Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Zandvoort Holland


In diesem Zustand tiefer Depression erreichte mich ein Brief meiner treuen Freundin Martha Gillat. Sie war wieder bei ihrem Onkel dem deutschen Generalkonsul, Geheimen Legationsrat Dionys Gillet in Amsterdam. Sie lud mich in seinem Namen ein, nach Zandvoort zu kommen in die Villa Tromp, wo er im Sommer wohnte. Er wollte mich so gerne kennen lernen. Ich erlebte noch mit meinen Brüdern den Grand Prix in Longchamps242, ein echt Pariser Schauspiel, und am 20. Juni sagte ich leichten Herzens Paris Valet. In einem sehr liebenswürdigen Brief hatte mich Herr Geheimrat noch persönlich gebeten möglichst bald zu kommen, und in dem schönen Gefühl begehrt und willkommen zu sein verließ ich leichten Herzens die so begehrte Weltstadt, die nur den Reichen und Glücklichen zulächelt, und reiste einem neuen Land, neuen Freunden, neuen Seligkeiten entgegen.

Angenehme unterhaltende Fahrt; ich fühlte mich wieder vollkommen unbeschwert, alle Geldsorgen waren verschwunden und ich amusierte mich köstlich, weil ich Scherzes halber als Amerikanerin reiste. In Haarlem stieg ich aus und freute mich an dem nordischen Florenz mit seinen Wasserstraßen. In Amsterdam führte mich ein Angestellter der deutschen Botschaft und in Zandvoort war Martha mit ihrem Onkel an der Bahn.

In den folgenden drei Wochen erlebte ich den Höhepunkt meines Daseins. Amerikanisches und deutsches Wesen verbanden sich, meine elementare Kraftfülle erfuhr eine starke Vergeistigung und auf diesem gesunden geistigen Urgrund ruhte alles durchdringend und vergoldend; der Eros. Vom ersten Augenblick an war der Kontakt da mit dem vornehmen, welterfahrenen, geistvollen, gepflegten Herrn Geheimrat, der trotz seines Alters – nahe der 60 – so jugendlich wirkte und auch gerne Jugend um sich versammelte. Ich fühlte mich verstanden, geborgen, im tiefsten Wesen bejaht und dadurch so beseligend frei und selbstsicher. Es war eben eine Liebe, die nicht das Ihre suchte, der Seele, mit einem nur leisen, feinen Mitklingen der Sinne, „und hat seine Freude an der Törin243. Dadurch hob er mich über mich selbst, besser über mein „alltägliches“ Selbst hinaus und verhalf dem Besten meines Wesens zum Durchbruch. Dazu die tiefe, feine, neu bekräftigte Freundschaft mit Martha, der vollkommen reibungslose Wirtschaftsbetrieb geleitet durch die originelle Irin Miss Bosomworth, die Nordsee mit ihren heimatlichen Lauten und doch einer neuen ganz ungekannten Schönheit, der Seewind, die Luft - - - es war ein harmonisches Zusammen von gesundem Körper, sprühendem Geist, wunschlos erfüllter Seele, wie es ganz wenigen Menschen im Leben beschieden wird und mir auch in jenen glücklichen Wochen allein zufiel. Mein Tagebuch bringt nur den bezeichnenden Satz: „Ich bin in meinem Element“ und die Eintragungen von Herrn Geheimrat:

Ja tebia lublu (Russisch)244

S´as agapo (Neugriechisch) 245

Severine sana (Türkisch)

Ich habe ihn nicht wieder gesehen, kleinliche Bedenken – Herr Geheimrat wollte das Reisegeld zahlen – zerstörten ein großes Erleben; es war nach dem Abitur (9 Sept 1904) und da sprach schon ein Anderer in meinem Leben mit und brachte die so beglückende Instinktsicherheit ins Wanken. Ein reicher, warmer Briefwechsel hielt uns bis zu seinem Tode verbunden. ( )246. Die Mathematikstunden und damit das Abitur hat er mir ermöglicht; in seinem letzten Brief schrieb er: „wer weiß, ob Sie auf der Welt noch einen so treuen Freund haben“. Ich hatte keinen und fand auch keinen mehr. Mein ganzes Leben habe ich mich nach ihm gebangt.


Von hause waren beunruhigende Nachrichten gekommen, mein Gewissen schlug mir, und ich entschloß mich auf London und die Krönung zu verzichten und schrieb Onkel Alfred in dem Sinne. Am andern Tag kam Herr Geheimrat aus Amsterdam zurück, und sagte, die Zeitung in der Hand: „Fräulein Marie Lemke, kommt nicht nach London, die Krönung ist abgesagt.“

Der Prince of Wales, der zukünftige König, hatte Blinddarmentzündung.

 


 

242 Ein noch heute durchgeführtes und berühmtes Pferderennen in Paris

243 Zitat aus Meine Göttin von Johann Wolfgang von Goethe

244 Ich liebe Dich

245 Ich liebe Dich. Die Verfasserin hat dies auch noch in griechischen Lettern ausgeschrieben.

246 Hier ist von Marie Bock eine offene Klammer eingefügt.




 

 

 

 

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