Mein Vater

Erinnerungen von Brigitte Schaper, geb. Jankowsy

 

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Es ist nicht gut, sich zu sehr in der Erinnerung zu verlieren, besonders nicht an einem trüben Novembertag und dazu, wenn man alt ist. Die Bilder, die vor einem aufsteigen, sind und man selber ist, von einer wehmütigen Sehnsucht erfüllt. Ich glaube diese Sehnsucht, bedingt durch seine Natur, hat meinen Vater sein ganzes Leben lang nicht verlassen. Er war Bauernjunge und später durch sein Studium und späteren Beruf immer gezwungen, in der Stadt zu leben, wenn es auch zeitweilig eine Kleinstadt war. Aber die Sehnsucht nach dem Land, die unbestimmte Trauer, vielleicht doch nicht den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, hat ihn immer begleitet.
ln einem Kreis von guten Freunden erzählte er einmal: "Ich hatte das Pech, daß unser Lehrer zu meinem Vater kam und ihm sagte, der Junge ist so begabt, der muß fort auf die höhere Schule, leider wurde dann später eine Arbeit von mir so hoch bewertet, daß ich daraufhin ein Stipendium bekam, na ja und dann ging das so weiter". - Mein Vater spielte später noch mit dem Gedanken, einen Besitz zu kaufen, aber das wäre natürlich nur ein ganz kleiner Hof gewesen und dazu hatte er ja in keinem Falle die richtige Frau, da wäre ja auch ein Übermaß an körperlicher Arbeit auf sie beide zugekommen, also es blieb ein 'Traum. Aber in seinen Gedanken spann er weiter an der Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Ein Boot, ein Schiff,die ganze Familie sollte mit. "Ein Schiff und wir alle sollen mit? Wie stellst Du Dir das vor?" fragte meine Mutter. Daraufhin mein Vater: "Ein Wohnkahn, er muß natürlich seetüchtig sein." "Und wohin willst Du mit uns fahren?" "Bis Amerika kommt er ja bestimmt nicht." - "Warum nicht nach Amerika." - Dieses "Warum nicht nach Amerika" war später bei uns ein geflügeltes Wort.
In meiner Jugend und Kindheit war das Leben und das Verhältnis zu den Eltern ein anderes als heute. Die Kinder hatten das sogenannte Kinderzimmer, worin sie auch später als Jugendliche schliefen und arbeiteten. Man traf sich zu den Mahlzeiten und am Abend im Wohnzimmer, und dort lasen wir meistens.

Die Eltern waren Respektspersonen und das mit aller Liebe. Nun, das war mein Vater ganz und gar. Allein durch seine Größe, seine Ruhe, seinen prüfenden Blick unter etwas schweren Augenlidern. Er schien oft in Gedanken versunken, er hatte nur ganz wenige Freunde. Die Menschen interessierten ihn nicht und langweilten ihn oft.
So weiß ich vieles nur durch spätere Erzählungenen meiner Mutter.

Im ersten Weltkrieg, er war Inhaber des Eisernen Kreuzes 1er und 2er Klasse, (er war Kolonnenführer, da er schon vor dem Krieg ein Kraftfahrzeug besessen hatte,) hatte er sich eine Malaria geholt, von der er sich nie mehr ganz erholt hatte und wodurch er auch seine Herzbeschwerden hatte. Er sprach nie über den Krieg, nur, daß er einmal in den Karpaten eine Bärenjagd mitgemacht hatte. Ein andermal ging er mit Kameraden in einen Schlachterladen, sie hatten Appetit auf einen Schweineschinken, die Frau verstand und verstand nicht, trotz aller Handbewegungen, schließlich klopfte mein Vater seinem Kameraden richtig eins drauf, worauf die Frau strahlte und das Gewünschte holte. Bei einem anderen Einkauf klappte die Verständigung, indem mein Vater sein Schulfranzösisch hervorholte und sein Partner das gleiche und sie sich stockend auf's beste unterhielten.
Auf unserem [Dach-]Boden lag, in ein Tuch eingewickelt, ein Christuskopf, bemalt, aus Gips. Auch stand eine große Metallschale unter unserem schwarzen Schrank auf der breiten Holzleiste. Beides hatte mein Vater mitgebracht. Sie waren durch ein Dorf gekommen, es war alles zerstört, kein Rest eines Gartenzauns, kein Stück einer Mauer , auch die Kirche nur Staub und Trümmer. Da sah er etwas Buntes, sah dieses erhaltene Gesicht, was ihn eindringlich ansah, etwas rührte ihn an, er mußte es mitnehmen. Typisch mein Vater, kein goldener Ring, kein edler Stein, dem materiellen Wert nach etwas völlig geringeres, aber es bedeutete ihm so viel, daß er es mitnahm, um es zu beschützen.

Mein Vater war sehr musikalisch,aber er kannte keine Note. Manchmal setzte er sich an den Flügel und spielte Melodien aus der Fledermaus und anderen Operetten, auch manchmal in der Weihnachtszeit Weihnachtslieder, den Abschluss bildete immer ein ganz bestimmter Krakowiak, schwungvoll, flott und laut.
Er erzählte, daß zu Hause, wenn das Fest zu Ende war und die Bauern draußen ihre Pferde wieder anspannten, sie die Melodie des Krakowiaks hörten, sie noch einmal reingingen und weitertanzten. Er war ein sehr guter Tänzer. Ganz wenige Male, aus der Stimmung heraus, in größerem Familienkreis, forderte er mich zum Tanzen auf. lch muß sagen, ich weiß es noch heute. Später stand er mehr in der Mitte und schwenkte seine Tänzerin zur allgemeinen Freude mehr um sich herum. Meine Mutter wäre gern mal ins Theater oder in die Operette gegangen, aber nach dem Kriege hörte alles auf.
"Was willst Du, Lieselchen, es ist ja doch alles das selbe." Es gab gesellschaftlich nur den bestimmten Kreis der befreundeten Ehepaare für ihn, die sich dann auch ein Mal im Jahr bei uns zum Entenessen trafen und zur Zeit des Schnepfenstrichs. Genügend Wild zu schießen, war für meinen Vater nie ein Problem. Wie es meine Mutter geschafft hat, ohne Hilfe, darüber dachte keiner nach und anschließend war sie eine geistvolle, fröhliche Gastgeberin. Die Freunde meines Vaters respektierten sein Anderssein, wenn auch sie es manchmal nicht verstanden. Er wünschte seine Frau als Tischdame, was ihm unter allgemeinem Hallo verweigert wurde, aber er bestand darauf, daß sie ihm in jedem Falle gegenüber sitzen mußte.

Meine Mutter besaß kein ausgeschnittenes Abendkleid, mein Vater wollte nicht, daß sie sich ihr Haar ondulieren ließ, die ersten Dauerwellen ließ sich meine Mutter erst hier in Pyrmont nach dem Kriege machen. Aber mein Vater liebte sie mit einem so starken, warmen Gefühl und einer so großen Zärtlichkeit , daß alle anderen Dinge nebensächlich wurden. Es war noch in Neidenburg, meine Mutter stand am Fenster, als jemand draußen vorbeikam, hinaufsah und sie grüßte. Mein Vater wollte ihn fordern und war nur mit Mühe und großer eindringlicher Überredungskraft seiner Freunde davon abzubringen.

Meine Eltern waren ihrem Wesen nach so verschieden und kamen aus so anderen Lebenskreisen, daß es natürlich auch Konflikte geben mußte, aber davon wurde das Familienleben nicht berührt. Ich weiß nur, daß meine Mutter von meinem Vater das selbe sagte, wie später von meiner Schwester: "Bei ihm wiegen 100 g ein Pfund". Sie hätte ihn so gern etwas fröhlicher und aufgeschlossener gehabt. Einmal sagte sie "Rudolf, es wäre alles so schön, wenn Du nur ein kleines bißchen anders wärst," " Ja, Lieselchen", meinte er, "es wäre alles so schön, wenn Du nur ein kleines bißchen anders wärst".
Mein Vater war Corpsstudent gewesen, und im Winter bekamen wir die schönsten Einladungen "... Gesellschaftsanzug: Frack oder Smoking, Wagen um 1 Uhr" Für uns als junge Mädchen wäre das herrlich gewesen. So mußte meine Mutter die wenigen Tanzereien, die ich mitmachte, mit Überredungskunst und Diplomatie durchsetzen und meine Schwester nähte die Abendkleider. Zum Glück eröffnete eine Tante Tanzkurse. Später hörte ich, daß, wenn mein Vater nachts aufwachte und fragte, wie spät es wäre, meine Mutter die Uhr zurück gestellt hatte.
Auch sagte sie mal zu mir: "Wenn Ihr nur mit mir gelebt hättet, wäre vielleicht manches anders gewesen, aber wir hätten heute bestimmt nicht das 'Birkenhaus'."
Auf seinem Nachttisch lag immer eine Pistole, das war so selbstverständlich, daß es mir gar nicht auffiel, wenn ich Staub wischte, daß sie da eigentlich nicht hingehörte. Wenn er auf Jagd ging, mußte er durch den Sackheim (Hafenviertel), da steckte er sie sich in die Tasche.
Das mag wohl auch der Grund gewesen sein, wie bei vielen Menschen, daß er später, entgegen meiner Mutter, zuerst das Kommen Hitlers begrüßte, weil dieser die Menschen von der Straße holte. Die Pistole lag auch hier im Birkenhaus auf seinem Nachttisch und blieb durch Zufall darauf liegen, als mein Vater als Schwerkranker in ein anderes Zimmer kam. Zwei Tage vor seinem Tod erkannte er meine Mutter nicht und fühlte sich bedroht; es war für meine Mutter sehr schlimm und wäre anders vielleicht eine Tragödie geworden.

Mein Vater liebte seine beiden so verschieden gearteten Töchter und war stolz auf sie, doch leider hat er es nie uns gesagt, warum nicht? Wir hörten es nur von anderer Seite.
Natürlich war es besonders Urtens Kunstfertigkeit, und sie ging noch auf die Schule, da brachte er eines Tages ein sehr gutes Mikroskop mit nach Hause. Für ihn damals eine enorme Ausgabe. Er nahm sie auch mit auf Jagd und es war noch in Mohrungen, daß sie zusammen einen Anstand aus Schneeblöcken bauten.
Für dieses sich ganz in die Natur einfügen nur zwei Beispiele. Ein Mal saßen beide so unbeweglich im Dunklen in einer Weide, daß sich in den selben Baum eine Eule niederließ, und das andere Mal stand mein Vater am Waldrand, vor sich eine Wiese. Da sah er einen Junghasen angehoppelt kommen., der sich neugierig näherte, immer näher, bis er an der Fußspitze schnupperte. Da durchfuhr den kleinen Hasen ein solcher Schrecken, daß er sich auf seinem plötzlichen rasanten Rückzug zwei Mal nach hinten überschlug, ehe er im Gras verschwand. Mein Vater mußte noch beim Erzählen herzlich lachen. -

Seine Wettervoraussagen waren so gut und treffend, (schon morgens , wenn er sich prüfend den Himmel ansah und die Windrichtung feststellte, konnte er den Verlauf des Wetters am Nachmittag und späten Abend feststellen) daß wir oft von Freunden und Bekannten angerufen wurden, die Tagesausflüge machen wollten. Für mich immer wieder erstaunlich wenn wir morgens früh eine strahlende Sonne mit blitzblauem Himmel hatten. Und dann sich plötzlich aus heiterem Himmel nachmittags um 2 Uhr hier und da vereinzelte Wolken bildeten, zuerst weiß und schön, klein und zerfasert und dann größer und dunkler werdend, bis sie den Himmel bedeckten und es tatsächlich regnete. Bei heraufziehendem Gewitter ging er raus vor die Stadt und kam erst zurück, wenn es direkt über uns war, dann setzte er sich auf unseren gedeckten Balkon, um die Blitze zu beobachten. -

Er hatte eine charakterlich bedingte Ehrlichkeit und Korrektheit. Als Beispiel nur eines. Als höherer Beamter hatte er die Berechtigung bei seinen Dienstreisen zweiter Klasse zu fahren und auch den Preis als Unkosten abzusetzen. Nun gab es im Landkreis bei den Kleinbahnen manchmal nur 3ter oder 4ter Klasse, dann setzte er natürlich diesen Betrag als Unkosten ein, was seine Berufskollegen oft nicht verstanden. -

Mein Vater war sehr sparsam, was für meine Mutter oft nicht ganz leicht war, aber sehr großzügig in der Gastfreundschaft, was natürlich unsere Besuche, besonders unsere studierenden Vettern und Cousinen sehr genossen. Genau so rechnete er nicht, wenn es sich um die Gesundheit handelte. So nahm er uns von April bis Ende der Sommerferien aus der Schule und fuhr mit der ganzen Familie nach Obersdorf und, damit die Sache auch gründlich war, gleich im nächsten Jahr noch nach Zell a.See, nur weil meine Schwester sehr dünn war und, wie man später feststellte, wohl ziehende Wachstumsschmerzen in ihren Gliedern hatte und der Arzt eine Luftveränderung empfahl. Zum Erstaunen meiner Lehrfrau schickte er mir auch eine Kiste mit 50 Jaffa-Apfelsinen nach Fuchsberg (Ich war landwirtschaftlicher Lehrling dort), weil er glaubte, ich bekäme nicht genug Vitamine .

In Ostpreußen wurde gut gegessen, besonders natürlich auf dem ostpr. Land. So gehörte auch zu dem Frühstück meines Vaters 1/4 Leberwurst jeden Tag, er strich sich nicht das Brötchen, sondern schnitt sich Stücke von der Wurst ab und biß vom Brötchen ab, was meine Mutter zuerst störte. Genau so mußte meine Mutter immer dafür sorgen, daß sie eingelegte Heringe im Vorrat hatte, dafür gab es eine bestimmte blaue Schüssel mit gewelltem Rand, denn mein Vater aß jeden Abend einen Hering mit Pellkartoffeln und dicker Milch. Auch die mußte immer aufgestellt sein. Das war natürlich damals noch eine richtige gute "dicke Milch". -

Nach der Pensionierung fuhr mein Vater auch oft nach Bochum, nicht nur nach Neuhof, wie später von Pyrmont aus. Er wollte nicht mehr in Ostpreußen bleiben, zu viele kannten ihn dort, er war auch im Schulräteverband. Ostpreußen war ihm verleidet. Inzwischen hatte ich zwei Sommer in einem Pensionsbetrieb gearbeitet, und er hatte wohl gesehen, daß ich mich nicht ungeschickt anstellte, so faßte er den Entschluß einen Pensionsbetrieb zu kaufen und das, wie er zu den Verwandten sagte: "So weit entfernt von der russ. Grenze wie möglich." Also weit vorausschauend.

         
     
Birkenhaus   Gelbes Haus    


1935 waren wir nach Tilsit gezogen. Nach dem Abschluß der Saison fuhr ich auch nach Hause und es war nun ganz spannend, die verschiedensten Prospekte, die mein Vater schickte, zu begutachten, Eines war mir klar, ein Haus an der See kam nicht in Frage, dazu hatte ich schon zu sehr gesehen, was es durch die kurze Saison dort oft für ein Elend gab. Also schied Rügen, was wir auch hätten haben können, aus. Natürlich tat es uns leid, weil wir alle die See ja so liebten, aber was war es nachher für ein Glück, das wir da nicht zugegriffen hatten. Beim Blättern durch die Prospekte kam meine Mutter auch an Pyrmont. Da waren in dem Prospekt auch Bilder natürlich vom Kurpark. Unter anderem ein Bild von einer Seerose. Ich sehe noch die Hand meiner Mutter, die sie auf die Seerose legte: Dort gehen wir hin. Das gab den Ausschlag; und mein Vater kaufte das Birkenhaus. Schlagartig wurde unser ganzes Leben anders. Nachdem mein Vater das 'Gelbe Haus' gekauft hatte, zog er sich im Sommer dort hin oft zurück, weil ihm der Gästebetrieb zu unruhig war. Das Haus war fast leer, nur ein alter Lehrer Maas wohnte darin, bis er starb und oben eine alte Frau in der 2.Etage. Dieser alten Frau besorgte mein Vater eine andere Wohnung, und nun war er ganz allein. Aber er fuhr auch oft wochenlang nach Neuhof. Aber wenn er in Pyrmont war, kamen wir oft mit der ganzen Familie im Tagesraum abends zusammen, was die Gäste sehr liebten, denn ich hatte ja auch viele Ehepaare bei mir, und besonders die Herren mochten meinen Vater mit seinem trockenen Humor, er konnte auch amüsant sein (Siehe Weihnachtsverlosung bei uns in der Schillerstraße mit Gedicht von Tante Tiny) und galant liebenswürdig zu den Damen. In der ersten Zeit sagte er einmal zu mir,: Du mußt nicht immer nur an einer Stelle arbeiten, Du mußt herumgehen und sehen. Du mußt nicht wünschen, beliebt zu sein, darauf kommt es nicht an. Aber sonst kümmerte er sich um nichts, wahrscheinlich fühlte er sich schon oft gar nicht gut,
Es war in der allerersten Zeit und wir warteten voller Spannung auf Gäste. Da kam der erste Gast.Eine kleine rundliche Dame voller Wünsche, Fragen und Vorbehalte,die ich in aller Ruhe beantwortete. Da wurde ich verlangt und wurde abgerufen. Als ich nach einer Weile zurückkam, saß mein Vater nur noch allein im Büro. "Wo ist die Dame, was ist los?" Mein Vater strahlend übers ganze Gesicht? "Du, die sind wir los." "Aber warum?" ich war ganz unglücklich. "Die hatte so grüne Augen". Auch das war nachher bei uns geflügeltes Wort.
Weihnachten 40 hatten wir Verwandtenbesuch, den wir nicht gut absagen konnten. Als sie abfuhren, legte sich mein Vater und stand nicht mehr auf. Zuerst nahm er sich noch manchmal den Morgenrock um, und wir tranken in seinem Zimmer am Nachmittag Kaffee, bis auch das unterblieb. Meine Mutter widmete sich ihm ganz.

Einige Tage vor seinem Tode hatte er einen Traum. Es war Sommer und die Sonne schien, er wäre die Dorfstraße lang gegangen, es war Sonntag. Wie er an die Kirche kam, hätten die Türen beide weit auf gestanden. "Und wie ich hineinging, sang die ganze Gemeinde "Amen, Amen." Dann kann ich doch nicht ein so ganz schlechter Mensch gewesen sein." schloß er.

 

 


Letzte Aktualisierung: 08.10.2013