Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Heimkehr

 

Wenn außer mir noch Frl. Nethe und Onkel Julius an der Bahn sein sollten, dann begrüße zuerst Frl. Nethe (die Haushälterin) dann Onkel Julius und dann mich. Sie erweisen Dir eine Gefälligkeit, ich tue nur meine Schuldigkeit.“ Das schrieb mir mein Vater und es sind einige der wenige Worte, die mir von meinem Vater geblieben sind und die ich mein ganzes Leben auch beherzigt habe. Wie war mir zu Mut, als ich den schönen Lockenkopf meines Vaters sah. Wir waren alle so stolz darauf. Im Jahre 1880, als meine Mutter in Schweizer Mühle war zusammen mit Tante Kitty aus New York und deren Jungen, stritten sich die Kinder. Welcher Vater schöner sei, viel wurde auf beiden Seiten gesagt. Der kleine 3 jährige Walter, mein Bruder, siegte, als er sagte: “Mein Papa hat aber Locken!“ Aber schmal war mein Vater geworden. Wir ernst es aussah wußten wir beide nicht. Gott sei Dank! Wir haben zusammen schöne Wochen verbracht, für die ich mein ganzes Leben dankbar war. Sein Urteil über mich, daß er meiner Mutter schrieb, ich habe es erst später gehört, war mir ein Leben Stütze und Halt, wenn ich unter dem Druck der Schmähungen und Anfeindungen zu versagen drohte: „Dies eine Mädel mit ihrem klaren Verstand ist mir viel lieber als alle vier Jungen mit ihren verworrenen Ideen.“ Mein Vater hatte an und für sich ein feines Gefühl für Frauen. Wie zärtlich und warm konnte er sagen: „da kommen meine 3 lieblichen Töchter“, aber hier in Wiesbaden stach natürlich mein ruhiges, klares Wesen, das ich Amorbach verdankte, ganz besonders gegen die unfertigen Jungen ab, die zum Teil noch in den Flegeljahren waren. Als mein Vater starb, war ja noch keiner mündig.

Ich wohnte bei Onkel Julius. Er hatte die Leipziger Feuerversicherung gegründet, ein großes Vermögen erworben und sich nun hierher zurückgezogen. Nach ihm mußten 3 Juristen an seine Stelle treten. Er besaß ein ganz fabelhaftes Gedächtnis. Im Streit mit seinen studierten Söhnen blieb er immer Sieger. Unsere Familie hat in künstlerischer Hinsicht weder im musikalischen oder malerischer Hinsicht etwas Bedeutendes geleistet, aber was das Gedächtnis betrifft, sind wir sowohl von Lemke wie von Eckhardt her stark belastet. Meine Mutter wußte mit 89 Jahren noch die ausgefallensten Namen, wenn sie von Schiller, Hebbel Kerner, Hölderlin u. a. sprach, von der Genealogie der hohen Herrschaften ganz zu schweigen, dann war es, als hätte sie jahrelang im Hause selbst verkehrt, meine Schwester Ottilie kann nach Jahrzehnten heute noch jede Rede, die sie gehalten hat, oder große Partien ihrer Schriften wörtlich auswendig und meine älteste Tochter Marion hat mit 5 Jahren meiner Mutter 2 Stunden den Inhalt des Kinderbuches „Nasenweiß und Dämelchen“ diktiert. Es hatte im Schaufenster gestanden und jeden Tag wurde ein Blatt gewendet. Meine Kinder hatten den Text täglich gelesen und als er zu Ende war, ging Marion zur Großmutter und sagte „ßreib“, und meine Mutter schrieb und schrieb. Hier in Wiesbaden sah ich auch meine große Liebe wieder, Gredel die Tochter von Onkel Julius. Sie hatte sich inzwischen mit José Vianna da Motte verlobt. Wir hatten schöne Stunden zusammen, aber ich fühlte doch, daß sie mir nicht mehr ganz angehörte. Nach Beendigung der Kur fuhr mein Vater mit mir über Eisenach nach Berlin; dort sollte ein Familientreffen mit den Amerikanern Onkel Ernst und Tante Kitty stattfinden. Vorher aber wollte er mir noch die Wartburg zeigen. Wir wohnten im Rautenkranz und es machte mir besondere Freude, daß ich die Forellen zum Abendessen mir selbst aus dem Glasbassin aussuchen durfte. Am Tag darauf fuhren wir im Wagen auf die Wartburg135. Mein Vater hatte, wie alle Lemkes großes Interesse für Geographie und Geschichte und konnte mir viel erklären. Wie gern hätte er seiner erwachsenen Tochter die Welt gezeigt! – Nach vielen Jahren bin ich mit meinem Mann in Eisenach gewesen. Ich suchte den Rautenkranz und die Forellen. Das behagliche alte Hotel war durch einen prunkvollen Neubau ersetzt worden und die Forellen schwammen auch nicht mehr im Foyer zum Aussuchen in ihrem Glaskasten. Auf die Wartburg trugen uns Maultiere und Maulesel und oben auf der Wartburg beim Anblick des herrlichen Thüringerwaldes beim Frühstück mit Setzeiern flossen sogar Tränen.

In Berlin wollte meine Mutter uns im Hotel erwarten, Blumen hatte mein Vater zum Empfang bestellt. Sie standen da, aber von meiner Mutter keine Spur. Sie war in der Aufregung und in dem Bestreben nicht zu spät zu kommen 1. Std. vor Abgang des Zuges an der Bahn gewesen und eingestiegen. Erst als der Zug in voller Fahrt war, mußte sie feststellen, daß sie in die entgegen gesetzte Richtung, nach Eydkuhnen fuhr. Für alle Zeit blieb es ihr ein Kummer. Das Zusammensein war noch recht hübsch; ich freute mich sehr die muntere Tante Kitty kennen zu lernen, aber ein dunkler Schleier lag doch auf allem; der Arzt des Roten Kreuzes hatte meiner Mutter geschrieben, daß keine Hoffnung auf Genesung bestände. Auch mein Vater ahnte wohl Schlimmes, er hielt aber noch eine launige englische Rede und ließ in seiner so liebenswürdigen Art sich nichts merken. Meine Mutter war mit meiner Kleidung und Haartracht nicht recht zufrieden, kein Wunder; war ich doch 1 Jahr fast ohne mütterliche Betreuung gewesen, war gewachsen, gewandelt und paßte in den alten Kübel nicht mehr hinein, wenn ich mir auch nach Kräften geholfen hatte. Besonders die neue Amorbacher Haartracht, die Stirnlöckchen missfielen ihr. Da kollerten bei mir die Tränen. Aber mein Vater nahm mich in Schutz: „Laß mir die Tochter in Frieden, sie hat gut für mich gesorgt.“

Er wusste, daß diese Mängel leicht zu beheben waren. Meiner Mutter war eben die gepflegte, ja elegante Kleidung wie allen Eckhardts eine unbedingte Notwendigkeit und in dem großen Familienkreis wollte sie mit mir Staat machen.

Wir fuhren nach wenigen Tagen heim; und nun kam das Schwere immer näher auf uns zu. Immer öfter blieb mein Vater zu hause, immer häufiger lag er zu Bett, immer stiller wurde meine Mutter. Aber jeder gab sich volle Mühe, seine Angst zu verstecken. Mein Vater hatte sogar den Wunsch, daß ich das Logenkränzchen135a am 4. Dezember mitmachen sollte und der schöne Seidenstoff von Tante Johanna wurde zu einen Ballkleid verarbeitet. Ich weiß es wie wenn es heute wäre, wie ich mich meinem Vater zeigte. Da kam ein letztes Aufleuchten. „Der Arzt hat unrecht, wir versuchen es bei Lahmann136.


Sterbeort von Georg Friedrich Lemke


Prof. Falkenhain schüttelte den Kopf, aber es sollte versucht werden. Lahmann sollte meinen Vater gesund machen und dann wollte mein Vater mit seinen 3 Töchtern am Gardasee Erholung suchen. Am 30. November fuhren die Eltern und meine Schwestern nach dem Weißen Hirsch. Ich sollte das Logenkränzchen mitmachen und nachkommen. Später sind mir Vorwürfe gemacht worden, daß ich in jenen Tagen noch getanzt hatte. Aber unsere Stimmung war hoffnungsvoll, ich so jung und wer hätte den Mut gehabt, den wahren Grund zu sagen.

Auf dem Ball war Erich Radtke. 2 Tage darauf fuhr ich nach Dresden. Am Bahnhof war Erich mit 3 langstieligen Marechal Nil Rosen. Eine halbe Rose ist noch in meinem Sanctuarium 40 Jahre schon, die andere Hälfte schickte ich ihm, als er mir gesagt hatte, es ginge zu Ende. –

Auf dem weißen Hirsch - wir wohnten in einer besonderen Villa – ist mein Vater nicht mehr aufgekommen. Er las noch täglich 7 Zeitungen und nahm an allem lebhaften Anteil. Mein Bruder Walter und Gredel aus Berlin kamen zum Fest. Am 28. Dezember wünschte mein Vater sich die „deutsche allgemeine Zeitung“. Ich machte mich ganz schnell auf, sie aus Dresden zu holen. Als ich in der Drahtseilbahn war, merkte ich erst, daß mein Geld mir gerade reichte, um nach Dresden zu kommen. Wie heimkommen? Ich versuchte mir den Weg zu merken, den die Bahn machte. Aussichtslos! In Dresden versuchte ich, Geld zu leihen. Nicht 3,00 M wollte man mir geben, ich wollte einen Ring zum Pfand lassen, auch dann nicht, kein Laden, kein eleganter Herr. Ich habe diese Erfahrung nie vergessen. Ich sah doch nicht nach einer Betrügerin aus. Schließlich hat mir die Zeitungsfrau das Geld geliehen. Ich brachte meinem Vater die Zeitung. Es war die letzte, die er gelesen hat. Am Morgen den 30. Dez. trat meine Mutter in unser Zimmer: „Wir haben keinen Vater mehr. Kommt gebt dem Papa noch einen Kuß, so lange er warm ist.“

Er hat keinen Todeskampf gehabt. Beim Umbetten stand dies starke gütige Herz still. „Macht schnell“ waren seine letzten Worte.


In diesen Tagen habe ich meine Mutter bewundert; da habe ich gesehen, was langjährige Erziehung und Gewöhnung macht. Trotz des großen Schmerzes, denn meine Mutter verlor mit ihrem Mann tatsächlich ihr ganzes Lebensglück, erst viele Jahre darauf hat sich ihr ein neuer Lebensinhalt in ihren Enkeln136a, besonders meinen 3 ältesten Kindern erschlossen – ordnete sie bis ins Einzelne alles, was der Aufenthalt in dem fremden Hause erforderte und was mit der Überführung der Leiche zusammenhing. Am 31. Dez. waren wir schon reisefertig. Onkel Alexander war sofort gekommen, uns zu helfen, Walter sollte mit dem Sarg fahren. Sylvester, das in unserer Familie immer ein besonders feierlich festlicher Tag gewesen war, ist seither mit einem Trauerflor umrahmt. Nie werde ich diese Nacht vergessen. Es war der erste Todesfall, den ich erlebte und 30 Jahre bis zu Onkel Alexanders Tod ist es der einzige geblieben. Ein seltenes Glück. Übernächtigt und vom Schmerz ermattet saßen wir still auf unseren Plätzen; da schreckte uns eine plötzliche Entdeckung aus unserer Lethargie. Der Kellner kam kassieren. Onkel Alex hatte Punsch im Speisesaal getrunken, wo ist er? Nirgends war er zu finden, aber Hut und Mantel hingen im Abteil. Dieser Anblick ist mir auch unauslöschlich eingegraben, denn er sagte uns: „Onkel hat Punsch getrunken und ist aus dem Zug gestürzt.“ Doppelt bedrückt, aber immerhin etwas abgelenkt kamen wir in Königsburg an, das wir vor einem Monat so hoffnungsvoll verlassen hatten. Ein Telegramm sagte uns, daß Onkel in einem Wagen eingeschlafen war, der abgehängt worden und nach Alexandria gefahren war. Bei der Trauerfeier im Hause sah ich von Ferne Erich Radtke. Dann fiel ein eiserner Vorhang, der Welt und Leben und Hoffnung, Frohsinn und Zukunft abschloß und nur den verschleierten Blick noch freiließ in die Vergangenheit.



 

135 Die Wartburg ist eine Burg in Thüringen, über der Stadt Eisenach am nordwestlichen Ende des Thüringer Waldes gelegen. 1521/22 hielt sich der Reformator Martin Luther als „Junker Jörg“ hier versteckt und übersetzte während dieser Zeit das Neue Testament der Bibel ins Deutsche. Johann Wolfgang von Goethe weilte mehrfach hier, erstmals im Jahr 1777.

135b Georg Friedrich war Freimaurer, Mitglied der Königsberger Loge "Zu den drei Kronen".

Eigentlich ist ein "Kränzchen" eine Freimaurerloge, die sich gerade gründet - Marie Bock versteht darunter einen Ball.

136 Dr. Lahmanns Sanatorium, Dresden, Stadtteil Weißer Hirsch.

136a

Geburtstag von Marie Lemke, ca. 1917, im Zoo in Königsberg/Pr.
zu den Namen: http://schaper.org/ahnen/lemcke/14_15_enkel.htm



 

 

 

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