Unserer allgemeinen Stimmung wegen war der November noch
unfreundlicher und trüber als er ohnehin zu sein pflegt.
Besonders ich fühlte mich noch mehr als die anderen Vier als
Grille, die im Sommer gesungen und ohne Gedanken an den Winter in den
Tag hinein gelebt hatte. Ich musste es doch wissen, dass die Schule
keine Garantie übernahm. Mieze Kado, die von meinem Eintritt in
den Kursus so wie so wenig erbaut war, hatte mir so sehr geraten, die
Stunden, die im Monat nur 20M kosteten - Fräulein Arnheim hatte
viele Ausgaben, sie handelte aus Idealismus – aber unabhängig
davon mir selbst meinen Plan zu machen und alle Seitenwege zu
vermeiden. Dafür war ja noch Zeit auf der Universität.
Warum die Gedichtstunden bei Marie Skrodzki? Warum die Lektüre
moderner Franzosen, mein viel bewunderter Vortrag über
Beaudelaire? In Sprachen, auch in Latein hätte ich das Abitur ja
2 Jahre früher machen können!
Nun war es zu spät, wir mussten weiter, aber wir wussten alle
sehr wohl, dass wir in vielem sehr unsicher waren, dass einfach zu
wenig gepaukt worden war. Dazu kam Fräulein Arnheims ganz
falscher Ehrgeiz, uns zu verbieten oder vielmehr es uns nahe zu
legen, ihr zu liebe die Lehrer des Realgymnasiums,
an dem wir geprüft werden sollten, nicht aufzusuchen. Die Lehrer
selber sprachen nach der schlechten schriftlichen Prüfung ihr
Bedauern über diese Unterlassungssünde aus. Wir gingen nun
vor dem Mündlichen auf eigene Faust zu dem Kollegium, aber
besonders für mich war es ohne jeden Nutzen, da ich schon bei
dem ersten Besuch bei dem Religionslehrer Sterne vor mir kreisen sah
und trotz des überheizten Zimmers vor Kälte zu zittern
begann. Gleich am Anfang hatte ich mich schnell blamiert „Was
verstehen Sie unter Glauben?“ wurde ich gefragt. „Für wahr
halten“ begann ich gerade, als Regina neben mir krampfhaft und
verzweifelt „Vertrauen“ flüsterte, so dass ich abbrach und
noch schnell etwas von „Vertrauen“ murmelte, während der
Lehrer gleichfalls murmelnd etwas Abfälliges über
„katholischen Einfluss“ hören ließ.
Zu Hause angelangt, maß ich Fieber 40° und gab mich
nicht ohne leisen Genuss der dadurch geschaffenen Situation einer
entschuldbaren Verantwortungslosigkeit hin. Die Freunde kümmerten
sich voll Besorgnis um mich. Zufällig kam gerade während
der Krankheit ein leckeres Päckchen von Dora, das mich in der
Examenszeit erfrischen sollte. Einmal trafen Regina und Mieze Heumann
bei mir zusammen. Regina nicht sehr geschmackvoll angezogen mit einer
festen dunkelblauen Taille und grauem Blusenrock presste Citronen aus
und sprach nach ihrer Art gut gemeint aber gar zu pathetisch. Mieze
saß in tadellosem dunklen Schneiderkostüm und Velourshut
mit echtem Reiher
völlig still und unzugänglich da, bis Regina bald darauf
ging. Dann begann sie mit Kaviar, Toast und Portwein zu wirtschaften
und mich langsam dem Leben wieder zu geben. Erst wenige Tage vor dem
Examen im Münchenhof bei Direktor Wittrien tauchte ich wieder
auf als etwas schmal und blass auch von der Schulfrau mit gutem Recht
bedauert.
Das Mündliche machte dann vieles gut. Die Lehrer selber
sagten nachher, dass der schlechte Ausfall des Schriftlichen ein
Rätsel für sie sei. In Mathematik hatte nur Frl. Loepp eine
III, wir anderen 4. Tilla außerdem in Latein 4 und Edith und
Frl. Loepp in Französisch 4.
Schuld trugen auch zum Teil die ganz törichten Themen. Der
deutsche Aufsatz: „Das Mittelmeer das Weltmeer der Alten, der
Atlantische Ozean das Mittelmeer der Neuzeit“. Diese
historisch-geographische Abhandlung bot man uns, die wir die
Klassiker, die Romantik, die Modernen nicht gelernt, sondern erlebt
hatten. Die Jungens hatten das Thema: „Wie bewahrheitet sich
Goethes Wort: 'Denn ich bin hier ein Mensch gewesen, Und das heißt
ein Kämpfer sein' in Schillers Leben?“ - Da hätten wir
schreiben können! Man hätte uns doch wenigstens Themen
zur Auiswahl geben müssen! Noch absurder, ja geradezu
byzantinisch-verlogen war das französische Aufsatzthema
„Pourquoi Guillome I a-t-il le surnom le Grand?“ Wir
wurden von 8 Uhr morgens bis 9 Uhr abends geprüft mit nur 1½
Std. Mittagspause. Allein in Mathematik kam jede ¾ Stunden
heran. Da kann man viel fragen. Aber Direktor Wittrien war ein
wunderbarer Examinator. Er führte so geschickt und anregend,
dass man ganz vergaß, im Examen zu sein und ich mir zu meinem
Erstaunen in einzelnen Gebieten eine II holte. Jahnkes Unterricht
hatte doch das Gute gehabt, dass wir auch auf anderen als den
eingefahrenen Wegen folgen konnten und uns zu helfen wussten.
Dramatisch war der Beginn des Tages. Ein junger Lehrer, der nicht
recht Bescheid wusste, hatte uns in eine leere, kalte, denkbar
ungemütliche Klasse gewiesen. Frl. Loepp lernte noch
Naturwissenschaften und sagte immer wie benommen vor sich hin: „Der
Magen geht von links nach rechts“. In ihrer leicht unduldsamen Art
gebot ihr Regina zu schweigen. Frl. Loepp sagte nur ihrerseits recht
scharf, dass Regina ihr nichts zu befehlen hätte, und es
entwickelte sich ein ungemütlicher Streit, wie wir es bis dahin
bei uns gar nicht kannten. Die anderen, auch nervös geworden,
geboten Ruhe, und Regina saß da wie versteinert und völlig
unzugänglich. Ich fasste sie um, und hatte nich übel Lust,
„Le Vase brisé“
zu zitieren: „N'y touchez pas, il est brisé“,
aber ich hatte gelernt, dass man auch um einer eleganten Pointe
willen niemand kränken darf und so wählte ich lieber
Molière: „Je ne crois pas, que le cas soit coupable“.
Sie musste doch lächeln, und wir waren alle von einer Spannung
befreit, als Direktor Wittrien hereinkam und heiter rief: „Da sind
Sie ja, meine Damen! Wir suchen Sie seit einer Stunde und dachten
schon, Sie seien in die Ritz' geschorrt und mit dem Schlorr bedeckt.
Nun muss noch unser Schuldiener gleich wieder zu Frl. Arnheim gehen,
damit die Eltern benachrichtigt werden, die auch schon in Sorge über
das rätselhafte Verschwinden sind; das alte Fräulein, das
bei Fräulein Arnheim wirtschaftet, hat gleich vor Schreck
geweint“. Er geleitete uns dann in ein warmes, gemütliches
Privatzimmer, wo wir Tee, Schokolade und belegte Brötchen
vorfanden und nachmittags gab es Kaffee, Kuchen und Schlagsahne.
Diese festliche Aufmachung verdankten wir der rührenden Frau
Wittrien. - Ein großer Trost für unsere durch das im
Schriftlichen schlechte Ergebnis sehr enttäuschten Lehrer waren
die vielen Lobe und guten Nummern, die wir im Mündlichen
einheimsen konnten.
„Das müssten unsere Primaner hören,
wie Sie Horaz
deklamieren“,
„wie Sie auf dem Forum
spazieren gehen“, „in Literatur und Geschichte auch im
Querschnitt Bescheid wissen“.
Als wir dann – jetzt alle „etwas
schmal und blass“ - mit dem Glückwunsch des Prüfungskollegiums
entlassen wurden, warteten unten schon fast zwei Stunden lang die
Angehörigen und Getreuen. Werner Thaer und Dodo waren die
ersten, die uns gratulierten, weil sie kühn bis vor die Türe
des Prüfungszimmers vorgedrungen waren. Fräulein Arnheim
stand auf den Arm ihrer Begleiterin gestützt. „Wie steht es?“
fragte sie schwach, als die Kunde, es sei zu Ende zu ihr drang. „Alle
haben bestanden.“ Ohne auf mich zu warten, ging sie völlig
erschöpft, aber glückselig und trug sich mit Plänen
und Vorbereitungen für ein köstliches Abschiedsfest.
Georg war auch da mit einem
riesigen Nelkenstrauß, aus dem der Glückwunsch
herausragte: „Der Abiturientin aus der Familie, wo die Töchter
studieren.“ Er hatte schon zu Weihnachten 2 Päckchen für
Regina und mich an den Baum gehängt, die die Aufschrift trugen:
„Erst nach bestandenem Examen öffnen!“ Das fiel mir jetzt
ein. „Georg, nun können wir ja auch das geheimnisvolle
Päckchen öffnen!“ Ich machte es zu Hause voller Spannung
auf – es enthielt einen Albertus! Nein,
darauf hätten wir wirklich kommen können.
Ach, wie wunderschön war das Erwachen am nächsten
Morgen. Man blieb wohlig noch ein wenig liegen, Georg brachte mir die
Post. Jahnke hatte uns allen Blumenkarten mit seinem Glückwunsch
geschickt; wahrscheinlich war er ebenso erleichtert, uns los zu sein,
wie es uns mit ihm ging. Wie schön war es, die entwerteten Hefte
zu zerreißen, „Zu wenig IV J.“ stand unter einer Arbeit.
Weg damit. Das ging mich nichts mehr an. Es tut mir nur leid um die
französischen Aufsätze, die durchweg I waren und die alle
mit verbrannt wurden. Ich dachte, ich könnte sie jederzeit
wieder schreiben, aber das lässt sich nicht machen, und jetzt
würde ihre Beurteilung mich sehr interessieren.
Dr. Jankowsky hatte mir zum Examen die Weisung gegeben, ich sollte
schreiben, wenn ich durchkäme und telegraphieren, wenn ich nicht
bestünde,
dann würde er herüber kommen, um mich zu trösten.
Jetzt schrieb er mir „ein Gott sei Dank, dass der Unsinn zu Ende,
entrang sich meiner Brust“. Er war in der Examenszeit ein paar Mal
in Königsberg gewesen; aufwühlende Zusammenkünfte
waren es, doch sie verblassten bald, das Examen war wichtiger. Er
traf mich auch nach dem Examen in Rastenburg, wohin ich der Mutter
zuliebe gefahren war. Sie war doch ganz stolz, dass ich es nun
geschafft hatte, besonders weil sie im Schülerheim
immer wieder erlebte, wie viel Kosten die Eltern sich oft machten, um
ihre Söhne nach missglückten Versuchen immer wieder auf der
Schule zu halten, um ihnen durch das Abitur viele Möglichkeiten
bei der Berufswahl zu bieten.
Was mich in Rastenburg nervös machte, waren die dauernden
Gespräche von Bocks über Jankowsky. Sie wollten zu gerne
über uns Bescheid wissen, und ich wusste doch selber nicht, wie
ich im Grunde zu ihm stand. Ich fühlte mich unwiderstehlich
angezogen, aber meine ganze Vernunft wehrte sich dagegen. Ihm ging es
ja nicht anders. Ich machte ihm keine Illusionen vor, und er
fürchtete als echter Bauernsohn eine Heirat ohne Geld und
Aussteuer und ließ mich doch nicht los. Er ließ mich nach
seinem letzten Besuch ernüchtert und zu tiefst enttäuscht
zurück. Nicht enttäuscht von ihm selbst, enttäuscht
von allem, was ich erstrebt und geliebt hatte. Alles wurde wertlos,
wenn ich zu ihm von meinen Plänen, Freundschaften und Büchern
sprach. Als er schied, wurde er weich und traurig. Ich bat ihn,
mir nicht mehr zu schreiben, ich wollte meinen Seelenfrieden wieder
haben. Es war Zeit, zur Bahn zu gehen, Bocks riefen. Da beugte er
sich noch einmal herunter und küsste mich; ich hatte jede
Annäherung immer abgewehrt, es erschreckte mich und stieß
mich ab, aber diesmal anders; zart, beschützend und liebevoll.
Er hatte solch schöne, gute Augen, an die würde ich denken,
wir würden immer von einander hören und ich würde mich
um seine Kinder kümmern, wenn sie studierten. Jetzt wollte
ich aber schnell nach Pomedien, wo ihn niemand kannte, wo ich so
liebevoll begrüßt, so bezaubernd verwöhnt wurde, wo
ich auch im Langendorfer Schloss „Tag und Nacht“ willkommen war.
Ich fühlte mich dort so heimatlich, obwohl sie ganz in ihrem
Kreis beschlossen lebten und niemand genauer über mein Leben,
meine Pläne und Sorgen Bescheid wusste oder danach fragte; das
war ja auch wieder das Schöne und Heilende. Ein paar Tage
besuchte mich noch Regina dort, ehe sie nach München zu dem
Freiherrn von Pechmann fuhr, der sie zu einem Semester eingeladen
hatte. Als Tochter ihres Lehrers, des berühmten „Teut“ war
sie Almann und Bi interessant. Sie hofften durch Reginas Fürsprache
auf den Erlass eines besonders unsympathischen Aufsatzthemas, was
sich aber als trügerisch erwies. Sie fuhr an einem kühlen
Apriltag morgens um 4 Uhr mit der Kleinbahn ab.
Wir standen vor dem Wellblechhäuschen, und so reich und
fröhlich diese letzten Tage des Zusammenseins gewesen waren,
konnte ich das Kommen des Bähnchens kaum erwarten. Ich hatte das
selbe erlebt wie sie bei der Trennung in Amorbach. Ich kannte diesen
für andere meist unverständlichen, leidenschaftlichen
Trennungsschmerz, vielleicht, weil man im Unterbewusstsein fühlt,
dass nun wirklich etwas Einmaliges, Unwiederbringliches aufhört,
ein Gefühl, das keinen Alltag kannte. Sie empfand noch jeden
Augenblick unseres Zusammenseins bis dann endlich, endlich das
Züglein in der Ferne auftauchte und mit größenwahnähnlichem
Gefauche und Gerattere sehr gemächlich heranbrauste und sie
mitnahm. Ich ging langsam zurück und schlief völlig
erschöpft noch einmal ein, während der erste
Vorfrühlingsduft ins Zimmer strömte.
Ich musste endlich mit den lang ausgedehnten Ferien Schluss machen
und mich immatrikulieren lassen. Ich fuhr nach Königsberg, das
jetzt wieder eine ganz fremde Stadt geworden war. In der
Tragheimerpulverstraße sah ich unseren Lateinlehrer im Gespräch
mit Grete Skrodzki der Schule zugehen. Das ging mich nichts mehr an.
Ich konnte natürlich mit hineingehen; man würde mich
freundlich begrüßen, d.h. wenn die Zeit es gerade
erlaubte. Besser war es für den fremden Gast sich anzumelden.
Die Fließstraße lag öde. Es war so reizvoll gewesen,
in der engen Gasse die schmale Treppe hinaufzugehen und dann gleich
vom ersten Zimmer aus auf einen so ganz unerwarteten Balkon zu
treffen, der sich wie eine Galerie an der ganzen Breite der Wohnung
hinzog und einen Blick auf verborgene Gärten mit hohen Bäumen,
eine goldig schimmernde Herbstbirke steht mir immer noch vor
Augen. „Regardez ces feuilles d'un blond venitien,“
hatte ich zu Regina gesagt. Wir lasen damals mit Begeisterung
Cyrano de Bergerac, den ich schon lange kannte, aber mit ihr zusammen
doppelt genoss. -
Ich war in meinen Gedanken versponnen bis vor Reginas Tür
gegangen, aber sie war ja in München, Tilla bei ihrer Schwester
in der Schweiz, Edith bei den Schwiegereltern, Frl. Loepp zu Hause in
Marienburg. Die Mozartstraße 37, die mir doch so etwas wie ein
zu Hause gewesen war, war verlassen, die Möbel zugedeckt, die
Jalousien herabgelassen.
Georg hatte in Ludwigsort eine Wohnung gemietet und fuhr täglich
ins Kontor
„Lissa möchte dort gern Veilchen pflücken.“ Sie suchten
in Königsberg eine schönere Wohnung.
Bis mein Zug ging, wollte ich noch schnell zu Susi Wyneken
hinaufspringen, die einzelne Stunden bei uns mitnahm. Sie war mir in
der letzten Zeit recht nahe gekommen. Vor ihrer Tür wartete ein
Auto, und auf der Treppe kam sie mir mit ihrem Vater, dem
Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung, der ein guter Bekannter meiner
Eltern gewesen war entgegen. Susi trug ein dunkelblaues
Schneiderkostüm, eine moderne, flache Schirmmütze mit einem
blauen Autoschleier. Sie reiste ab in ein Lungensanatorium. „Ja,
unsere Susi hat uns viel Kummer gemacht und fast das ganze Musikfest
verdorben. Es ist so plötzlich gekommen, aber nun tun wir gleich
etwas Gründliches; dann haben wir sie bald wieder.“ Susi
gab mir ihre Adresse, und nach kurzem, herzlichem Lebewohl sah ich
das Auto um die Ecke biegen.
Ich blieb zurück, wie es unser Los bei jedem Abschied ist,
auch wenn das Abfahrtszeichen der Lokomotive uns selber gilt. Ach,
noch während wir sie im Arme halten, die Geliebten – Lebe
Wohl! Vergiss mich nicht! Auf Wiedersehen! - sind sie schon fern von
uns, ergriffen und entführt von ihrem eigenen Lebensstrom, der
kurze Zeit mit unserem gemeinsam hinströmte. Und wir stehen
am Ufer mit den im ersten Welken stärker und süßer
duftenden Abschiedsblumen im Arm und sehen verloren auf die kleinen
Wellen im Sand, die die letzten Tritte verwischen.
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