Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Meine Jungmädchenzeit

1894 - 1904.


Mit der schwärmerischen Liebe zu Gredel hatte es begonnen. Ich sah die Dinge und Menschen um mich nicht mehr mit naiven Augen wie sie sind, innerlich bereit und offen für alles, was sich mir bot, sondern Dinge und Menschen bekamen erst Wert durch den geliebten Menschen oder eine Beziehung zu ihm. Dadurch trennte ich mich auch, obgleich anfangs ganz sachte, fast unmerklich von meinen Schwestern.

Mit Gredel verband mich ein reger Briefwechsel. Alle ihre Briefe habe ich aufbewahrt in einer Vergißmeinichtschachtel beklebt mit Margerithen. Zu dieser Schwärmerei kam eine Liebe die bis heute nicht erloschen ist, trotzdem er nach langem Krankenlager schon 1940 gestorben ist. Als ich wußte, daß er nicht mehr lebte, war Königsberg leer für mich. Hinter allem wirklichem Erleben stand er wie ein Leuchten, wie ein Wesen aus einer metaphysischen Welt.

Auf der Einsegnung einer befreundeten Familie hatte ich ihn kennen gelernt. Er war 17 Jahre, Oberprimaner, primus omnium109, ich 14. Ich besinne mich genau auf das hübsche Crèpekleid, das ich trug. Er war mein Tischherr an der großen Tafel in der Emannuelloge110. Meine Eltern waren mit mir. Ein Knallbonbon hatte den Spruch “Carpe Diem111. Mit seiner Primanerweißheit erzählte er mir von Horaz112, da hörte ich zum ersten Mal den Namen und so war ich dann vergnügt und unendlich glücklich „quam minimum credula postero113! Sellchen114 sagte noch am selben Abend: „jetzt weiß ich was Liebe ist“. Und es ist mir heute nach 50 Jahren noch erstaunlich, wie sicher dies Empfinden war und wie es möglich war, daß wir beide das Leben doch nicht darauf aufbauten. Wenn wir mit Mademoiselle spazieren gingen, an der Anatomie vorbei zu den Wällen, dann war das Glück groß, wenn wir ihn trafen, der als junger Mediziner zur Anatomie ging. Der Gruß allein war Seligkeit.

Im selben Jahr begann ich zum Unterricht zu gehen. In meine selbstsichere Art brachte auch der Unterricht keine Zweifel, keinen Zwiespalt. Ich fühlte mich eben wohl in meiner Haut. Eine Mitschülerin sagte mir einmal: „Du siehst immer aus als fragtest Du: was kost´s die Welt?“ Und so fühlte ich mich auch; „ohne Schuld, schlechtes Gewissen oder Verwandtes115. Die Forderungen, die von meiner Umgebung in Schule und Haus gestellt wurden, erfüllte ich freudig und spielend, was „gut“ und „böse“ bei uns war, war ganz klar, daß man sich danach richten konnte, materielle Nöte kannte ich nicht, zuhause war man stolz auf mich und meine kleinen Untugenden: eine geniale Behandlung meiner Taschentücher, meines Hutes, meiner Hefte brachten mir meine sichere, geachtete Stellung in der Familie und in der Schule erst voll zum Bewußtsein. Nur mit meinem Deutschlehrer Dr. Nietzky hatte ich einmal einen Zusammenstoß; der bemerkbar ist, weil es das erste Mal war, das ich mit einer feindlichen Außenwelt in Berührung kam; “Ewigklar und spiegelrein und eben116 war bis dahin das zephirleichte Leben dahingeflossen.

Wir hatten den Fischer von Goethe117 auswendig zu lernen. In unserer Theaterlaube hatte ich ihn schon vor Jahren rezitiert, er war mir neben dem verschleierten Bild zu Lais118 besonders lieb. Von Metaphysik und den ...119 Göttern wußte ich noch nichts, aber ich ahnte die unbekannten Kräfte unseres Daseins doch schon und dazu mein Lieblingselement das Wasser und die Klangfarbenmalerei! Kurz und gut ich meldete mich in der Klasse mit stürmischem Eifer. Aber, o weh. In der Erinnerung hatte ich mir einige Worte falsch eingeprägt und unter der magischen Wirkung des Gedichtes vergessen auf philologische Gründlichkeit zu achten, ich sagte verschiedenes falsch. Dr. Nietzky behauptete ich hätte mich nur gemeldet, um nicht heranzukommen und ließ sich auch nicht eines Besseren belehren, im Gegenteil, er bezichtete mich einer Lüge und trieb die harmlose Sache auf die Spitze. Nun lag mir nichts ferner als eine Lüge. Ich hatte es seit meiner ersten Unwahrhaftigkeit in Stuttgart nie mehr nötig gehabt, die Unwahrheit zu sagen oder die Wahrheit zu verschleiern. Es kam soweit, daß unsere Vorsteherin Fräulein von Hasenkamp in die Klasse kam, um zu vermitteln; ich sollte mich entschuldigen und eingestehen, daß ich nicht gut gelernt hätte, also widerrufen. Ich sehe mich noch dastehen, die Hände hinter dem Rücken am Ofen. Meine sanfte Vorsteherin wollte ich nicht kränken, aber - - in dieser Gewissensqual trat Luthers Bild mir vor die Seele, dessen Auftreten in Worms120 – er der kleine Mönch gegen eine ganze Welt - mich tief berührt hatte, wie mir heute noch ein Schauer der Bewunderung bei dem Gedanken durch den Rücken fährt - und ich sagte plötzlich: “Ich widerrufe nicht. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“ Mein Mann hat das später als Liebe zur Pose gedeutet. Sehr zu unrecht. Nichts lag mir ferner. Ich bin auch überzeugt, Fräulein von Hasenkamp hat mein Betragen so rein und ernst aufgefasst, wie es wirklich war. Auf einer Konferenz suchte Dr. Nietzky noch einmal mir etwas anzutun, wurde aber von meinem lieben Geschichtslehrer Iwannorius fast ausgelacht, der mich in Schutz nahm. Fräulein Wermke, die in jener Zeit zum Kollegium der Schule gehörte, hat es mir erzählt. Noch nach einigen Jahren, als meine jüngste Schwester als „erste“ in der Klasse bei Dr. Nietzky Unterricht erhielt, fragte er sofort: “Schwester der Marie Lemke?“ und auf das „Ja“ sagte er „Es gibt Blaustrümpfe, vor denen man zum Fenster herausspringen möchte“ und seine erste Beurteilung meiner kleinen gescheidten Schwester war: “Die Zungenfertigkeit läßt nicht zu wünschen übrig“. Auch mit meiner Schwester Ottilie hatte er einen Zusammenstoß. Ottilie, genannt „Tielchen“ heute „Tiny“ war sehr still in der Klasse, oft dichtete sie; jeder Ergeiz lag ihr fern; trotz ihrer Intelligenz und ihres fabelhaften Gedächtnisses saß sie unter den Letzten und sagte das später berühmt gewordene Wort, als sie aufgefordert wurde, sich doch anzustrengen: „Ach Fräulein Gepell es sind ja alle Bänke von Holz.“ Sie machte durch ihre häufige Träumerei in der Klasse, da sie oft antworten mußte ohne die Frage zu kennen, einen derartig dummen Eindruck, das Rektor Tromman sie bezeichnete als ein „selten unbegabtes Kind“. Wohl ein „selten großes Fehlurteil“. Sie hat später ein Examen nach dem anderen gemacht, Kindergarten Vorsteherin, Lehrerin, Abiturientin, Erzieherin (innerhalb eines Jahres), Staatsexamen, Assessor, Dr. phil. Sie schrieb einen stilistisch und inhaltlich vorzüglichen Hausaufsatz und Dr. Nietzky konnte diese Leistung mit den Klassenleistungen auch nicht in Einklang bringen und fragte, wer ihr geholfen habe. Sie hat mit unserer Französin darüber gesprochen und ehrlich wie sie eben alle waren, sagte sie: „Mademoiselle“. Er verstand das nicht und sagte „die Tante, also die Tante“ und knüpfte daran noch einige herabziehende Bemerkungen, die Ottilie so gleichgültig waren, das sie sich nicht die Mühe gab seinen Irrtum aufzuklären. Meine Mutter wollte den Tadel aber nicht auf ihrem Kind sitzen lassen und schickte Mademoiselle François zu ihm, um den Irrtum aufzuklären. Ihr radebrechendes Deutsch hat ihn dann schnell eines anderen überzeugt. Ottilie war fast jede Woche eingeschrieben, Wir bekamen noch ein Sittenheft, und Fräulein Gepell sagte mir, mein Vater solle sie einmal „exemplarisch bestrafen“. Mein Vater unterstrich den Tadel mit einem riesigen L und sagte: „Bestell dem Fräulein Gepell, das „L“ soll von meinem Zorn zeugen.“

Ottilie hatte von Geburt ein Auge verloren, durch eine berühmt gewordene Operation war die Sehkraft des kranken Auges auf das gesunde übertragen worden. Sie wurde als Kind natürlich besonders behütet und auch täglich in die Schule begleitet und abgeholt. Ich habe immer eine große Bewunderung für sie gehabt, wie sie sich auf dem Fahrrad, auf der Straße, auf Reisen sicher und gewandt bewegte und sich und ihre Bewegungen allmählich so disziplinierte, daß Uneingeweihte nicht ahnten, daß sie ein Glasauge trug. Auch beim Lernen und Lesen hatte sie ja die dreifache Mühe und doch arbeitete sie die zierlichsten feinsten Sachen und die Kleider und festen Damentaillen für kleine winzige Puppen erregten Bewunderung.

Das war das Erlebnis von uns 3 Schwestern mit Dr. Nietzky, der sonst einen interessanten Unterricht gab. Es war der einzige Lehrer, mit dem ich in meinem Leben einen Zusammenstoß hatte, der einzige, der mit mir nicht zufrieden war; ausgenommen den Lehrer, den ich heiratete. Aber da war ich schon lange nicht mehr seine Schülerin, da war ich auch nicht mehr die Mietze Lemke.

 


 

109 Der Primus Omnium war bis in die 30er Jahre hinein die offiziöse Bezeichnung des besten Abiturienten eines Gymnasiums.

110 Freimaurerloge

111 Pflücke den Tag

112 Horaz (* 65 v. Chr.; † 8 v. Chr.), eigentlich Quintus Horatius Flaccus, ist neben Vergil einer der bedeutendsten römischen Dichter der „Augusteischen Zeit“, das heißt der Zeit zwischen 43 v. Chr. - 14 n. Chr., vom Tod Ciceros bis zum Tod des Augustus.

113 Horaz: carpe diem quam minimum credula postero (Carmina Liber I 11, Genieße den Tag, verlaß dich möglichst wenig auf den folgenden.)

114 Schwester Elisabeth

115 Diese Trias ist vermutlich entlehnt aus dem Werk Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung: Schuld, schlechtes Gewissen und Verwandtes von Friedrich Wilhelm Nietzsche (* 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen; † 25. August 1900 in Weimar), deutscher Philosoph und klassischer Philologe.

116 Zitat aus einem Gedicht von Friedrich Schiller Das Ideal und das Leben: Ewigklar und spiegelrein und eben / Fließt das zephyrleichte Leben

117 Der Fischer von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

118 unleserlich

119 Unleserliches Adjektiv

120 Luther zieht mit einem Triumphzug in Worms ein. Jedoch auf dem Reichstag erwartet der Kaiser und Kirche von ihm den Widerruf seiner Thesen. Luthers Bücher werden auf einem Tisch plaziert. Er wird nun gefragt, ob es sich um seine Schriften handele und ob er etwas daraus widerrufen wolle. Luther erbittet sich Bedenkzeit, danach lehnt er jedoch mit der bekannt gewordenen Rede einen Widerruf ab: "Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!" Das Luther dem die berühmt gewordenen Worte "Hier stehe ich und kann nicht anders! Gott helfe mir, Amen!" hinzugefügt haben soll, ist Legende.



 

 

 

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