Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Heimreise233


Nun war ich wieder auf dem Ocean. Dies mal auf der „Potsdam234“ einem Schiff der „Holland American Line“, das 10 Tage brauchte für die Fahrt bis Boulogne – Wilhelm der Große hatte von Southampton die Überfahrt in 6 Tagen gemacht – aber gerade diese längere Seereise war meine Wonne; war sie mir doch an sich Erlebnis und Genuß und nicht nur Mittel zum Zweck mich nach Europa zu bringen, wie für die Amerikaner. Und wie so ganz anders war in jeder Hinsicht diese Überfahrt als die Hinreise. Sommer, Juni, herrliches Wetter, im Golfstrom Hitze, ruhige See, alle Pasasagiere munter und ich selber gesund, selbstsicher, geladen mit Energien, „ivre de jeunesse“ wie Lôti sagt. Auf keinem Ball, auf keiner Gesellschaft bin ich je so gefeiert und verwöhnt worden, wie in diesen 10 Tagen. Mein Skizzenbuch hatte auch noch nie so viele Bewunderer gehabt und bot einen guten Anknüpfungspunkt. Es galt als Ehre, wenn ich jemand zeichnete; der Kapitän sogar bat mich 3 Mal darum. Ich hatte stets verschiedene „engagements“, für Domino, quoits (Ringspiel), shuffle board, Spaziergänge und am Sonntag sogar für die beiden Plätze neben mir in der Kirche!! Jeder Herr, der sich mir vorgestellt hatte oder hatte vorstellen lassen, gehörte, wenn ich ihn mit den Meinigen bekannt gemacht hatte, in unsern Kreis und man konnte sich dann von Herzen „amusieren“, wie man damals sagte. Das war die Annehmlichkeit, wenn man nicht allein reiste. Ich war sprühend lebendig, ja ausgelassen, so daß Onkel Ernst warnend das mir unvergessliche Wort sagte: „It never pays to be conspicuous.235 Und ich fiel auf. Meine frisch gebadete Seele nahm jeden Eindruck in zehnfacher Stärke auf und mein von allen Fesseln und Reibungen befreites Fühlen und Denken gab ihn in überschäumender Kraft neu persönlich gestaltet wieder. Ich sah Welt und Menschen wie durch ein Vergrößerungsglas. Diese so seltsam gesteigerte Eindrucksfähigkeit ließ mich offenbar jünger erscheinen, als ich war. Hilde sagte mir zu meiner Freude: „You appear so much younger than you are; one would not think that you are so much older than Marie (17), but Marie is very reasonable for her age. Nobody thinks that you are twenty one.236" Meiner Mutter schrieb ich damals: „Ich habe doch, da ich älter bin, mehr gesehen, mehr durchgemacht, mehr gelesen und vielleicht auch mehr nachgedacht als Marie z. B., aber mein Fehler war, daß man es mir anmerkte.“ Heute weiß ich, mein Wissen und Denken war stark reflektierend, gleichsam ein äußeres Gewand gewesen für mein Wesen, war aber nicht zum Ausdruck meines Wesens umgeschmolzen worden, eine Folge der deutschen Erziehung und Verbildung. Meine Cousinen hatten diesen Wissensballast nicht gehabt und waren daher natürlicher und selbstsicherer und somit reifer. Jetzt hatte ich die geistige Überfremdung im wahrsten Sinn des Wortes „über Bord“ geworfen und schrieb ohne jedoch diese Entwicklung so klar zu übersehen, wie heute rein aus dem Gefühl der Befreiung heraus meiner Mutter: „Diese Reise hat mich gerettet.“ Ein interessanter Reisekamerad Charles O. Maas schrieb in mein Poesiebuch und malte ein Bild von mir, geschaut in jenen selten glücklichen Tagen mit seinen Künstleraugen:

Verily one must sing the praise of the country where the Rhin shimmers and the Black Forst , - for it has given to us a woman whose heart beats are a beautyful symphony, whose eyes are laughter spiced with mischief, whose wit is the adroitest sword play, which woundest not overmuch, and whose mind is a treasue trove filled to overfloving with pearls of wisdom, and sapphires of poesy and rich red rubies of tender feeling.“ 237

Und mein Mann, als er noch durch die Erscheinung mein Wesen, το öυιως ?ν, sehen konnte, schrieb auf mein Bild vom Ozean:

Solvitur acris hiems.“ 238


Die Seereise war beendet. Noch einmal trieb es mich heraus unter den bestirnten Himmel in die brausenden Wellen und auf die im Wasser blinkenden tanzenden Sterne zu schauen, während das Schiff unentwegt der Heimat zusteuert; die Sonne geht gerade unter: Ich zähle die Schiffe am fernen Horizont; ein Segler streicht durch die rotglühende Sonnenscheibe; nur 3 Sekunden und doch so wonnig, so unvergesslich schön! Bei Tage hatten wir schon Walfische und am fernen Horizont die Küste von England gesehen.

Morgen um diese Zeit bin ich in Paris!

 


233 Anmerkung von Marie Bock: d. 4 III 49

234 Die Potsdam wurde 1900 in Hamburg für die Holland Amerika Linie gebaut, 1915 verkauft und in Stockholm umbenannt

235 Es zahlt sich niemals aus, aufzufallen.

236 Du erscheinst so viel jünger als Du bist; man kann nicht glauben daß Du so viel älter als Marie (17) bist, aber Marie ist sehr vernünftig für ihr Alter. Kein Mensch denkt daß Du einundzwanzig bist.

237 Wahrhaftig ist das Loblied zu singen auf das Land in dem der Rhein schimmert, und der Schwarzwald, da es uns ein Mädchen gegeben hat deren Herzschlag eine wundervolle Symphonie spielt, deren Augen ein Lachen sind gewürzt mit Unfug, deren Verstand das behändeste Spiegelgefecht führt, mitnichten verletzend, und deren Geist eine mit Perlen der Weisheit, Saphiren der Poesie und roten Rubien zarter Gefühle im Übermaß gefüllte Schatztruhe ist.

238 Er löst sich, der strenge Winter

 



 

 

 

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