Pyrmont, Der Garten - II

Elisabeth Jankowsky, geb. Lemke

 

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Etwas ganz Wunderbares war der Garten. Der übliche Ziergarten rund ums Haus war nur klein, aber mein Mann hatte den dahinter liegenden Garten gekauft, damit wir eine freie Aussicht behalten sollten. Das „Gelbe Haus“1 an der Ecke neben dem Birkenhaus ging gleichsam im Ramsch mit. Dies Gartengrundstück war 600m lang und 25m breit und erstreckte sich von einer Straße quer durch bis zur anderen2.


Friedrichstraße
Elisabeth Jankowsky, Gartenskizze; aus: Erinnerungen
Bismarckstraße
An der Stadtkirche

 

Seit 30 Jahren oder noch länger war dort nichts gearbeitet worden. In dem Teil, der ans Gelbe Haus grenzte, dem etwas feuchten „Dschungel“, bahnte sich Urte mit der Sichel einen Weg durch Johannisbeersträucher, die einem über dem Kopf zusammen schlugen, und nur vereinzelte Trauben trugen aber mit Beeren, die groß wie kleine Kirschen waren, durch Sträucher verwachsen und verfilzt durch rankendes Unkraut. Nur wenige Meter von der belebten Bismarckstraße entfernt, konnte sie hier in aller Ruhe zwischen den nickenden Posthörnchen des Noli Me Tangere3, die in ganzen Kolonien dort wucherten, ein Sonnenbad nehmen.

Aus der brütenden, feuchten Hitze des Dschungels konnte man sich in den Schatten der vielen Obstbäume retten, die im zweiten Teil des Gartens, der „Wildnis“ urwaldähnlich Blüten und Früchte schenkten, sich selbst versäten und abstarben. Da war der große Apfelbaum mit weit ausladender Krone, ein „Wirt wundermild“4, der von Mitte Juli bis in den Oktober hinein täglich 20 – 30 Pfund seiner „süßen“ Kost verschwenderisch ausstreute. Keine modernen Klaräpfel oder Sommercalville, nein, feste und doch süße Äpfelchen, die durch ihre schöne, gelb und rote Farbe leicht in dem hier wie überall wuchernden Unkraut zu finden waren. Als ich mich einmal bei unserem Nachbarn5 beklagte, dass seine Mieter sich gerne von unseren Äpfeln holten, meinte er lachend: „Ja, dass dieser Baum die frühesten Äpfel von ganz Pyrmont trägt, wusste ich schon als Schuljunge. Gravensteiner, Citronen- und Alexanderäpfel schenkten überreich, wie oft Bäume, die nicht mehr lange leben werden. Dazu kamen Bauernpflaumen, Zwetschen, Reineclauden und Mirabellen. Ein Obstkenner hatte den Garten angelegt, aber für Nachwuchs war in all den Jahren nicht gesorgt worden. So gab es abgestorbene Stämme, den Kletterbäumen im Bärenzwinger gleich. In einem hatte die Meise ihr Nest wie in einer Höhle, tief innen, neugierigen Augen verborgen und unerreichbar für Katzenpfoten; man konnte die Brut piepen hören, wenn man das Ohr an den Stamm legte.

Von einem anderen morschen Baum hackte ein Buntspecht ansehnliche Splitter ab, die ich gut in der Küche brauchen konnte6. Die Umgebung der gewählten Wohnung schien ihm wohl doch zu unruhig, er kam nicht wieder und eine Amsel bezog die schon fertige schöne Höhlung und erhob jedes mal, wenn ich in ihre Nähe kam, ein in ihrem Sinne durchaus berechtigtes, unverschämtes Gezeter, denn es störte sie natürlich, dass wir in der Nähe ihrer sonst so gemütlichen Behausung durch das Anlegen eines Kräuterbeetes auf mühsam gerodetem Urwaldboden uns als Kulturpioniere7 betätigt hatten und deshalb oft bei ihr vorbei kamen. Die Schwierigkeiten mit denen Siedler im fernen Westen zu kämpfen haben, wurden uns bei der Bearbeitung dieses Beetes völlig klar, weil es unmöglich schien, völlig Herr des Unkrautes zu werden, dessen Wurzeln das ganze Erdreich durchzogen. Im Laufe des Sommers musste der Kräutersammler, wenn er Majoran, Pfefferkraut, Petersilie ernten wollte, in dem üppigen Grün wie ein Spürhund seiner Nase folgen. Nur die hoch ragenden Dolden8 des ausgereiften Dill wiesen wenigstens den Weg zum Beet.

An der Grenze des Wildnis lieferten wilde Kirschbäume entzückende Frühlingssträuße. Hier führte ein ganz schmaler, ausgetretener Pfad, gleichsam ein Wechsel des Menschen, zum letzten Teil des Gartens. Man musste ihn vorsichtig gehen, weil meterhohe, dicht verwachsene Wände von Brennnesseln, Kälberkropf9 und verwilderten dornigen Büschen Kleider und Strümpfe bedrohten. Diese Urwaldvegetation hörte unter einigen uralten Kastanienbäumen auf, die in großem Umkreis alles beschatteten und auch an sonnenhellen Tagen hier die dämmerige Atmosphäre halb anheimelnd und halb gruselig schufen, in der Märchen und Legenden geboren werden.

Eine riesige Vertiefung zeigte eine einstige Müllgrube an; sie wurde jedenfalls von den Anliegern oder wohl mehr von deren Personal als Müllgrube benutzt, denn es kamen ja nur die einsam lebenden alten Bewohner von zwei Villengrundstücken10 in Frage. Getroffen habe ich da nie einen Menschen, aber wahrscheinlich aus Bequemlichkeit hinein geworfen lag da manches, was in gewöhnliche Müllkästen nicht hinein ging: alte Matratzen, eine vermottete und zerrissene Pelzdecke, ein zerbrochener Krankenstuhl. Liebevoll deckten die Kastanien diese so undankbar verabschiedeten Dinge mit Zweigen und goldenen Blättern völlig zu.

Aus dem Dunkel kommend stand ich oft ganz geblendet da und sah entzückt auf die „Heide“, die sich mit kurzem, trockenem Gras und armblütigen, aromatischen Kräutern bewachsen sanft abfallend bis zur Straße erstreckte. Wo an der Grenze zu anderen Gärten die Erde fruchtbarer war, fanden sich hinter Büschen freundliche Verstecke, wo von früher her verbliebenen Gartenerdbeeren zu Walderdbeeren zurückverwandelt, sonnendurchglüht mit unvergleichlichem Aroma auf der Zunge schmolzen, auch wohl einzelne Schmetterlingsakelei, eine gefüllte Mohnblume und andere Kulturkinder, die durch die überraschende Einmaligkeit ihres Vorkommens beglückten.

Als auf der Höhe der Saison in dem ersten heißen Sommer 1937 zu viel in der Küche zu tun war, als dass wir uns hätten fein machen und das schöne Pyrmont genießen können, legte ich manchmal die prosaische11 Schürze aus „blau Kattun“12 ab und aus dem Souterrain13 in die Oberwelt hinaufsteigend, fühlte ich mich als Däumelinchen14, die die unterirdische Behausung der Maus verlässt, um beseligt, wenn auch mit schlechtem Gewissen Luft und Sonne zu genießen. Ich lag dann kurze Zeit in den Verstecken der „Heide“ und sah mit halb geschlossenen Augen in die vor Hitze flimmernde Luft, in der Erwartung, dass sich zwischen Traum und Wachen aus ihr heraus das lieblichste und geheimnisvollste aller Gespenster – das Mittagsgespenst15 - offenbaren würde.

So war der Garten im ersten Sommer, und wie gings dann weiter?
Die Gäste waren in ihrem Urteil sehr verschieden. Ein Studienrat bat, ihm das Zimmer mit dem Blick auf den „verzauberten Garten“ zu geben. Andere rieten, mit dem Pflug erst einmal alles umzustürzen, gerade Beete anzulegen und vor allem Gemüse zu pflanzen.

Ein globe-trottes16 Ehepaar, sie Russin, er Franzose, der als Architekt die Pariser Weltausstellung organisiert hatte, reich und elegant, verzichteten auf den Kurpark und sämtliche Anlagen und ließen sich Liegestühle in die Wildnis bringen, in die sie ganz verliebt waren. Ich hatte dort ein paar Wäschestücke aufgehängt. „Stört sie die Wäsche nicht?“ „Oh, nein, wenn wir die Wäsche nicht stören.“

     
  Elisabeth mit Tochter Brigitte im Garten des Birkenhauses, Bad Pyrmont, 1937  
  Elisabeth mit Tochter Brigitte im Garten des Birkenhauses  

Und jetzt? Die Heide hatten wir nicht kaufen, nur für ein Jahr pachten können. Leider!
Die Kastanien sind geschlagen.
Wo die Müllgrube war, steht ein hübsches, rotgiebliges Häuschen17, der Vorgarten, der Platz meiner Mittagsruhe, hat schon mehrfach Preise bekommen, weil er gut gepflegt und geschmackvoll angelegt ist.
Das Mittagsgespenst?? Unwahrscheinlich.
Der große Apfelbaum ist bemoost; er hat keine runde Krone mehr, nur zwei hochgewachsene, auseinander strebende Äste. Jeden Herbst habe ich Mühe, ihn vor dem Umgehauen werden zu retten.
Die Bauernpflaume mit ihren großen, köstlichen Früchten verdorrte ohne ersichtlichen Grund; wahrscheinlich war die Wurzel auf gewachsenen Stein gestoßen. Solch ein Baumgerippe sieht traurig aus, wenn alles ringsum sich begrünt.
Bei einem Wirbelsturm fielen zwei Zwetschenbäume, 1940 erfroren Reinekloden und Mirabellen.

„Wenn das noch ein paar Jahre so weiter geht, sind wir mit unserem Obstgarten bald fertig“, sagte ich seufzend zu Brigitte. Und das waren wir auch, denn es ging weiter. 1940 kaufte mein Mann noch 10 Halbstamm-Obstbäumchen. Sie kamen aber nicht gut vorwärts. Der Boden war von nie gedüngten Obstbäumen geradezu ausgelaugt, es gab auch keine für diese Lage geeignete Bäume zur Auswahl. So konnten die für das Pyrmonter Klima passenden Sorten nicht genommen werden. Der Hamster18 richtete auch Schaden an. In der Hungerzeit19 wurde möglichst viel Gemüse gezogen ohne Rücksicht auf Schönheit und jetzt ist in Brigittes Gartenanteil vor allem eine Fülle von Blumen, die sie liebt und auch für ihr Haus nötig braucht.

Ein bischen Romantik hat sich in Urtes Garten gerettet mit Mäuerchen, seltenen Blumenexemplaren, einem Steinsitz und primitiven Gartenbänkchen. Da ist auch noch ein großer Birnbaum inmitten des Gartenplatzes, wo wir schon manchmal mit Gästen ein Kaffeestündchen hatten.
Rudolf hat dort einen Wald angelegt; auf einer kleinen Erhöhung Birken, Kastanien und Tännchen gepflanzt. Vor allem ist in dieser Ecke das „Türmchen“, ein Bauwerk wohl 250 Jahre alt, mit einem winzigen Raum zu ebener Erde, das „Kapellchen“ genannt, weil die Decke ein Kreuzgewölbe ist.

 
Das Türmchen 1937; Skizze von Dr. Ottilie Lemke
Das Türmchen 1937; Skizze von Dr. Ottilie Lemke

Neben dem Kapellchen fanden wir rein zufällig, weil aus einer Mauer ein paar locker sitzende Ziegelsteine fielen, einen zweiten Raum, in dem ein 4m tiefes ausgemauertes Loch sich befand, das zu ergründen die damals im Birkenhaus befindliche Gästejugend sehr begierig war.

Das Türmchen von der Bismarckstr. aus gesehen
Das Türmchen 1965, von der Bismarckstraße aus betrachtet


Ein vernünftiger, bedachtsamer Herr erklärte sich bereit, die Expedition zu leiten. Die Frau eines Korvettenkapitäns wollte ihrem 12-jährigen Sohn die Teilnahme aus verständlicher Ängstlichkeit verbieten. Sie erlaubte es aber doch, als wir ihr prophezeiten, dass ihr Junge ihr dieses Verbot nie verzeihen würde. Die Jugend, die sich unter Führung des älteren Herrn mit Seilen und Laternen ans Werk machte, fand nichts als Steine und Geröll, aber es war eben doch ein wunderbares Abenteuer.
Was hätte man alles finden können! Und vielleicht später …
Wir haben das Loch, das wohl ein Eiskeller war, zuschütten lassen.

Über diesen beiden Räumen ist ein Zimmer, zu dem [z.Zt. dieser Niederschrift, ca. 1955; 1937 war die Treppe noch innen.] eine Holztreppe von außen führt. Hier kann man nach allen 4 Seiten blicken, und Urte hat dort jahrelang gewohnt, obwohl es kalt und feucht war und sogar hinein regnete, so dass sie den Standort ihres Bettes immer ändern musste. Das machte dem Wohnungsamt20, das ihre Notlage als Flüchtling21 gar nicht einsehen wollte, doch einigen Eindruck.
Aber im Sommer ist das Zimmer im Türmchen doch schön und ein Logis für jugendliche Besucher.

Neben dem Türmchen steht ein verkrüppelter Apfelbaum, dessen Stamm, schon als wir kamen, fast nur aus Rinde bestand. Und doch ist er jedes Jahr ein bienenumsummter, rosa-weißer Blütenstrauß und hat, oh Wunder, gesunde, wohlschmeckende Äpfel.

La garde meurt, mais ne se rend pas.22

 

1Ecke Bismarckstraße/An der Stadtkirche; Haus und Grundstück gingen später in den Besitz Urtes über, das Haus wurde nach ihrem Tod verkauft und abgerissen.

2Von der Friedrichs- bis zur Bismarckstraße

3Großes Springkraut

4Zitat nach Ludwig Uhland, um 1817/18 „Bei einem Wirte wundermild“

5Herbert Krüger, Friedrichstraße

6Der Herd wurde mit Eierkohle befeuert. Um sie zu entzünden, brauchte man zuerst ein Holzfeuer.

7Pionier hier analog zu einen Siedler, der neues Land erschließt

8Blüten

9Die Gattung Kälberkropf (Chaerophyllum) gehört zur Familie der Doldenblütler

10Früher Kinkeldey (An der Stadtkirche) und Krüger (Friedrichstraße)

11trockene, nüchterne Darstellung

12Kattun (von arabisch katon, „Baumwolle“) ist ein glattes, leinwandartig gewebtes, ziemlich dichtes Baumwollzeug.

13Erdgeschoss, Keller; Souterrain (von französisch sous-terrain für ‚unterirdisch‘) oder Tiefparterre ist ein Synonym für das Untergeschoss oder auch Kellergeschoss eines Gebäudes, da dieses Geschoss (mit seinem Fußboden) unterhalb der Erdoberfläche liegt.

14Däumelinchen ist ein Märchen von Hans Christian Andersen

15Im Volksglauben der Antike und des Mittelalters war die Vorstellung verbreitet, dass die Mittagsstunde eine bevorzugte Zeit für das Erscheinen von Geistern und Göttern sei, Zeugnisse dafür gibt es sogar bis in die jüngere Zeit. Der Ausdruck Mittagsdämon als eigener Begriff taucht erstmals in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., auf. Im 4. Jahrhundert n. Chr. setzte der Mönch Euagrios Pontikos den Mittagsdämon mit dem der akedia (der Trägheit) gleich, ihm zufolge eins der acht Hauptlaster, aus denen später die sieben Todsünden wurden (siehe auch Artikel Mönchtum).

16Globetrotter bezeichnet einen Weltreisenden

171. Haus an der Friedrichstraße, rechts; zuerst Glauner, dann Wehrhahn

18Dass es ein „Hamster“ war, halte ich für unwahrscheinlich. Es waren mit großer Sicherheit Wühlmäuse.

19Hungerzeit = die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg, also nach 1945

20Wohnungsamt = Behörde, die in Zeiten knapper Wohnungen Wohnraum vermittelt.

21Flüchtling = Mensch, der nach dem Krieg aus seiner Heimat zwangsweise vertrieben wurde:

22Der französische General Pierre Cambronne soll in der Schlacht bei Waterloo gesagt haben: „La garde meurt et ne se rend pas.“ - „Die [alte] Garde stirbt und ergibt sich nicht.“
(Die Schlacht bei Waterloo (auch Schlacht bei Belle-Alliance) vom 18. Juni 1815 war die letzte Schlacht Napoleon Bonapartes. Sie fand ca. 15 km südlich der belgischen Hauptstadt Brüssel in der Nähe der Stadt Waterloo statt.)

 

 


*) Die meisten der Fußnoten wurden zitiert aus der deutschsprachigen Wikipedia http://wikipedia.de/

© Jost Schaper, Bad Pyrmont, 2008
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Letzte Aktualisierung: 18.11.2008