Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Paul Hüter

 

Ich besinne mich gar nicht, wann ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Er war ein Freund meines Bruders Georg und wohl durch ihn in unser Haus gekommen. An meinem Geburtstag 26. X. 1900 war er abends bei uns zu einer kleinen Festlichkeit, an jenem Tage erwähne ich ihn zum ersten Mal. Von jenem Herbsttage 1900 bis zum Herbst 1901 ist mein Leben, mein Denken, Fühlen und Planen von dem großen, schlanken, vornehmen jungen Menschen (überhöht) überstrahlt und – überschattet. Ob ich einen großen Ball mitmachte, eine Schlittenfahrt, einen Bazar, eine Aufführung, einen Auftrag, ob ich Schlittschuh lief oder Boot fuhr, ganz gleich, alles bekam erst seinen Wert und Glanz durch ihn. Auf dem Eis besonders trafen wir uns fast täglich. Den Rhythmus des Blutes und das gesteigerte Lebensgefühl beim Bogenschneiden zur Musik auf dem Schloßteich habe ich immer wieder neu empfunden, wann auch immer ich über die Schloßteichbrücke ging, und noch heute vibriert in mir alles, wenn ich daran denke.


Königsberg - Schloßteichbrücke mit Bellevue 1903


Das Verhältnis der Geschlechter zu einander war zu meiner Jugendzeit um 1900 ein ganz anderes als heutzutage und in den Kreisen meines Elternhauses noch besonders streng und „reserviert“ und ich muß hier schon ein Fremdwort benutzen. Sich sehen, sprechen, die Hand drücken waren Seligkeiten, und diese verhaltene Kraft, dies aufgestaute Gefühl gab dem Zusammensein einen so geheimnisvollen Zauber, eine solche Tiefe und Gewalt, daß es zu einem für das ganze Leben unauslöschlichen Erlebnis wurde. Nie ließen auch wir uns gehen, kein Wort der Liebe fiel, nur vielleicht von ihm ein eifersüchtiger Seitenhieb auf Dr. Erich Radtke, es blieb monatelang beim „Sie“. Daß wir im Sommer 1901, als er schon lange angehalten hatte, im Stillen „Du“ zueinander sagten, hat meine Mutter schwer gerügt; und mit Recht. Aber auch in diesem Winter ging meine Arbeit weiter. Ein Lateinkursus war von Dr. Hoffmann, meinem Lehrer in der Töchterschule eingerichtet worden und im Hinblick auf mein Ziel, das Abitur, hatte ich – leider – umgehend Italienisch aufgegeben und mit meinen Schwestern Latein begonnen. Viel lernten wir nicht, oder besser sichere Lateinkenntnisse bekamen wir nicht bei diesem Unterricht. Das bezeugt noch eine kleine Notiz in unserer eigenen Zeitschrift, die wir erschienen ließen: “Doch ach, es wankt der Grund, auf dem wir bauten.154 (Hoffmann in der Lateinstunde) Der Unterricht war der eines Prinzenerziehers. Aber wieder hatte ich das Glück einen für die Sache begeisterten Lehrer zu haben, und diese Begeisterung übertrug sich auf uns. Die Ovidlektüre war recht dazu angetan uns mit römischen Leben und Denken bekannt zu machen: „Der Abschied von Rom“ ist mir unvergeßlich geblieben, und das Schicksal der Niobe, das schon Frl. Wermke so lebensnah geschildert hatte, ging mir nun zum zweiten Mal ans Herz durch Vermittlung der tönenden lateinischen Ovidsprache. „Maior sum, quam cui possit fortuna nocere155 diese Worte von Hoffmanns klangvollem Organ gesprochen tönen mir bis heute in den Ohren. Und als sich nach vielen, vielen Jahren ein Kind nach dem andern von mir loslöste und seinen Weg ging, das erlebte ich die Niobe neu und schrieb in mein Tagebuch „jede Mutter ist eine Niobe“. Und heute, wo ich leidend bin, einsam und befehdet, denke ich der Zeiten wo ich jung, gesund, reich, bewundert in meinem Innern dachte: „Maior sum quam cui possit fortuna nocere!“. Daß ich nun nicht versteinere! Vor diesem Niobeschicksal bewahrt mich, Ihr Götter! Das seelische und geistige Band, das Lehrer und Schülerin einst verbunden hatte, hat das ganze Leben über gehalten.

Mein Tag war genau eingeteilt und ich machte in allem, was ich betrieb große Fortschritte. Auch meine aus Wien mitgebrachten Kochkenntnisse verwertete ich jetzt in unserm neuen belebten Haushalt; meine Mutter war sehr stolz, daß ich den Strudelteig über den ganzen Esstisch ausziehen konnte und die Nußschifferl waren ihre ganze Freude. Im Mittelpunkt unserer literarischen Interessen standen die schwäbischen Dichter: Schiller156, Uhland157, Hölderlin158, Schubart159, Gerok160, Ottilie Wildermuth161 waren uns persönliche Bekannte und gute Freunde, wurden sie uns doch durch unsere Mutter nahe gebracht, die mit allen Werken aber auch mit allen Einzelheiten ihres Lebens zum Teil aus eigener Anschauung eng vertraut war. Mit Schiller verband die Eckhardts ein gemeinsamer Stammbaum161a und die Schillerbiographie von Wychgram162 hatte meine Mutter mehrfach durchstudiert, die Geroksche Familie war ihr in Stuttgart vertraut geworden, aber auch Ottilie Wildermuth in Tübingen, in deren Haus sie verkehrte und mit deren Tochter Adelheid sie bis zu deren Lebensende eng in Freundschaft verbunden war. Durch sie waren auch die Beziehungen zu Uhland und Hölderlin gegeben. Schubart und seine Zeitgenossen163, das Kernerhaus und seine Gäste164, das waren Bücher, die wir als Kinder fast kannten wie die Fibel. Wenn meine Mutter uns von diesen Menschen erzählte, dann war es, als spräche sie von ihrem eigenen Vaterhaus, uns interessierte das alles, aber mit ihrem Gedächtnis für Namen und Daten kamen wir alle nicht mit. Aber wir beschränkten uns nicht nur auf die schwäbischen Dichter. Meine Schwester Ottilie hat eine Goethefeier, an der sich die ganze Familie intensiv beteiligte, in ihrem Tagebuch festgehalten. Kleine Geschenke wurden dabei verteilt. So hatten wir unter anderem ein kleines Büchelchen zu einer Goethe Ausgabe gestaltet und mit Stammbuchbildern illustriert. Unter dem Bildchen eines Mädchens, das ungeniert mit übergeschlagenen Beinen dasaß, stand geschrieben „die natürliche Tochter“. Diese irrtümliche Auffassung ist mir erst sehr viel später zu Bewusstsein gekommen. Ganze Szenen aus Egmont165 hatten Ottilie und ich zu diesem Zweck auswendig gelernt.

Neben ernster Arbeit und kleinen Freuden dieser Art traten als Neues in diesem Winter die gesellschaftlichen Pflichten und Freuden. In diesem Winter trat ich voll und ganz in die Gesellschaft, „ich ging aus“. Ich habe über die Vergnügungen des Winters 1900/01 Buch geführt und allein 14 große Bälle, Diners und Soupers mitgemacht, außerdem eine große Festlichkeit in unsern schönen Räumen. 6 Allensteiner Dragoneroffiziere kamen dazu aus Allenstein herüber. Dazu kamen die Theaterabende, wir hatten Plätze neben der Königsloge, die auch wie die Concerte gesellschaftliche Veranstaltungen waren; man machte dazu große Toilette und war anschließend bei Wein oder Sekt noch zusammen. Ich bekam in diesem Winter die von meinen Schwestern später sehr beneideten „Siebertkleider“. Das große Geschäft hatte damals die beste Direktive. Auf der Straße trug ich ein eng anschließendes schwarzes Schneiderkleid mit passendem Winterjakett mit Bulgarenschnüren und echtem Krimmerbesatz. In meinem liebsten Ballkleid mit Axelbändern aus grünem Samt bin ich photographiert166. Der Tag, zum mindesten der Nachmittag eines Balltages, wurde der Ruhe gewidmet, dann begann die sorgfältige Toilette. Die Friseure kamen ins Haus. Als letztes Schmuck und Blumen, man ließ sich bewundern und prüfen, der Wagen fuhr vor, schnell das weiße Cape und die Pelzüberschuhe, der Kubillus stieg auf den Bock, der Wagen rollte fort, das Herz schlug voller Erwartung. Nicht zu beschreiben ist das Glücksempfinden, das mich erfasste, wenn ich so sorgfältig gekleidet, in sicherem Körpergefühl und bei voller Beherrschung der gesellschaftlichen Formen in den hell erleuchteten Ballsaal trat.

Aber eigentümlich! Wie so oft in meinem Leben sind es wieder 2 Momente, die mein Erleben begleiten, eines, das dämpft, eines das steigert. Am 4. November kam ein Telegramm; das meldete den plötzlichen Tod meiner geliebten Gredel. (Sie war in der Nacht infolge einer Herzlähmung für immer eingeschlafen).

d. 5. XI 1900 Tgb. „Gredel ist nicht mehr; was das für mich bedeutet kann niemand verstehen, denn sie war die einzige, die mich bis ins Innerste verstand. Ich habe sie so grenzenlos geliebt, wie ich wohl selten wieder lieben werde. Ich kann mir nicht denken, daß dieser goldene Mensch verstummt sein soll für immer. Ich war so glücklich und bin nun trostlos. „So seid ihr Götterbilder auch zu Staub167!“ Ich muß alle meine Kraft zusammennehmen, um mich nicht gehen zu lassen. Aber innerlich ist eine entsetzliche Leere“.

Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide!
Allein und abgetrennt
von aller Freude,
seh ich ans Firmament nach jener Seite.
Ach! Der mich liebt und kennt,
ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
mein Eingeweide
Nur wer die Sehnsucht kennt
weiß was ich leide!

Johann Wolfgang von Goethe

Ich glaube kaum, daß ich ohne diese „Leere“ mein Herz schnell und groß für Hüter geöffnet hätte. So lag dieser Schatten auch wieder auf diesem Winter der neu erwachenden Jugendfreude und auf das „dulce est desipere in loco168 folgt als nächstes Motto im Tagebuch „nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide169. Und doch steht dieser Gesellschaftswinter so glänzend, leuchtend und beschwingend noch heute in meiner Erinnerung, denn auch dies Erleben wurde gesteigert durch Maßhaltung und durch seine Einmaligkeit. Wie klagten meine Freundinnen über die Fülle der gesellschaftlichen Verpflichtungen! Wie oft waren sie übernächtig, wie viele Jahre wiederholte sich dasselbe, wie deutlich wurde bei den Eltern oft der Zweck des Tanzes „die Suche nach dem Mann“. Ich habe in dem Winter oft, aber nicht zu oft, bis in die Nacht, aber nicht bis in den Morgen getanzt, als Neuerscheinung wartete ich nicht auf Tänzer, sondern gewährte einen Tanz, ich suchte keinen Mann, sondern ich hatte einen Menschen, der mich sehnlichst begehrte; auf den gesellschaftlichen Winter folgte noch ein stolzer, schöner, in Liebe und Heim und Gesellschaft gebetteter Sommer. Dann durfte ich die Welt sehen und als ich heimkam, „schloß mir ein Gott das Tor zur „Gesellschaft“, aber er öffnete mir zugleich das bisher so fest versiegelte Tor zu ernster, zielbewusster Arbeit.

Das neue Leben, das sich bei uns durch so viel Jugend notgedrungen entfaltet hatte, sollte zu unser aller Erleichterung auch seinen äußeren Ausdruck finden.

Onkel Alex hatte inzwischen eine sehr tüchtige liebe Frau geheiratet, und sie hatten Auf den Hufen Bahnstrasse 11 eine hübsche Wohnung gemietet. Damals um die Wende des Jahrhunderts begann der Zug „heraus aus der Stadt“. Bisher waren die Häuser auf den Hufen nur als Sommerfrische benutzt worden, mit wenigen Ausnahmen, denn die Bauweise außerhalb der Wälle war, weil Königsberg eine Festung war, auf Fachwerkhäuser beschränkt. Daß die Wälle fielen, war aber nur eine Frage der Zeit. So mieteten wir die Wohnung über Eckhardts, zu der außer den 5 Zimmern in der 2 Etage mit einem herrlichen großen Balkon noch 2 Zimmer in dem turmartigen Ausbau gehörten. Ein Garten lag dahinter mit einem Tennisplatz und vorne war ein großer Vorgarten und unbebaute freie Flächen.

Tagebuch 13. II 01. „Eine große Veränderung steht uns bevor. Ob zum Guten, zum Schlechten, wer kann es wissen? Wir haben auf den Hufen gemietet und ziehen im Frühjahr hinaus. Ich erhoffe das Beste davon, vor allem für Mama. Wir Töchter haben weniger Räume, aber das ist ganz angenehm. Ich brauche nur ein Bett und einen Stuhl und Tisch zum Arbeiten und bin zufrieden.“ „Nichts bedürfen ist göttlich, wer am wenigsten bedarf ist der Gottheit am nächsten170.“

In jener Zeit war meine Mutter wieder sehr ungleich und verzagt geworden. Auch mit mir war sie jetzt oft nicht zufrieden, und ich war sicher jetzt auch durch meine zwiespältigen Gefühle der Liebe und die Sehnsucht nach redlicher geistiger Arbeit nicht immer leicht zu behandeln.

Tagebuch 13. II 01. „Wie unfertig war ich noch in Wiesbaden und wie zufrieden war der Papa mit mir! Er beurteilte eben nicht, wie man etwas sagte, sondern was man sagte. Solch seelige Stunden, wie mit Papa und Gredel, beides vornehme, gescheidte, abgeklärte Menschen, werden nie wieder kommen, aber aus jener Zeit schöpfe ich meine Kraft, denn der Papa hat mich ganz verstanden, und sein Urteil gibt mir recht.“

Heute erst wird mir klar worauf die „kleinliche“ Verzagtheit und Ungleichheit meiner Mutter beruhte! Zu ihrem großen Schmerz und der Sehnsucht nach dem geliebten Mann kam ihr Gesundheitszustand und ganz neuerlich die Sorge! Uns Töchtern sagte sie nichts davon, aber ich hatte schon gemerkt, daß im Comptoir Kneiphof´sche Hofgasse 1 eine andere Atmosphäre herrschte, als einst bei meinem Vater. Meine Mutter hatte in ihrem Schmerz geschworen nie mehr das Comptoir zu betreten; und sie hat den Schwur gehalten, sehr zu ihrem Unglück. Meine Mutter war auch sehr konservativ, sie blieb auch ihrem Urteil über Menschen treu; sie liebte oder lehnte ab. Unser Prokurist war unter den Augen meines Vaters ein sehr gewissenhafter treuer Mensch gewesen, ihm vertraute meine Mutter grenzenlos und ließ nichts auf ihn kommen. Als ich sie einmal darauf aufmerksam machte, daß im Comptoir nicht alles in Ordnung sei, rief sie entsetzt: „Du rasest171.“ Onkel Paul tröstete mich und sagte, das habe man Paulus auch gesagt, „Πα?λε μαυει.“

In mein Tagebuch schrieb ich schon 1900 „das Geschäft geht schlecht“, aber zu meiner Mutter habe ich nie mehr etwas gesagt. Leider! Mein Vater hat wohl gewusst, daß Müller so wenig wie sein ältester Sohn, seinen spekulativen Kopf hatte, er hatte daher verfügt, daß die Hälfte des Kapitals, die Häuser und die großen Plätze am Pregel als Mündelgelder unangetastet bleiben sollten, mit der anderen Hälfte sollte Müller nur Commissionsgeschäft machen, Alexander sah er gern etwas anderes unternehmen. Aber die eigenen Grenzen erkennen nur bedeutende Menschen, der Name der Firma, das große Kapital, die Gewinnmöglichkeit lockte, dazu war zu befürchten, daß nun mein Vater tot war, die Firma Georg Fried. L. als Vermittler ausgeschaltet würde, so wagte man das gefährliche Spiel in jugendlichen Leichtsinn und Optimismus und setzte auf das Fallen der Wälle. Ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten standen am kaufmännischen Horizont. Unglücklicherweise war keiner da, der die Autorität besaß aufzutreten und dem kaufmännischen Blick die Gefahr zu erkennen, meine Mutter war Vormund, der Gegenvormund Apotheker Kunze war nur Statist; so zog weit hinten am Familienhimmel schwarz und drohend ein Gewitter herauf, aber die Gefahr verkündete bisher nur ein leises Grollen, keiner sah der Gefahr ins Augenlicht, bis es zu spät war.

Aber blau war der Himmel, die Sonne lachte, ich war voller Hoffnung und Liebesglück als die Möbelwagen den Lizent verließen und meine Mutter den großen Haushalt auflöste. Hüter fuhr schon im März nach Köln zu einer Übung. Nach dem Abschied schrieb ich:

Tageb, 9. III 1901 „Gestern Abend war Paul mit Herrn Edgar Lemke (Freund von Ali) hier. Ich kann mir nun ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Er besitzt und beherrscht mich ganz. „Schreiben Sie mir, wie es Ihnen geht, und ich bin glücklich. So nun wissen Sie es!“ waren seine Abschiedsworte. Ich wusste nun aber alles oder nichts. Ich glaube immer noch nicht, daß es ihm ernst ist, und doch sind alle Anzeichen dafür da. Ich sehe ihn morgen zum letzten Mal in der Kunstausstellung, und dann geht er für 8 Wochen nach Köln zu einer militärischen Übung. „Soll dann alles aus sein zwischen uns?“ Ich werde mich, glaube ich, sehr bangen, denn gerade jetzt war er so gut, so interessevoll zu mir. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie diesen Winter zubringen. Er kommt vielleicht als ein Fremder zurück und alles war ein Traum, aber ein schöner Traum war es, und ich möchte ihn um alle Güter der Welt nicht aus meinem Leben streichen. Es waren selige Minuten, ja Stunden, die ich mit ihm verbracht habe, und „ich habe gelebt und geliebt“. Ich weiß jetzt, es gibt ein Glück, ich kenne es, und ich weiß es zu schätzen. Alle andern erscheinen mir so unzart und lieblos, weil er mir eine Fülle von Liebe und Empfinden entgegen bringt.

Ich wollte es wäre Mai!! Dann will ich diese Blätter öffnen (ich hatte sie mit lauter Vierklee zugeklebt) und entweder verbrennen oder kommt er zurück, wie er gegangen, sie in Erinnerung an diese Stunde bewahren.“

Wie schlicht klingt das Alles! Wie kindlich, ja wie conventionel! Über sovieles hatte ich nachgedacht, so reif war ich in vielem, aber Liebe, Leidenschaft, Ehe, Leben, von diesen Bodensee172, den es zu überqueren galt, ahnte ich in gläubiger behüteter Unschuld nichts. Heute, wo ich am andern Ufer angelangt zurückblicke und die 1000 Gefahren, Leiden und Kümmernisse überblicke durch die ich hindurch mußte, die Abgründe und Klippen, die ich umgangen, da schauert´s mich auch, und ich wundere mich, daß ich am Leben bin. Damals in jenem überschäumenden Frühjahr war meine Mutter noch mit mir, und ich staune heute noch ihre Vorsicht und Weisheit an, mit der sie mich führte am Abgrund vorbei. Wäre sie zwei Jahre später auch bei mir gewesen, hätte sie sicher ebenfalls schärfer gesehen, als wir alle.

Ende März also rollten die Möbelwagen nach Bahnstr. 11. ehe unser eigenartiges Eß- und Wohnzimmer zerstört wurde, ließ ich es noch photographieren.


Wohnzimmer Georg Friedrich Lemkes in Königsberg, Haus auf dem Lizent


Tageb. 21. April 1901. „Es ist Frühling geworden. Der Winter mit seinen Vergnügungen ist ganz bei Seite getan, ander Bild. Ich sitze nicht mehr allein in meinem großen Zimmer an Gredels Schreibtisch und blicke über den Pillauer Bahnhof hinweg der untergehenden Sonne nach. Wieviel schwere und trostlose, friedliche und schöne Stunden habe ich an jenem Fenster durchlebt; doch glücklich war ich nie. Die Sonne ging mir dort nur unter. Hier in unserm gemeinsamen Turmstübchen geht sie mir nur auf, und unten weckt mich morgens ihr Strahl aus dem Schlummer, um die Morgenluft zu genießen. Ich fühle mich so viel freier und losgebundener hier. Es beschwert das an sich schwere Leben nicht noch unnötiger Ballast. Man kann Mensch sein und das Leben genießen. Wir sind nun gerade 4 Wochen hier.“

Es war an einem Dienstag. Die Möbel stehen in wilder Unordnung umher. Es ist aber nichts zu machen. Mama wird erwartet. Ich bin allein. Glutrot sinkt die Sonne hinter Amalienau. Ich denke an Hüter. Ich habe schon so lange keine Nachricht. Es klingelt. Der Briefbote. Der erste Brief in der neuen Wohnung ist von ihm – es ist auch der erste, der mir Gewissheit verschafft. –„

22. April 1901. „7 Uhr morgens. Es ist noch früh. Liesel ist mit Onkel Paul spazieren gegangen. Ich habe zu viel zu tun. Jetzt stört mich noch keiner. Ich habe mir überhaupt vorgenommen diese Morgenstunden mir selbst zu widmen, denn tagsüber findet sich dazu keine Zeit. Ich bin ganz in Arbeit begraben. Das macht aber nichts, ich fühle mich sehr frisch, und die Zeit bis zu seiner Rückkehr vergeht so schneller.“

Zu den Musikstunden, dem Malen in der Natur, und Latein war neuerdings Griechisch hinzugekommen und der neue Frauensport das „Radfahren“, das wir schon im Winter im Saal geübt hatten – damals nahm man noch Unterricht im Radfahren – und außerdem Tennis. Auch Turnstunden nahm ich. Mit Leichtigkeit hüpfte ich 100 x auf einem Bein oder richtete mich aus liegender Stellung 100 x auf.

Tageb. 26. April 1901 „Die Liebe kommt wie alles Höchste, frei von den Göttern herab; ganz unverdient beglückt sie viele. Den himmlischen Gast zu fesseln muß man aber in jeden irdischen Blick, in jede irdische Tat ein wenig himmlische Nahrung, also Liebe gießen. An dieser Aufgabe; der idealen Empfindung in materieller Handlung Ausdruck zu verleihen, scheitern viele; und daher kommt es, daß so viel glückliche Liebende unter dem Monde wandeln, aber nur wenige Gatten in der scharfen Sonnenhitze des Tages sich bewähren“

In Arbeit und schönen Feierstunden geht der Sommer hin. In der Gemäldegalerie kopiere ich einen Dücker: Sonnenuntergang an der Ostsee173.


Dücker: Sonnenuntergang an der Ostsee


Ich male von 8-16 Uhr. Der einzig bleibende Wert jenes schillernden Sommers; heute mir doppelt lieb, denn nie wieder werde ich einen Sonnenuntergang an der Ostsee erleben! Meine Tagebuchnotizen werden matter und verzagten viel. Reflexion, kein Schwung mehr, keine Kraft. Bei dem Gedanken an eine Hand, eine Bindung, eine „4 Zimmerwohnung“ graust mir. Mir ist als ende mein Leben. Hüter soll mir ein griechisches Stück im Kaegi174 übersetzen: „Alexanders Selbstbeherrschung.“ Er hat doch 3 Jahre Griechisch in der Schule gelernt. Er kann es nicht - das öffnet mir die Augen. Aber ich habe nicht den Mut den entscheidenden Schritt zu tun. Meine Mutter hatte aber die Situation erkannt. Eines Tages eröffnete sie mir: „Wir fahren nach Paris zu Onkel Hermann!“ Ich freute mich.



 

154 Zitat von Friedrich Schiller

155 Ich bin größer, als mir das Schicksal schaden könnte

156 Johann Christoph Friedrich Schiller, seit 1802 von Schiller (* 10. November 1759 in Marbach am Neckar; † 9. Mai 1805 in Weimar) war ein deutscher Dichter, Dramatiker, Philosoph, sowie Historiker.

157 Johann Ludwig Uhland (* 26. April 1787 in Tübingen; † 13. November 1862 ebendort) war deutscher Dichter, Literaturwissenschaftler, Jurist und Politiker.

158 Johann Christian Friedrich Hölderlin (* 20. März 1770 in Lauffen am Neckar; † 7. Juni 1843 in Tübingen) zählt zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern.

159 Christian Friedrich Daniel Schubart (* 24. März 1739 in Obersontheim in der damaligen Grafschaft Limpurg, jetzt Landkreis Schwäbisch Hall; † 10. Oktober 1791 in Stuttgart) war ein deutscher Dichter, Organist, Komponist und Journalist.

160 Friedrich Karl (von) Gerok (* 30. Januar 1815 in Vaihingen an der Enz; † 14. Januar 1890 in Stuttgart) war ein deutscher Theologe und Lyriker.

161 Ottilie Wildermuth geb. Rooschütz (* 22. Februar 1817 in Rottenburg am Neckar; † 12. Juli 1877 in Tübingen) war eine deutsche Schriftstellerin und Jugendbuchautorin.

161a http://schaper.org/ahnen/schillerjahr_2005.html

162 Jakob Wychgram: Schiller. Dem deutschen Volke dargestellt.

163 Brachvogel, Albert Emil: Schubart und seine Zeitgenossen. Historischer Roman

164 Von Theobald Kerner (* 14. Juni 1817 in Gaildorf; † 11. August 1907 in Weinsberg) war ein deutscher Arzt und Dichter und Sohn Justinus Kerners

165 Egmont ist ein Trauerspiel von Johann Wolfgang von Goethe. Es wurde 1775 begonnen und war 1788 im Druck.

166 Dieses Bild ist auf dem Deckblatt dieser Dokumentation abgebildet

167 Hauptsymbole in Goethes "Iphigenie":So seid ihr Götterbilder auch zu Staub! (HA 5, 864) Iphigenies Worte beziehen sich unmittelbar auf Achill, mittelbar aber auf den eigenen Vater und das Geschlecht der griechischen Helden, die vor Troja gezogen sind.

168 Angenehm ist es, in passender Situation ein Narr zu sein. [Horaz, carmina 4, 12, 28]

169 Aus Wilhelm Meister von Goethe

170 Sokrates griechischer Philosoph (470 - 399 v. Chr.) Nichts zu bedürfen ist göttlich. Möglichst wenig zu bedürfen, kommt der göttlichen Vollkommenheit am nächsten.

171 Apostelgeschichte 26, Vers 24: Da er aber solches zur Verantwortung gab, sprach Festus mit lauter Stimme: Paulus, du rasest!

172 Dies ist eine literarische Anleihe an Der Reiter und der Bodensee - ein Gedicht von Gustav Schwab

173 Künstler Eugen Dücker, Geboren 1841, Gestorben 1916, Werk Sonnenuntergang an der Ostsee Jahr 1908; so ist es im Internet angegeben, kann aber nicht stimmen, da Marie das Bild bereits 1901 kopiert hat !?

174 Adolf Kaegi (* 30. September 1849 in Bauma; † 14. Februar 1923 in Rüschlikon) war ein Schweizer Indologe und Gräzist. Sein Hauptwerk wurde die 1884 erstveröffentlichte Kurzgefasste Griechische Schulgrammatik



 

 

 

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