Sie hießen Alexander, Georg,
Walter und Hermann.
Alexander und Georg
wurden Ali und George genannt. Walter war der
Lieblingsbruder. Er hatte die blitzblauen Seemannsaugen von Onkel
Alex geerbt, aber seine hatten nicht den liebenswürdig-verliebten
Seitenblick des "schönen Alex"; sie sahen sehr
ernst und bestimmt immer geradeaus, im Zorn, der sich nach diesen
austobte, schienen sie dunkler, oft durchleuchtet von einem tiefen,
auch immer gebändigten Gefühl. Sein Gang, ein etwas breiter
Seemannsgang, auf den er stolz war, schien der strengen Linie seiner
Augen zu folgen, über Hindernisse hinweg, durch die Wand
hindurch, wenn es sein musste. Er war mutig und kämpferisch. Als
neunjähriger Junge hatte er sich selber einen starken Faden um
einen losen
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Zahn gebunden und auf einem Stuhl stehend, den Faden am
Fensterkreuz befestigt. Nun war er vom Stuhl gesprungen um den Zahn
triuphierend oben hängen zu sehen. Oft musste er Hermann mit dem weißblonden Schopf, der gerne andere reizte und
hänselte und von seiner großen, ständig wechselnden
und immer neu vergnügten Freundes- und Feindesschar umgeben war,
aus schwer bedrängten Situationen heraushauen. Walter liebte diese Schlachten in den engen Straßen der Stadt mit den
Schlupfwinkeln, oft waren ja nicht die Schüler anderer
Lehranstalten, gegen die es mit Kampfgeschrei ging; hinter den Ecken
lauerten die schändlichen Irokesen,
die den letzten Mohikaner zu Fall gebracht hatten, auf der Fähre kam Falkenauge den Pregel herunter, zu ihm musste er mit seinen Leuten stoßen. Das Wasser
war sein eigentliches, geliebtes Element.
Auch die anderen drei konnten
hervorragend schwimmen. Auf dem Mühlenteich in Genslack
saßen sie rittlings auf langen Planken und veranstalteten
Wettrennen indem sie mit den Händen rudernd einem gesteckten
Ziel zusteuerten. Glühende Bewunderung im Herzen sah ich an
Tante Maries
Hand vom Ufer aus zu.
"Die Indianer können auf
Planken stehend rudern", rief Walter herüber, "ich
werde es Euch gleich zeigen, wenn die Krokodile ..."; das Brett
kippte um, Walter tauchte - zum Glück gab es an dieser
Stelle des Mühlenteiches keine Krokodile - schwamm ein Stück
unter Wasser und kletterte wieder auf sein Fahrzeug.
Ein Boot musste aber beschafft werden,
und Walter wollte sich selber helfen.
An Feiertagen, wenn die Mama ihre Kinder gern recht fein und sonntäglich sehen wollte, zog er
sein schlechtes Zeug an und wanderte zur Pregelniederung in
Begleitung seiner beiden Freunde, des Frisörlehrlings Oskar
Schirmacher und des angehenden Schiffsjungen Hans Jess.
Die beiden klingelten unten, wenn sie Walter abholten, denn
oben schreckte sie schon an der Türe Amelies streng
abweisendes Gesicht, die solch unstandesgemäßen Verkehr
nicht liebte. "Der Herr Walter ist schon wieder mit Oskar
und Ernst nach Cosse an den Pregel gegangen", meldete
sie missbilligend. In Cosse wurde gemeinsam ein Boot gezimmert, das
ich mir nach seinen glühenden Beschreibungen als mäßig
großen Ozeandampfer vorstellte und dessen Stapellauf die Mama von der Eisenbahnbrücke aus besichtigen sollte.
Schon von weitem sahen wir die enge
Brücke gedrängt voll von Menschen, die lachten und gespannt
nach unten blickten. Ach der armen, des Schwimmens ganz unkundigen Mama, zitterten die Knie als sie da unten die Walnussschale
schwanken sah, noch dazu völlig geschlossen bis auf die eine
Öffnung, in der Walter mühsam balancierend saß.
„Wie soll er sich da heraus
retten, wenn dieses Schälchen aus Holz mit Wasser vollschlägt!",
jammerte sie. Da konnte sie völlig beruhigt sein, denn in
Genslack hatte er mehrfach Gelegenheit, nicht nur die die eigene sondern auch
die Rettung der Nusschale auszuüben, wenn sie auf dem Grund des
Pregels lag und mehrfach durch Tauchen gehoben und wieder flott
gemacht werden konnte. Diese Energie veranlasste den Vater,
ein schönes, großes Ruderboot zu kaufen. Eigentlich wollte Walter ja segeln „Segeln, Sohn, nein; die Segelboote
kippen um" „Du meinst kentern, Mama". Die
anderen halfen mit „Wir können ja alle schwimmen und Walter als echter Seemann ruft „Mann über Bord",
auch wenn er ganz allein aus seinem Einer ins Wasser fällt".
„Ja, dann hat er nicht viel an,
aber wie will er sich in Kleidern retten!“
„Weißt du, Mama,
komm doch mal mit an den Teich, ich habe es jetzt heraus, wie man in
einer Waschwanne Balance halten kann; das muss ich dir zeigen. Wir
gingen hinunter zu dem breiten, sehr langgestreckten Dorfteich, wo
das Gefährt schon unter dem Pappelbaum wartete. Walter stieg hinein und stieß sich ab.
Er hüpfte nach wenigen Stößen
ins Wasser und Walter schwamm in voller Kleidung, nachdem er
sich die Schuhe ausgezogen hatte, auf die andere Seite und dann noch
um das Boot herum, ehe er triumphierend zu der ängstlichen
Mutter zurück kehrte, der er zurief: „nun wirst du mir ja
endlich zugeben, dass ich in Kleidern schwimmen kann.“
Ein Segel hatte er allerdings noch
nicht.
Wir dachten nicht an die Theaterkasse.
Wir spielten am Sonntag oft Zirkus oder
Theater, selten mit gelernten Rollen, wobei die Brüder außer
dem gutmütigen Walter zu bequem dazu waren, besonders Hermann,
der es als glänzenden Ausweg ansah, mit dem Rücken zum
Publikum gewendet, seine Rolle einfach abzulesen, was die Zuschauer
sich dann aber energisch verbaten.
Er gab aber feststehende Nummern wie
den „Elefanten“, der mit Hilfe des grauen Schlafrocks des
Vaters gepackt dargestellt wurde oder das Zelt mit allen lebenden
Tieren, von denen man eines zum Anschauen auswählen durfte, um
dann hinein geführt sich selbst im Spiegel zu sehen.
Hermann schrieb Theaterzettel
mit phantastischen Preisen, nur ohne den Zusatz „Kinder und
Militär ohne Charge zahlen die Hälfte". Ich verstand
das nicht, fand es aber sehr schön.
So hohe Preise wurden nur allein von
dem Vater entrichtet, aber auch die Onkels und Tanten
beteiligten sich wegen des guten Zwecks am Erlös, um einen neuen
Theatervorhang anzuschaffen.
Der Vorhang wurde dann auch besorgt und
nach einem interessanten Modell zugeschnitten und genäht und im
Sommer als Segel gehisst.
Fertige Tatsachen wurden bei uns nicht
rückgängig gemacht, das hatten wir bald heraus.
So wie Hermanns Theaterzettel
imponierten mir das Wissen, die Stärke und Macht der Brüder
überhaupt im Ganzen. Ich war ja in den Zeiten als sie ritten und
schwammen und kletterten ein kleines Ding von höchstens 7
Jahren, und es bekam mir nicht immer gut, wenn sie mich zu ihren
Spielen heranzogen.
Auf dem Eis, am Schwanz einer
fauchenden, schleudernden Schlange, fiel ich mich fast zu Tod, und
einer ihrer Riesendrachen, die sie unter Onkel Pauls
Leitung so unnachahmlich gut fabrizieren konnten und die ich halten
sollte, riss mich auf den Roggenfeldern um.
Aber es war doch herrlich, mal mit
ihnen aus dem schützenden Park fort zu laufen, ohne dass man
Angst vor Hunden, Kühen und Schlangen zu haben brauchte, die die
schönsten Wege und Schluchten unsicher machten.
Man aß Kartoffeln aus der Asche,
schickte Zettelchen und einen alten Schirm an der Drachenleine in dcn
blauen Herbsthimmel hinauf oder ließ sich auch von Hermann
in seinem Klapperwagen kutschieren, über Sturzacker und durch
Wassergräben, so dass man sein eigenes Herz schlagen hörte.
Die hübsche, forsche Miezel machte besonders im Reiten öfters mit, während Tilchen, „das sanfte Tilchen“, wie die Tanten sagten, sich
lieber dem geordneten Leben der Erwachsenen anschloss, mit ihren
Spaziergängen auf sauberen Wegen und dem Studium von
Häkelmustern in der geschützten Fliederlaube.
Außer der Stärke und dem Mut
der Brüder in allen körperlichen Dingen bewunderte ich vor
allem ihre völlige Unbekümmertheit der Schule gegenüber.
Ali freilich, der die sehr
pingelige Ordnungsliebe der Eltern geerbt hatte, und der auch die
wilden Spiele auf den Höfen des Lizent und in der Genslacker
Freiheit mehr als Sportmann als als Junge betrieb, hatte sich aus der
großen, geräuschvollen Jungensbude in ein kleines,
peinlich geordnetes Hinterzimmerchen zurück gezogen, wo er, die
Röllchen neben sich und am Kinn ein Taschentuch im Kragen, um
beides zu schonen, seine Aufgaben ohne eigentliche innere Anteilnahme
aber odrnungsgemäß erledigte.
Er sah kaum auf, wenn ich ihm manchmal
das Gebäck brachte, weiß wie eine Makrone und ein
Mürbteig, die die Mama nach ihren wenigen, eisern
feststehenden Rezepten unnachahmlich zu backen wusste.
Die anderen drei hausten weiter in dem
großen Zimmer, kamen mit aufgeschlagenen Büchern zum
Morgenkaffee, lernten bis zum letzten Augenblick und regulierten noch
auf der Straße ihre erst am Morgen vorgeholten Aufgaben.
Besonders die Aufsätze wurden
meist im letzen Augenblick geschrieben, und Walter, der sich
trotzdem nicht von seinem warmen Bett trennen wollte, hatte einmal
zum Schreiben das Tintenfass auf den Rand seines Holzbettes gestellt.
Als es umkippte, drehte er in dem Glauben, dass man es dann nicht
entdecken würde, die Matratze auf die andere Seite, was
natürlich das Unheil noch verschlimmerte und ging in die Schule,
ohne etwas zu sagen. Es erfolgte auch kein Strafgericht, weil die Mama, vom Vater beeinflusst, solche Vorkommnisse trotz
ihrer Ordnungsliebe nicht allzu tragisch nahm unde mit der oft
gehörten Wendung „wenn sie nur alle gesund sind“ entschuldigte.
Mir flößte alles, was mit
der Schule zusammenhing ein leises Grauen ein und so bewunderte ich
in Genslack, wo die 2. Garnituren noch immer Verwendung fanden, beim
Sonnen der Betten noch oft die Matratze mit dem riesengroßen
Tintenfleck als Zeichen eines unabhängigen Freiheitswillens.
Es war in meinem Elternhause streng
verboten, über die Lehrer herzuziehen oder schlecht zu machen,
aber einzelne Geschichten, besonders die vom „Taut“ (dem
rötlich blonden Professor Tieffenbach) fanden beim
Mittagstisch begeisterten Beifall.
So hatte er einmal, nach seiner Art
einen Arm ausstreckend und dann hinters Ohr streichend den ablesenden
Georg gefragt:
„Jei, nein, Lemke, haben
Sie ihre griechische Grammatik offen?“
Im Brustton der Überzeugung:
„Nein, Herr Professor!“
„Dann - machen Sie sie zu.“
Hörbar klappte das Buch zu.
Nun, wie war er aufrührig! Es
machte der Klasse doch Eindruck.
In Deutsch arbeitete er seine Aufsätze
genau aus und las sie den Schülern als Musterbeispiel vor.
Zwei von der Klasse, die
stenographieren
konnten, wurden beauftragt, während des Vorlesens
mitzustenographieren, das Stenogramm zu übertragen und zwei
anderen Schülern zu übergeben, die nach erfolgtem
Abschreiben – natürlich mit vollständigen Änderungen
wieder weiter geben sollten, bis alle den Musteraufsatz zu nützlicher
Anwendung in der Hand gehabt hätten.
Es war ein richtiger Remembrum
von den zwei Stenographen ausgehend, ausgearbeitet worden, so dass
alles klappte und jeder an die Reihe gekommen war.
Aber nun hatte jeder der Jungen
gedacht, der andere würde schon den Text genügend
umarbeiten und hatte sich selbst mit der Einfügung einiger
Kommas und Ausrufezeichen begnügt.
Am Tag der Rückgabe herrschte das
übliche erwartungsvolle Schweigen.
„Jei, nein,“ Taut
machte die gewohnte Armbewegung, „diese Aufsätze zeigen -
eine merkwürdige Familienähnlichkeit.“
Den Anfang der Odyssee
kannten bei uns alle auswendig, denn Georg musste immer
vortragen, wie der Lehrer „Kihn“, eigentlich „Kühn“ mit sehr ostpreußischem Dialekt,
ihnen den Homer nahebrachte.
"Andrra pei um. - Hier allerdings,
ich mein, is e Punkt; hier lassen se de Stimm sinken“.
Das Wilhelmsgymnasium war eigentlich
nicht die richtige Bildungsanstalt für Kaufmannssöhne sagte
ein Klassenlehrer, der sich beschwerte, dass Georg einem
Mitschüler die Mütze versenkt hatte, so dass dieser mit
bloßem Kopf nach Hause gehen musste: „Es wäre ja
nicht so schlimm, aber bedenken Sie, Frau Lemke, von
Bibersteins ...
Im Ganzen liefen aber Beschwerden
eigentlich nur über Hermann, „den kleinen Misskopf“ ein, der trotzdem bei allen beliebt war. Er konnte so drollig sein.
Als vierjährigen Jungen wollte ihn
ein Geschäftsfreund des Vaters necken und fragte ihn morgens um
9 Uhr, was er denn heute zu Mittag gegessen hätte.
„Schweinebraten und Gänsebraten und Erdbeertorte und
Klopse und Erbsen und Makronen und Hühnersuppe --“ das
Menü riss nicht ab. „Bei Lemkes hat es ja heute
gute Sachen gegeben, oder hat mich Ihr Hermann reingelegt,
Herr Lemke? Ein bildhübscher Bengel ist ihr Kleinster
und nicht auf den Mund gefallen.“
Einmal beschwerten sich zwei alte
Damen, die einen kleinen Laden hatten, dass er sich Band, Garn und
Knöpfe geben ließ, um hinterher zu fragen, „Ich bin
doch hier richtig bei Schepke?“ und bei Verneinung schnell
hinaus zu flüchten; beim Bäcker fragte er vorsichtshalber:
„Haben sie alte Semmel?“ „Ja.“ „Die
können sie selber essen.“
Dass er aber der alten Nähjohanna,
als sie krank war, von seinem Taschengeld ein paar Löbelsche
Mürbkuchen brachte, ohne zu Hause etwas davon zu erzählen,
rührte das ganze Personal zu Tränen.
Um in die Schularbeiten etwas Ordnung
zu bringen, war Fräulein Alma Wermke ausersehen, die
jeden Nachmittag zu den Brüdern kam in das große Zimmer,
wo an der Wand das Regal mit den vielen Schulbüchern hing. Die
meisten waren zwei- auch dreifach vorhanden, denn Hermann, der
zu einem sehr eleganten Jungen herangewachsen war, wollte auf der
Straße nicht als Schüler erkannt werden und hatte deshalb
die Bücher noch einmal im Klassenschrank. Fräulein
Wermke konnte weder Latein noch Griechisch und ihre französische
Aussprache hatte sie in Pillau und nicht in Paris erworben, aber die Eltern liebten vor allem die
Harmonie und Einigkeit, die zwischen ihr und den Schülern
herrschte. „Nein, wie war Frl. Wermke fleißig,
ganz unheimlich“ wurde sie auch später noch von den
Brüdern gerühmt, nach deren Angaben sie Übersetzungen
aus dem Gallischen Krieg
und Livius abschrieb, Vokabeln auszog und vor allem Aufsätze machte.
Nur als Hermann unter der
Vorgabe einer schlimmen Hand auch noch die Reinschrift seiner
Aufgaben verlangte, streikte die gute Seele. Sie nahm es auch nicht
übel, wenn sie bei verspätetem Eintreffen mit dem Schlager
begrüßt wurde:
„Alma, Alma, wo mag
das Mädchen sein?
Vielleicht ist ein Malheur
passiert,
Alma, Alma, wo mag das
Mädchen sein.“
Die selbe beneidenswerte
Unbekümmertheit wie bei den Schularbeiten zeigten sie bei den
Weihnachtsgedichten. Vor Wochen schon war mein Gedicht – auf
einem wundervollen Bogen mit Engelsköpfen und beschneiten
Tannenzweigen nicht ohne Aufregung sorgfältig niedergeschrieben
und in einer Mappe verwahrt worden. Am Vormittag des 24. Dezember
hatte noch in Frl. Wermkes Wohnung in der Hügelstraße
eine Generalprobe stattgefunden und nun sah ich knurrend, wie Walter in seiner furchtbaren Handschrift ein möglichst kurzes Gedicht
auf einen Briefbogen schrieb. -
Ali und George begnügten
sich mit lakonischen
Widmungen auf Zeichnungen – und Hermann, der eine Stunde
vor der Bescherung aus einem Büchlein mit bräunlich
marmoriertem Deckel das Gedicht vom vergangenen Jahr aufsuchte und
das Gedicht in die Ohren gepaukt, sehr mangelhaft fertigte. Bei einem
Weihnachtsfest war Walter auffallend still, und während
der traditionellen 2. Bescherung in Rothenstein sagte er zu mir:
„Seltsam, dass ich alles doppelt sehe“.
Am nächsten Tag, läutete der Augenarzt Treitel an: „Sie haben einen sehr schweren
Patienten“. Um die Eltern nicht zu beunruhigen, war der doch
immerhin erst 14-jährige Junge allein zum Arzt gegangen und er
hatte eine schwere Entzündung des Sehnervs, und als er hörte,
dass es um die Erhaltung des Augenlichtes ging, bat er, seinen Eltern
erst Mitteilung dann zu machen, wenn wirklich keine Hoffnung mehr
sei. Ein Vierteljahr war er in der Klinik meistens im Dunkeln. Frl.
Wermke, deren besondererLiebling er war, besuchte ihn füglich
und las ihm hinter einer Gardine, die das Fenster verhängte, den
geliebten Dickens vor. Auf dem Tisch stand Obst und Kuchen, den er uns zuschob; mir
wurde ganz bange; so etwas Gutes gab man nicht ab; das wurde „auf
der Goldwaage“, wie Mutter sagte, verteilt.
Als Ursache der Erkrankung vermutete
Treitel ein zu frühes Ausgehen nach der Influenza. „Unmöglich“ sagte die Mama; „die Kinder
bleiben, wenn sie fieberfrei sind, immer noch einige Tage im Bett.“
„Ja, aber der Herr Walter stand doch im Zug,
als er noch Fieber hatte, weil der Oskar Schirmacher unten
klingelte“. Amelie wusste alles. Die beiden Getreuen,
denen sie noch lange zürnte, schrieben treulich lange Briefe, um
ihn zu zerstreuen, besonders als der Schiffsjunge zu seiner ersten
längeren Fahrt auszog, auf der Oskar ihn teilweise
begleitete.
Ein Brief war ganz in Versen:
„Grüße Hermann, seine Schwestern,
Erbsen gab's zu Mittag
gestern.“
Wir waren sehr stolz, als die gesamte
Adresse in der Königsberger Allgemeinen Zeitung stand, die der
Briefträger eingesandt hatte:
„Diesen Brief mit
seinem Sinn
Tragt zu Walter Lemke hin.
Lizentgrabenstraß'
2b
Eine Etage in die Höh'
Wohnt er, und die Redt'
soll heißen
Merkt auf: Königsberg
i./Pr.
Dieser Brief ist frank und
frei
Da ist weiter gar nichts
bei.
Dieses Briefes Absender
Gaben Namen ohne Ende."
Oh, welches Glück erfüllte
uns alle, als Amelie in der Dämmerstunde eines
Vorfrühlingstages die Lampe vorsichtig verdunkelnd, Walter meldete, der bei Tage noch nicht ausgehen durfte. Er saß da mit
seinen verbundenen Augen, sehr, sehr blass geworden, aber es war doch
ein Festtag, so wie später im Weltkrieg,
als er aus Sibirien entkommen war.
Als ich sieben Jahre alt war, wurde Ali
eingesegnet und aß natürlich an der langen Tafel mit den geladenen
Gästen, während wir anderen sechs im Nebenzimmer am
Kindertisch saßen.
„Im nächsten Jahr, wenn
George eingesegnet wird, präsidiere ich hier,“
stellte Walter fest. Die Mama war wehmütig. Frau
Lange, die langjährige Pflegerin von Agnes Miegels
gemütskranker Mutter, kam zur Gratulation und wollte trösten.
„Nein,nein, liebe Frau Lange;
natürlich, ich weiß, was Sie durchgemacht haben; fünf
Kinder in dieser Woche an Cholera
zu verlieren; ja, aber wenn das erste so fortgeht, es ist doch
schwer.Jedes Jahr kam nun das selbe Lied.
Die Einsegnung, die geschmückte
Tafel, die gepackten Koffer und der Abschied auf dem dunklen,
verrauchten Hauptbahnhof. Jedes Jahr deshalb Trost „er kommt ja
wieder.“
Sie kamen wieder; sie nahmen im Pregel
ein Morgenbad, sie liefen um die Wette - „kannst die 6' noch
wie früher?“ - Sie halfen uns anderen mit den Klötzen
aus dem Riesenbaukasten der Eckhardtschen Nürnberger
Spielwarenfabrik einen Zaun zu bauen unde spielten Theater mit Improvisationen, aber
es entspannen sich keine Kämpfe um den 1. Preis, um die beste
Rolle und wenn der Rumpelakt beim Turmbau kam und durch Wegziehen
eines einzigen Steines alles zusammenstürzte, hielten sie sich
vor dem Krach die Ohren zu.
Es war alles so ungeheuer friedlich
wenn sie lachten, wenn Amelie ihnen in der Hafersuppe
besonders viel Rosinen aufschöpfte. „Rosinen, Amelie;
die kann ich schon nicht mehr sehen, ich muss die Sorten
durchsortieren, ganze Säcke voll.“ Nur die Schlagsahne
machten sie sich noch immer streitig.
Ali blieb bei seinem Anspruch,
dass die Kirschtörtchen völlig bedeckt sein müssten;
er fand immer noch ein Eckchen, auf das mehr Sahne gehörte, und Onkel Alex malte das Lied ausführlich aus, wie George sich statt mit
Seifenschaum mit Schlagsahne rasiert und eifrig rechts und links
leckt.
George im allgemeinen der
stillste, konnte, den Kopf zurückwerfend so herzlich lachen. Er
kam nach München in ein Versicherungsbüro und hat später
immer bereut, nicht studiert zu haben, aber er war immer still
darüber gewesen, und mein Vater, der alles Mittelmäßige
hasste, auch vielleicht etwas einseitig von „Gelehrtenproletariat“
und „Schulmonarchen“ sprach, wollte, da er seine Leiden
nahen fühlte, seine ältesten Söhne möglichst
schnell in seine weitverzweigten Geschäftsverbindungen
einführen.
In München schwelgte George in Büchern und Musik, nahm Gesangs- und Flötenstunden – seine Lehrer versuchten ihn zur Komposition zu bringen und verbrachte
halbe Tage in der Glyptothek.
Er und Ali hatten immer das Geld
zu einer gemeinsamen Reise bekommen, aber beide erklärten
nachher, dass sie diese Unternehmung nicht wiederholen würden.
„Was macht George, wenn
man in einer unbekannten Stadt ankommt?
Er geht 1. ins Museum, 2. ins Museum,
3. in die Bibliothek und abends ins Konzert.“
„Und Ali?“
George hatte dessen Art zu
reisen, in Reime gebracht; ich weiß noch die Stellen:
„Der Frisör ist
der erste,
der Rennplatz Nummer zwei
Und dann geht's noch zum
Schluss
In die Konditorei. - „
Ali ging nicht umsonst zum
Rennplatz, er war ein großer Radrennfahrer geworden. Schon in
Genslack hatten wir ihn auf dem schwierigen Sitz des Hochrades bewundert. Er stürzte einmal, stand ohne viel Umstände auf
und ging den Arm stützend nach Hause. Der Arzt stellte einen
komplizierten Bruch fest. Er stürzte noch einmal schwer bei
einem Rennen; der Arm blieb von da an etwas krumm, was ihn aber nicht
vom Fahren und Rudern abhielt.
Auf einem Bord in der stickigen
Jungensbude neben dem Bücherregal standen seine Gewinne: grün
und lila schillernd Gläser, Pokale, silberne Humpen und ein
Barometer
mit einem Braupferd. Die Mama sprach noch später stolz
von der Regatta
in Danzig, wo Alis Boot mit Hermann als Steuermann
mehrere Preise hintereinander errang.
Sie waren wie alle für Sport mit
starken Sympathien für das Ausland. Als Kaufleute mochten sie gerne über
Grenzzäune sehen; Walter weniger, er liebte das Wasser um
des Wassers willen, diente als regierungstreuer Monarchist mit Begeisterung bei der Marine und nahm es ansonsten sehr übel,
wenn sie vor der französischen Artillerie warnten. Er machte ein glänzendes Examen als Ingenieur.
Hermann ging so wie Ali als Kaufmannslehrling nach Stettin, nachdem er unter der
teilnehmendenSorge der ganzen Familie einschließlich Fräulein
Wermkes, seine Einjährigen Prüfung bestanden hatte. Er machte in dieser Zeit den Schulweg etwas
kleinlaut mit mir zusammen. „Kannst Du mir nicht noch schnell
Gedichte sagen, weißt Du von Goethe und Uhland, ich fürchte,
wir schreiben über Sänger; ich falle bestimmt durch.“
Ich rezitierte den Rollberg
und die Junkerstraße
entlang, was ich nur irgend wusste, zum Preis der Sangesgabe; er warf
alles durcheinander; so schnell ließen sich so viele
verbummelte Stunden nicht nachholen. Gespannt wartete ich auf dem
Gefekensplatz um ½ 2 Uhr auf das Ergebnis.
Hermann kam strahlend an, nach
dem er am Morgen noch so kleinlaut gewesen.
„Großartig ging es. Weißt
Du, was für Themen wir hatten? 'Die Macht des Gesanges, an
Gedichten unserer Klassiker nachgewiesen.' Das hatten alle anderen
gewählt und nur ich das zweite: 'Der Pregel in und um
Königsberg'. Der Schulrat, der hineinsah, sagte nur: „Alle
Achtung, Sie wissen in Ihrer Heimat Bescheid.“
Ja, den Pregel in und um Königsberg
kannten sie alle auswendig, das stimmte wohl.
Immer stiller wurde es nach des Vaters
zu frühem Tod in dem großen Haus am Lizent. Manchmal waren
alle Geschwister im Ausland und auf Reisen. Nur ich ganz allein im 1.
Stockwerk und machte in der frühen Dunkelheit des nordischen
Winterabends meine Schularbeiten beim Schein der Petroleumlampe. Sie
hatte einen schönen, schweren Fuß aus Bronze;
auch eine Erinnerung an die Kindheit; die Mutter hatte sie für
6M anfertigen lassen, weil sie immer in Sorge gewesen war, wir
könnten bei unseren Spielen eine Lampe umstoßen. Ich
liebte ihr rötliches Licht und das Dunkel in den Ecken.
Ich ging durch die hohen, leeren
Zimmer, nach einer Stimme lauschend an einem Regal mit Schulbüchern
entlang, das fortzunehmen die Mama sich wohl nicht entschließen
konnte.Ich suchte den Gallischen Krieg für
meine Lateinstunden; er war in mehreren Exemplaren vorhanden.Ich blätterte im Ovid und Livius und sah staunend auch die unverständlichen
Zahlenreihen der Logarithmentafel.
(Von den Brüdern fehlt mir eine
Seite, aber es kommt nicht so genau darauf an. d.E. [Anmerkg.: Elisabeth])
Und dann trug er Cyrano
vor:
Roxane, adieu, je dois
mourir,
C'est pour ce soir, je
crois, ma bien-aimée
und die Szene im Klostergarten:
Regardez ces feuilles d'un
blond vénitien,
Regardez les tomber, comme
elles tombent bien.
Et dans ce court trajet de
la branche à la terre
Comme elles savent mettre
une beauté dernière,
Et malgré leurs
frageur de poussir sur le sol,
Elles veulent que leur
chute ait la grace d'un vol.
Und Coquelin, Kinder, in der Rolle des
Cyrano; unerreicht!“ „Kainz steht ihm in nichts nach; die
deutsche Innigkeit -“ „Ich bitte Dich, Walter, was
hat die deutsche Innigkeit mit seiner comédie heroi-comique zu
tun!“ „Die Fuldt'sche Übersetzung ist eine
Neuschöpfung. Was meinst Du, Ali?“
„Ja, ja“, meinte Ali.
Er war liebenswürdig und ihm waren beide Seiten recht. Er kam
aus London und blieb längere Zeit. Vom Tower und der Westminster
Abbey hörten wir nicht viel, aber er rühmte die englische
apple-pie und sang zu Georgs und Hermanns leiser Freude – beide waren sehr musikalisch – kleine englische
Schlager:
One day I went Piccadilly
And met a poor girl in
distress,
Lost address
In distress
Didn't know where to go.
Wanted to find her uncle
Who lived at Pimlico.
Wir lachten.
Im Sommer 1903 saß ich mit Georg
auf dem Balkon einer neuen kleinen Hufenwohnung.
„Nein“, sagte er, „Du
hast Augen als verstündest Du die Welt nicht und die Welt Dich
ebenso wenig.“
„Ja, weißt Du, warum? Aber
fährt die Mutter lange fort?“
„Es ist am Besten, wenn sie zu Tante Ottilie nach Wiesbaden geht. Man muss sehen.“
Müller war der Prokurist.
„Ich wollte lieber in Paris
bleiben; vielleicht ist noch etwas zu retten.“
Er sprach mehr für sich. Ich sah
in den wundervollen Sommertag hinaus.
"Beau jour tu me
seras sans douceur et sans joie,
Verse à d'autres
ton vent fleuri que les enivre*),
Mon âme trop
longtemps sous l'ennuie plôie
Pour qu'un peu de vent
frais qui passe l'en d'élivre - "
An materielle Verluste dachte ich nicht
dabei.
Dann war wieder ein Abschied auf dem
Hauptbahnhof. „Reise gut, Mutter,“ „Grüße Onkel Goerke
und Tante Ottilie.“
Herr Bock lässt sich Dir noch empfehlen.“ „So, ja, ein
hübscher Mensch; grüßt ihn, bitte, wieder. Und Tilchen, passe doch auf, wenn die Wäsche kommt, es fehlen
zwei gute Tischtücher.“ „Auf Wiedersehen.“
„Sei unbesorgt!“ Der Zug bog um die Ecke. - „Ja,
und was machen wir nun?“ „Ich denke, wir gehen alle
zusammen essen.“ Hermann wählte das teuerste Menü. „George lädt uns ein.“ Der lachte auf seine
herzliche Weise. Er fand bei Hermann alles reizend. „Wann
fährst Du zu Perbandts
?“
„Übermorgen.“ Miezel bedauerte: „Da
kann ich leider nicht an die Bahn kommen, ich habe nachmittags zwei
griechische Stunden.“
Sie hatte jetzt, warum sie so lange
gekämpft; und um dessentwillen sie zwei Verlöbnisse
ausgeschlagen hatte. „Und Dr. Bock, Miezel?“ „Er
ist ein wundervoller Lehrer und kommt öfters; er hilft mir viel
in Griechisch.“ „Zwei Tage bin ich noch bei Walter in Zimmau.“ Walter sah schlecht aus; ein scharfes
Gesicht mit übermüdeten, kalten Augen. „Ja,“
fragte er halblaut als Schluss einer langen Gedankenreise, „Ja,
wenn keine Löhne da sind.“
Die Zimmauer Ziegelei
in der
100.000M Aktienkapital von uns steckte, stand vor dem Zusammenbruch. „Wenn ich nur früher hätte kommen können!“ „Wann waren wir eigentlich alle sieben zuletzt zusammen?“ „Bei Vaters Beerdigung.“
Wir waren still.
„Walter, ich habe Jörn
Uhl gelesen; ein wunderbares Buch; ich bringe es mit.
Man kann nicht alles zwingen.
Walter biss mit einem Stöhnen
die Zähne zusammen. „Ich denke, wir gehen, ja?“
Hermann trank seinen Mokka aus.
Wir anderen hatten Kaffee bestellt.
Die Brüder standen auf und halfen
uns wie Kavaliere in die Mäntel.
Zum letzten Mal in meinem Leben sah ich
sie alle hier zusammen.
Dann gingen wir zurück in die
Wohnung, die kein „Zu Hause“ mehr war.
Wird weiter korrigiert:
Es fehlen noch die Übersetzungen der Gedichte.
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