Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

Der Beginn des Unterrichts


Ich habe erst mit 7 Jahren angefangen zu lernen. Meine Mutter hatte als kleines Kind so gelitten unter einem groben Lehrer, war dann aber später so gerne zur Schule gegangen, daß sie ihr eigenes ältestes Töchterchen vor der Schulangst bewahren wollte, sie schob daher den Schulbeginn etwas hinaus und schickte mich außerdem nicht in die Schule, sondern ließ mich zu hause unterrichten. Eine kurze Zeit unterrichtete mich unsere Kindergärtnerin, dann verlangte die Polizei eine ordnungsmäßige Lehrkraft, und so betrat dann Fräulein Wermke unser Haus, dem sie bis an ihr Lebensende treu geblieben ist32. Ich muß wohl als kleines Kind geringe Spuren von Intelligenz gezeigt habe, denn meine Mutter kam anfangs öfter in den Unterricht und fragte ganz ängstlich: „Begreift sie?“ Besondere Zweifel an meinem Verstand hatte eine Begebenheit hervorgerufen. Ich sollte das Verschen lernen: „dies ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen“, u.s.w. ich sagte aber immer „der schüttelt die – Äpfel, - die Birnen“ etc. bis Tante Marie, eine Schwester meines Vaters sagte: „Tröste dich, Marie, die Dümmsten kriegen immer die besten Männer.“ Ich bedaure es bis heute, daß ich nicht zu den Dümmsten gehörte. Ich besinne mich nicht, daß mir irgendetwas Schwierigkeiten oder Kummer bereitet hätte, ich genoß den Unterricht geradezu. Und er war auch ideal. Fräulein Wermke machte keine Sprünge, wollte Rom nicht an einem Tage erbauen, sie ging ganz sorgfältig vor und legte Stein auf Stein, dazu in unserer schönen, warmen Studierstube; eine Stunde am Tag und die ersten 3 Jahre nur im Winter. Das ließ sich ertragen. Erst allmählich wurde die Unterrichtszeit verlängert. Meine Mutter suchte nach einer Mitschülerin, aber ich blieb allein, und das war vielleicht ganz gut. Am liebsten waren mir die Geschichtsstunden, d. h. griechische Mythologie. Frl. Wermke hatte ein schönes Buch dazu mit vielen Bildern, und sie nahm die Sache sehr ernst. Die rechten und unrechten Frauen von Zeus konnte ich samt seinen ehelichen und natürlichen Kindern der Reihe nach hersagen, und sie wurden auch in das kleine Heftchen eingetragen, das Frl. Wermke zu dem Zwecke führte, nummeriert wie im Kirchenregister. Meine Mutter war sehr stolz auf meine Leistung, aber das leise Lächeln meines Vaters sehe ich noch als sie mich aufforderte dem Papa diese Kenntnisse herzusagen.

Als ich mit 12 Jahren eine Prüfung für die Aufnahme in die 2 a, die dritthöchste Klasse machte, war das Resultat: „lückenlos vorbereitet“. Auf die wunde Stelle in Geschichte war man offenbar nicht gestoßen. „Vom Vater Zeus zu Heinrich IV“ hatte ich den Sprung machen müssen. Aber diese Lücke hatte ich bald ausgefüllt, und die innige Vertrautheit mit den griechischen Sagen, ja das geradezu lebendige Verhältnis zu der griechischen Götterwelt ist mir mein ganzes Leben über in der Homerlektüre, beim Staatsexamen und beim Unterricht von großem Wert gewesen. Wenn später eine Schülerin beim Rückblick auf die Quartanerzeit im Aufsatz schrieb: „Für Ilias und Odyssee waren wir alle begeistert“ dann war mir wohl bewusst, daß Frl. Wermke die Saat für diese Begeisterung gestreut hatte.

Meine Schwestern, „die beiden Kleinen“ wie es jetzt hieß, waren so hungrig nach geistiger Nahrung, daß sie an der Tür dem Unterricht lauschten. Die Geschichte von Adam und Eva wurde auch wirklich am andern Tag aufgeführt. Wie lachte Amalie noch in späteren Jahren, wenn sie erzählte, wie Gott die Eva rief und wie schließlich nach langem Zögern die kleine Eva, alias Elisabeth, weinend aus ihrem Versteck rief: „Ich kann nicht kommen“. Sie war damals nicht ganz 4 Jahre alt und über der paradiesischen Begeisterung war ihr etwas Menschliches passiert.

Der Unterricht fand schon im Frühjahr 88 seine Unterbrechung durch unseren letzten Sommeraufenthalt an der See in Neuhäuser und 1889 durch unsere Reise nach Stuttgart und Kissingen. Ich muß aber in den kurzen Wintermonaten recht weit gekommen sein, denn in meinem Heft, das ich nach Stuttgart nahm, hatte ich schon dekliniert „der Vater, des Vaters“ etc. und als eine Tante mich fragte, ob ich denn das schon wüsste, rief ich voller Entrüstung: “Ach, längst wieder vergessen!“

Schon im Frühjahr 1887 war eine ältere Stiefschwester meiner Mutter aus Stuttgart bei uns zu Besuch gewesen, Tante Antonie33, die bald darauf die zweite Frau von Geheimrat von Riehl wurde, dem

Antonie von Riehl, geb. Eckhardt

bekannten Kulturhistoriker34. In seinen Werken nennt er sie „das Treiberle“ und seine „Abendsonne“. Sie hatte uns Kindern als Erste die biblischen Geschichten, besonders das Leben Jesu nahe gebracht und sehr anschaulich erzählt und unser Leben unter religiös ethische Forderungen gestellt oder vielleicht besser gesagt die Geschichten und Lehren zu moralischen Münzen geprägt. Einmal suchte sie mich zu packen als ich nicht gehorchen wollte durch die Frage: „Was sagen die Lieben Engele?“ aber ich antwortete kühl „das ist mir ganz egal.“ Sonst war ich meistens gerührt bei ihren Erzählungen, und meine Schwestern haben noch viele Jahre danach, wenn mir im Theater die Tränen herunterliefen, Tante Antonies Abschiedswort zitiert: „Mariele, bewahr dir dein weiches Herzele.“

Die Beziehungen zu den Stiefschwestern waren keine guten gewesen. Bei der Beerdigung ihres Vaters war meine Mutter zum letzten Mal in der Heimat gewesen, jetzt wollte sie Tante Antoniens Besuch erwidern. Mein Vater begleitete uns bis Berlin und fuhr ins Bad nach Kissingen, dort wollten wir uns treffen. Für uns 3 Schwestern war diese Reise natürlich das große Ereignis. Ich besinne mich noch genau, wie wir am Vorabend der Reise am Kindertischchen von der Reise sprachen. Wir konnten uns natürlich schwer eine Vorstellung machen von dem, was wir erleben würden. Am 8ten März war Tante Ottiliens Hochzeit gewesen und Ende März gings los35. Onkel Alex begleitete uns ein Stück, weil er nach Elbing fuhr. Er vertrieb uns die Zeit, indem er uns prophezeite, was kommen würde. Wir staunten ihn an. Er saß nämlich vorwärts, wir rückwärts. Später stellten wir biblische Szenen dar. Elisabeth legte sich eine Decke auf die Füße und erklärte der Mama: „Das tue ich nur, damit du nicht gleich siehst, daß ich nicht der richtige Petrus bin.“ In Berlin besuchten wir Tante Marie und Tante Gretchen36. Diese beiden Schwestern meines Vaters waren beide Lehrerinnen gewesen, sie waren nach Amerika gegangen bald nach dem Krieg zu ihrem Bruder Ernst, der dort einen Buchhandel hatte, und hatten bei der Heimkehr ein Pensionat für Amerikanerinnen eröffnet. Sie lebten beide bis an ihr Ende in Berlin und blieben bis zum Tode entzweit. Was sie entzweit hatte, habe ich nie erfahren. Wir durften bei unseren häufigen Durchreisen nie die eine wissen lassen, daß wir bei der andern gewesen waren. Beides waren bedeutende Menschen.

Tante Marie hatte in Amerika den freieren, größeren Begriff der Frau kennen gelernt und arbeitete nun in den Kreisen der Frauenbewegung, - Helene Lange37 war mit Tante Marie befreundet - um die vielfach unwürdige sklavische Behandlung der deutschen Frau zu beseitigen. Durch Tante Marie wurde der erste Funke kämpferischen Geistes für die „Frau“ in mir, die Sehnsucht nach dem Studium schon ganz früh geweckt.

Tante Gretchen war hochmusikalisch, sie hatte bei sich einen jungen Portugiesen erzogen und ausbilden lassen. José Vianna da Motta38.

Dieser José öffnete uns 3 Mädchen die Tür als wir allein heraufkamen und wir sagten unsern Spruch: „Wer mögen wir wohl sein?“ Er hatte aber meine Mutter schon vom Fenster gesehen und sagte: „Ihr seid die kleinen Lemkes.“ Meine Mutter hatte mit uns 3 aufgeweckten, temperamentvollen Mädeln Staat machen wollen, aber wir schwiegen zum großen Kummer meiner Mutter eisern, kaum waren wir fort, schwatzten wir wie ein Wasserfall; wir hatten alles gehört, gesehen, verstanden. Als wir die Treppen zum Centralhotel heraufstiegen sagte unsere Kleinste: „Wir sind wohl hier in einem Schloß?“ Die Marmortreppen und roten Läufer und die zahlreichen Spiegel hatten ihr wohl diesen Eindruck erweckt. Aber woher wusste sie, wie es im Schloß aussieht?39

Im Zoo fanden wir eine ganz neue Welt, denn einen Tiergarten hatten wir in Königsberg damals noch nicht. Für die beiden Kleinen wurde er daher mehr zu einer Welt des Schreckens als der Freude. Als der Löwe brüllte, war Elisabeth kaum zu beruhigen, und „Tilchen“ wie Ottilie genannt wurde, war ja von Natur besonders ängstlich. Das beweist eine Geschichte, die aus ihrer frühen Jugend berichtet wurde.

Auf dem Hof der Steindammer Wohnung lebten ein paar unschuldige Hühner und wie sie vom Fenster heruntersah soll sie weinend gerufen haben: „Sie Seilein (Kinderfräulein), das Huhn sieht mich zu.“ Ich war 1 Jahr älter und befreundete mich auch bald mit dem Wärter. Jahrzehntelang bis zum überhasteten Aufbruch von Allenstein 193440 lag in meinem Nähtisch die Feder eines Stachelschweines, die er mir zum Abschied geschenkt hatte. Ich sollte mir daraus einen Federhalter machen lassen.

Von der Fahrt nach Stuttgart ist mir in Erinnerung geblieben, daß ich Zahnschmerzen hatte und daß Elisabeth die Bahnfahrt nicht ertrug. Wie aber muß meiner Mutter zu Mut gewesen sein, die nach zehn Jahren wieder ihrer Heimat sich näherte, die sie zum letzten Mal bei der Beerdigung ihres geliebten Vaters gesehen hatte. Könnte ich sie jetzt danach fragen!


 

32 Im Manuskript ist an dieser Stelle das Photo einer Frau in Tracht eingeklebt – vermutlich Fräuleim Wermke.

33 Antonie Eckhardt, mar. Wilhelm Heinrich von Riehl, geb. gest. 21.08.1916 Freudenstadt begr. Pragfriedhof, Stuttgart

34 Wilhelm Heinrich von Riehl (geadelt 1883), Kulturhistoriker und Novellist, * 6.5. 1823 in Biebrich, gest. 16.11. 1897 in München. - Der Sohn des Schloßverwalters Friedrich August R. und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Giesen, besuchte die Lateinschule zu Wiesbaden und das Gymnasium zu Weilburg, wo er 1841 das Abitur bestand. Seit 1841 studierte er in Marburg, Tübingen und Gießen Theologie, Kunstgeschichte und Philosophie. Sein theologisches Kandidatenexamen bestand R. 1843 am evangelisch-theologischen Landesseminar in Herborn. R., der »Dorfpfarrer« werden wollte, begab sich daraufhin zu weiteren theologischen Studien nach Bonn. Unter dem Einfluß seines akademischen Lehrers Ernst Moritz Arndt faßte er hier den Entschluß, sich der Kulturgeschichte und der »sozialen Politik« als freier Schriftsteller zuzuwenden. Seine nächsten Aufenthaltsorte waren Gießen, Frankfurt/Main, Karlsruhe und Wiesbaden, wo er seinen Lebensunterhalt mit journalistischen Arbeiten bestritt. In den Jahren von 1840 bis 1853 verfaßte er etwa 750 Zeitungsbeiträge. In Wiesbaden wirkte R. nicht nur als Journalist, sondern seit 1848 auch als Direktor des dortigen Hoftheaters. Ab 1850 war R. Mitarbeiter des Cotta-Verlags, von 1851 an besaß er den Posten eines Redakteurs der »Allgemeinen Zeitung« in Augsburg. 1854 wurde R. durch König Maximilian II. von Bayern zum Professor für Staatswirtschaftslehre an die Universität München berufen, wo er von 1859-92 auch Kulturgeschichte lehrte. 1873/74 und 1883/84 hatte R. das Amt des Rektors der Münchner alma mater inne. 1885 wurde er zum Direktor des Bayerischen Nationalmuseums sowie zum Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Altertümer Bayerns bestellt. Als akademischer Lehrer war R. außerordentlich erfolgreich, denn seine Vorlesungen gehörten zu den meistbesuchten. Zu seinem Freundeskreis zählten Persönlichkeiten wie Paul Heyse und Felix Dahn; außerdem hatte er Zugang zur Tafelrunde König Maximilians II. 1889 erfolgte seine Ernennung zum Geheimrat. R., der die historisch-philologischen Entdeckungen der Romantik in der deutschen Altertums- und Volkskunde fortzusetzen suchte, um daraus eine Soziologie des Volkskörpers zu entwickeln, wurde dadurch zum Begründer einer eigenständigen Gesellschaftslehre und wissenschaftlichen Volkskunde in Deutschland. Es ging R. darum, das Gesellschaftsgefüge zur Grundlage allen politischen Handelns zu machen. Nach R. ist der Mensch vor allem ein »Gesellschaftsbürger«, dann erst ein »Staatsbürger«. Dem »Juristenrecht« maß er neben dem »Volksrecht« erhebliche Bedeutung zu, und der »Staatslehre« sei die Volks-, Kultur- und Sozialgeschichte voranzustellen. »Wald, Weide und Wasser« dürften nicht auf Kosten einer Großstadtzivilisation vernachlässigt werden. R. propagierte eine neue Erkenntnismethode insofern, als er sich von der deduktiven Theorienbildung ab- und einer induktiven Einsicht zuwandte. Er wollte weniger ein »Buchgelehrter« als vielmehr ein »Wander-Forscher« sein. Große Bedeutung im Kulturleben des Volkes maß er der Musik bei, weshalb die Musikgeschichte in seinen Vorlesungen eine wichtige Rolle spielte. - R.s Wirken ist bis heute umstritten. Während er bei den einen als bedeutender Historiker gilt, wird er von anderen als Dilettant abgetan. Erheblich war die Anerkennung, die er im Ausland fand.

35 Johanna Marie Louise Ottilie Goerke, verwitwte Petzke, geb. Eckhardt, geb. 20.7.1855 in Stuttgart, gest. 16.3.1931 in Baden-Baden. mar 2. 8. März 1889 in Rothenstein bei Königsberg/Pr W.0. Goerke

36 An dieser Stelle ist im Manuskript der folgende Satz geschrieben und wieder durchgestrichen: In Berlin machten wir halt in der Pension von Tante Marie. Einzelheiten davon weiß ich nicht mehr; aber genau besinne ich mich, daß meine Mutter uns herauf zu Tante Margareth schickte der zweiten Schwester meines Vaters.

37 Helene Lange (*9. April 1848 in Oldenburg, † 13. Mai 1930 in Berlin) war Pädagogin und Frauenrechtlerin. Sie ist eine Symbolfigur der deutschen Frauenbewegung.

38 José Vianna da Motta (geb. 22. April 1868 auf der Insel Saõ Thomé, Portugiesisch Westafrika, gest. 1. Juni 1948 in Lissabon, Portugal) ist ein portugiesischer Pianist, Komponist und Autor. Er studierte in Berlin bei Franz Xaver Scharwenka, und in 1885 war er der letzte Schüler von Franz Liszt. In 1886 studierte er zusammen mit Menter in Berlin und 1887 war er ein Schüler von Bülow in Frankfurt. Zwischen 1887 und 1902 unternahm er zahlreiche Konzertreisen durch Europa, die Vereinigten Staaten und Südamerika. Bis 1915 wohnte er in Berlin. Er wurde Direktor des Genfer Konservatoriums in der Schweiz. 1919 - 1938 war er Direktor des Lissaboner Konservatoriums. Er war ebenso ein profilierter Komponist und schrieb viele Artikel in deutsch und französisch.

39 An dieser Stelle ist im Manuskript der folgende Satz geschrieben und wieder durchgestrichen: Von der Fahrt nach Stuttgart ist mir nur in Erinnerung daß ich Zahnschmerzen hatte und Elisabeth die Bahnfahrt nicht ertrug. In Stuttgart wohnten wir bei den Verwandten in dem alten Haus der Firma C. F. Eckhardt.

40 Aus den Aufzeichnungen von Marion Sehmsdorf: Mein Vater Wilhelm Bock, ergänzt MM) mußte Lyck schon 1934 verlassen und den braunen Vasallen Adolf Hitlers weichen. Quelle: http://www.aratoga.de/100/biografie_wilhelm_bock.html



 

 

 

Home

Vorwort

Kindheit

Der Hof

Beginn des Unterrichts

Stuttgart
Genslack

Der Mühlenteich

Jungmädchenzeit

Amorbach
Baden-Baden

Heimkehr

Lehr- und Wanderjahre

Kissingen
Paul Hüter

Auf Reisen

Brüssel

New York

Heimreise

Paris
Zandvoort

Die Heimkehr

Nachbetrachtung