Großen, beides bis zum Luxus.
Marie blickte noch ihrem Gatten nach. Dann wollte sie einen Brief schreiben. "Liebe Schwägerin ..." so begann das Schreiben an Frau Lotter, Gottlobs einzige Schwester. Die Sorge um den geliebten Mann drängte sich in ihre Gedanken und bewegte ihr Herz. Einen ernsten Kampf fürchtete sie nicht, dazu würde es nicht kommen. Es war nur ein ungesundes Wetter, Gottlob könnte sich erkälten. Das war's, wovon sie der Schwägerin schrieb. Er gehörte ja nicht mehr zu den ganz jungen mit seinen 48 Jahren. Gottlob kam gesund, nur sehr niedergedrückt nach Hause. Noch im selben stürmischen Jahr kam das erste Kind der dritten Ehe zur Welt. Es war eine gesunde wohl gebildete Tochter und wurde auf Wunsch des Vaters Marie getauft, nach der Mutter.

Mit den Eltern in Dresden blieb der innige Zusammenhang bestehen. Noch vor der Geburt des Kindes hatte Marie ihren Mann um einen großen Gefallen gebeten. Und was hätte er ihr versagt! So ließ sie denn eines Tages den sechs Buben den Sonntagsstaat anziehen, und mit dem Vater und allen Kindern, die zu Hause waren, begab sie sich in das neu eröffnete "photographische Atelier". Die Kinder fragten, was sie dort zu tun hätten oder was mit ihnen geschehen werde, und waren erstaunt zu hören, daß sie sich nur nach den Angaben des Photographen hinsetzen sollten. Dann freilich mußten sie ein paar Minuten ganz still sitzen. Gottlob wurde bedeutet, daß er rechts von der Dame Platz nehmen müsse. Der Photograph erklärte, daß die Aufnahme im Spiegelbild erscheinen werde. Er mußte mehrmals vom Lösen der Wunderklappe absehen, unter dem schwarzen Tuch hervorkommen und ermahnen und warten, denn da und dort drehte sich ein Köpfchen oder bewegte sich eine kleine Hand. Endlich fiel das erlösende Wort: "Ich danke, meine Herrschaften".
Der kleine Karl hatte zwar den Mund zu einem Lächeln verzogen. Es zeigte sich .jedoch später, daß auch sein lustiges Gesicht klar wiedergegeben war. Nach mehreren Tagen wurde die kostbare, zerbrechliche Platte in der Kronprinzenstraße abgeliefert und vielen gezeigt.

Alle waren der Bewunderung voll. Dann kaufte Marie einen teuren Ledergeschnitzten Rahmen und schickte das schöne Geschenk sorgsam verpackt nach Dresden, wo das wohl gelungene Bild neue Bewunderung fand. Vater Stein interessierte sich vor allem für den Schwiegersohn. Mit großer Befriedigung sagte er, daß man beruhigt sein könne, ja, von Glück sagen müsse, denn man wisse die Tochter in der Hut einen Mannes, dessen Gesichtszüge unverkennbar von Klugheit und Ehrenhaftigkeit zeugten.
Noch vier gesunden Kindern schenkte Marie das Leben.
Dem heranwachsenden Mariele folgten drei Buben und ein Mädle. Als Mariele sechs Jahre zählte und zur Schule ging, die größeren Kinder auswärts in Lehre oder schon Beruf standen, die Kleinen von guten Dienstboten treu versorgt wurden, da konnte Marie den Wunsch nicht verhehlen, Eltern und Geschwister wieder zu sehen. Elise war inzwischen aus der Pension nach Hause gekommen und hätte nun sehr gern die Mutter nach Dresden begleitet. Die Mutter würde ihr auch die Freude bereitet haben. Der Vater war jedoch besorgt, Elises Gegenwart möchte die Freude der Eltern beeinträchtigen, weil sie sich dann auch dem jungen Mädchen widmen müßten, während sie doch die Gegenwart der Tochter recht genießen wollten. Elise sollte zu Hause im Haushalt und bei den kleinen Geschwistern die Mutter vertreten.

Im Elternhaus in Dresden herrschte große Freude. Maries Schwester kam wieder aus Leipzig. Die beiden jungen Frauen unternahmen bei herrlichem Sommerwetter weite Spaziergänge, nachdem man im behaglichen Wohnzimmer Erinnerungen ausgetauscht und Neuigkeiten besprochen hatte.
Am 24. Juni 1854 reiste Marie wieder ab; Vater Stein fühlte sich verpflichtet, seiner Freude und seinem Dank dem Schwiegersohn gegenüber, Ausdruck zu geben. Der Brief, den Marie mitnahm, trug die Anrede "Hoch zu verehrender Herr Sohn".
Daguerrotype-Ausschnitt Familie Gottlob Eckhard und Marie Stein
Es verfloß noch eine schöne Zeit. Frei von Sorgen genoß Marie die Liebe ihres Gatten und die Anhänglichkeit der "Kleinen". Ihre Sorge um das leibliche Wohl der Ihren erstreckte sich auf die gesamte große Familie.

Im Jahr 1856 erwartete Marie ihr sechstes Kind. Es war ihr immer gut gegangen. Man sah im Hause in Ruhe der Stunde entgegen.
Zu aller Erstaunen ging es diesmal der Mutter nicht gut, nachdem sie ein schwaches Mädchen zur Welt gebracht hatte.
Und dann geschah, was sich niemand erklären konnte. Die Rettungsbotschaft des großen Semmelweiß war noch nicht in alle Wochenstuben gedrungen. Niemand ahnte, um welcher Geringfügigkeit willen Marie ihr Leben hingeben mußte. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Die Eltern in Dresden von dem Unglück zu unterrichten, war eine harte Pflicht. Gottlob teilte dort auch den Befund der Sektion mit, die keine Klarheit erbracht hatte, nur den Beweis, daß niemanden - wie man damals glaubte - eine Schuld traf.
Am 25.Oktober bedankte sich Vater Stein für einen zweiten Brief, der Nachrichten über die Beerdigung enthielt. Die kleine Tochter, die man noch in stiller Feier getauft hatte, folgte der Mutter bald nach. Auf den letzten Brief aus Dresden setzte Gottlob die Notiz: "Am 30. ds. den Tod der Selinde mitgeteilt".

Das Leben ging weiter. Die erwachsenen Töchter standen abwechselnd dem großen Haushalt vor und waren gütig zu den kleinen Geschwistern. Die Pflege der Gräber war eine heilige Pflicht. Die jüngste Tochter - so man von der Frühvollendeten absieht - kam, je mehr sie heranwuchs, der Mutter an Schönheit gleich. Man sagte von ihrem Jugendbild, es könnte in der Schönheitsgallerie Ludwigs II einen Platz finden.
Mariele war zur sechzehn jährigen Marie herangewachsen und sollte wie die älteren Schwestern in eine Schweizer Pension kommen. Da nahm sie Abschied auch vom Gabe der Mutter. Sie durfte einen prächtigen Blumenstrauß kaufen und am Grabe niederlegen; so groß Haus und Haushalt waren, ein Garten gehörte nicht dazu. Ihrem Vater wusste Marie innigen Dank für sein Verständnis, wie es deutlich aus dem kleinen Gedicht sprach, das er der Tochter überreichte, als sie ihm vor ihrem Weg zum Friedhof die Blumen zeigte:

Ich scheide von der teuren Stätte,
Auf die der Wehmut Träne fällt.
Du Mutter, schläfst im kühlen Bette,
Mich treibt's in eine fremde Welt.
O, mögst du sanft in deinem Grabe
Dort unter diesen Blumen ruhn,
Die scheidend ich gebracht dir habe;
Mehr konnte ich für dich nicht tun.
Ruh' sanft und laß auf allen Wegen
Mir folgen, Mutter, deinen Segen.

Das Andenken der Mutter hielt die jüngere Marie hoch, auch als sie fern vom Elternhaus in ihrem eigenen großen Haus ihren Wirkungskreis fand. Sie bedauerte, daß auch ihr Mann nur noch den Vater hatte, wie gern hätte sie das liebe Wort "Mutter" gebraucht. Sie ließ das Dresdener Bild vervielfältigen, damit die liebliche Großmutter ihren Kindern nicht ganz fremd bleibe. Die älteste Tochter trug ihn wieder, den Namen "Marie". Der Name ist in der Familie noch öfters erschienen, einfach oder in leichter Abwandlung.
Vor der feinen Zeichnung wird es wohl manchmal noch heißen: "Wer war sie?" - "Die schöne Marie".

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