Auf der Suche nach meinem Leben

 

   
       
   

 

 

Baden-Baden

 

Baden-Baden! Der Winter war vorbei, die Bächlein fingen an von den Bergen zu rinnen, die lauen Lüfte kamen von den Bergen herab, die Herrlichkeit des süddeutschen Frühjahrs, mir unbekannt, packte und berauschte mich. Ein ganz neues Leben zog auch in unser Pensionat ein. Die kurzen Spaziergänge wurden ausgedehnt, bald wieder begannen die Ausflüge in die Umgebung und die Einkehr im Gasthaus; der Gesang unserer Schar klang wieder auf den Straßen (manch eine Schülerin rüstete zum Abschied) die Sommerkleider wurden hervorgesucht. In diese Stimmung fiel die Einladung von Tante Johanna die Osterferien in Baden-Baden zu verbringen.

Onkel Alfred128 auch ein Bruder meiner Mutter, der das Hauptgeschäft von C. F. Eckhardt in London hatte, hatte die Villa Hohenlohe von der Königin Viktoria129, die oft dort gewohnt hatte, gekauft und ganz wundervoll ausgebaut, ohne den Charakter des schlichten Landhauses zu verwischen.


Villa Hohenlohe, ehemals Kapuzinerstraße 14


Viele Monate wohnten sie in London und auch der deutsche Haushalt war ganz nach englischem Muster aufgezogen. Es war der vornehmste und best geleitete Haushalt den ich kennen gelernt hatte130. Alles ging nach der Uhr und alles genau nach der Regel; es war undenkbar zu spät zu kommen oder die Hausordnung zu stören; auch der Hausherr richtete sich genau. Zum Dinner um 6 Uhr machte man Toilette, die Herren kamen im Frack, die Damen meist ausgeschnitten. Die Mädchen gingen vormittags in Weiß mit gestreiften Kleidern, nachmittags in schwarz mit weißen Schürzen, weißem Kragen und weißem Häubchen. Die Küche hat mir mein ganzes Leben als Muster vorgeschwebt. Die Mädchen saßen an einem sorgfältig gedeckten Tisch und hatten ihren Schaukelstuhl für die Ruhepausen. Gäste waren fast dauernd da, zu meiner Zeit Freiherr von Kittlitz, er hatte Tante Johannas Schwester zur Frau, und sein Bruder Leutnant von Kittlitz. Wenn man das schöne Haus und den herrlichen Garten sah an einer der schönsten Stellen Baden-Badens, das gesunde lebenslustige Ehepaar, dann mußte man denken: sind diese Menschen beneidenswert. Aber sie hatten dem Glück ihre Schuld bezahlt. Das einzige Kind, ein bildhübscher 14 jähriger war ihnen einige Jahre vorher an den Folgen einer Diphtherie gestorben; nun betäubten sie sich und irrten besonders zur Weihnachtszeit ruhelos in der Welt umher. Zu mir ist Tante Johanna sehr gut gewesen.


Alfred Eckhardt,
Kaufmann in Baden-Baden,
mit Ehefrau Johanna

In Genslack hatte Tante Johanna mich kühn und wild reitend sehn, jetzt machte sie ihr Wort wahr und ich bekam schwarzseidene Reithosen und ein Reitkleid dazu. Reitstunden von Leutnant von Kittlitz. Ich war begeistert. Leider vergaß er, daß er keinen Kavalleristen vor sich hatte. Ehe ich sicher war und mir mit dem langen Reitkleid helfen konnte, hätte er alle Vorsicht walten lassen sollen. So achtete er z. B. nicht darauf, daß das junge Tier, die Maiblume, mehrere Tage gestanden hatte; ich wurde von dem übermütigen Tier aus dem Sattel geworfen und mit den Händen mich an den Hörnern des Sattels haltend einige Male durch die Manege gejagt. Leutnant von Kittlitz bekam einen großen Schreck, und ich hatte dadurch das sichere Gefühl auf dem Gaul verloren. Ich bin noch oft ausgeritten, aber ganz sicher und übermütig wie zuvor nicht mehr geworden. Die bezaubernde Natur in den herrlichen Apriltagen, die Ausflüge in den tieferen Schwarzwald, die Gesellschaften, die interessanten Gäste, die Freude, daß ich Englisch sprechen konnte, die ersten Cigaretten, der erste Flirt, das alles machte mich glücklich, und ich schrieb davon meinen Freundinnen in die Pension. Am 26. April mußte ich scheiden. Als ich in Amorbach ankam, war auf der Bahn nicht eine meiner Pensionsschwestern, aber alle 3 Schwestern Sommer. Sie nahmen mich in die Mitte, und ich mußte versprechen nichts weiter von Baden-Baden zu erzählen; meine Briefe hätten große Unruhe unter die Mädchen gebracht. In der Pension wurde ich stürmisch begrüßt, ich war der Held des Tages, aber ich mußte meinem Versprechen gemäß vorerst schweigen.

Dieses Mal wurde mir das Eingewöhnen nicht schwer, denn die Arbeit begann sofort, neue Schülerinnen waren eingetreten und wurden mir z. T. anvertraut und außerdem wirkte das 3te Ereignis das unser klösterliches Leben unterbrechen sollte: der große Jahresausflug.


3.) Für unsere heutige Jugend bedeutete solch ein Ausflug nichts. Zu meiner Zeit war dies Heraustreten aus der gewohnten Umgebung, das Wandern, das Wohnen in Gasthäusern eine ganz große Seltenheit. Das Vergnügen war nicht eine Unterbrechung der Arbeit, eine Zerstreuung die immer wieder eine neue Ankurbelung der Arbeitsstimmung lebendig machte und Kräfte verzehrte, sondern es stand am Ende einer langen sauren Arbeitszeit und war kraftspendender Genuß. Bei dieser reinlichen Scheidung war die Aufnahmefähigkeit eine zehnfache; und die Einstimmung und Vorbereitung vertiefte den Eindruck und die klare Erinnerung des Einzelfalles machte das Vergnügen zu einem Erlebnis für das ganze Leben.

Einen Rucksack trugen Mädels damals nicht, wir schnürten unser Bündel und hingen es um die Schulter, wir hatten aber alles darin, was wir brauchten, selbst eine gute Bluse fürs Theater. Bis Darmstadt ging es mit der Bahn, Museum, Holbeinsche Madonna131 abends im Theater Hasemanns Töchter132. Ich habe mir immer gewünscht es noch einmal zu sehen, nur eine Radio Wiedergabe hat mir vor einigen Jahren meine Jugend und meine damalige Stimmung wieder vorgezaubert. Am Tag darauf jung, gesund, das Leben vor sich bei schönem Frühlingswetter durch die blühende Bergstraße bis Heidelberg! In der Universitätsstadt wurde unser Zug geteilt, damit wir nicht zu sehr auffielen, aber trotzdem sprengten ein paar übermütige Studenten unsren Zug zu zweien, ein paar dunkle Augen hatten es uns angetan und noch wochenlang spielte der schöne Unbekannte ein große Rolle bei abendlichen Gesellschaftsspielen. In Neckargemünd, dem Endspiel der Wanderung brachten uns vor den Fenstern des Gasthauses Studenten abends ein Ständchen. Herausgucken durften wir nicht, aber welche Seligkeit! –

Die letzten Monate in Amorbach waren mühelose Ernte. Voll ausgefüllt und reibungslos glitten die Tage dahin. Ich wurde getragen von dem unbedingten Glauben von Madame und den Lehrerinnen Mademoiselle Laure, Miss Lucy und Miss Ecdie, von der Liebe meiner Pensionsschwestern ja von einer zärtlichen Verehrung der jüngeren Mädchen, denen ich in der ersten Zeit des Eingewöhnens und des Heimwehs half. In Amorbach habe ich erlebt, welche eine Wohltat es ist in einer Umgebung zu leben, in der man die Grenzen von Gut und Böse genau kennt, in einem Raum der Pflicht den man ganz erfüllen kann, unter Menschen, die den guten Willen in jedem Fall voraussetzen, auch jede Entgleisung, jede Schwäche wird dann nicht zu einer Sünde, die uns drückt, sondern zu einem Erlebnis, das uns fördert. „Honor alit artes133. Daß die Leiterinnen des Pensionats dieses Verständnis für mein Wesen fanden über alle meine Schwächen hinweg werde ich ihnen nie vergessen. Mag man heute über manche Anordnungen lächeln, das Verhalten zeugt von Größe.

Es war beabsichtigt, daß ich bis zum Herbst in Amorbach bleiben sollte. Ich lebte also im Sommer noch mit meiner ganzen Seele in der Pension, als ein Brief eintraf, der mich herausrief. Mein Vater war im Krankenhaus des Roten Kreuzes in Wiesbaden und ich sollte zu ihm. So hatte ich auch das Glück, aus Amorbach zu scheiden und einen Abschnitt meines Lebens abzuschließen, ehe das Spielen mit den neuen Empfindungen und Hoffnungen, die die Aussicht auf Heimkehr mit sich brachten, dies letzte Erleben verblassen ließen, ehe es vollendet war.

Am Abend vor meiner Abreise sprach Madame sehr lieb mit mir und gab mir durch ihre Worte ein solches Vertrauen zu mir selbst und meiner Kraft, daß ich ein wertvolles Rüstzeug mitbekam für meinen Eintritt ins Leben und all das Schwere, das mir bevorstand. Auch meine Stellung im Vaterhause hat sie mir gegeben durch ihren anerkennenden Brief an die Eltern. Ich habe ihn leider unter den Papieren meiner Mutter nicht gefunden.

So wurde ich denn unter dem Geleit der ganzen Pension – gewöhnlich gingen 1-2 Freundinnen mit – an die Bahn gebracht. Einige Blüten aus dem Sträußchen von Madame habe ich noch heute – reichlich flossen die Tränen von beiden Seiten. Mir war schwer ums Herz. Der Zug fuhr los. Auf Wiedersehen! Aber er rangierte nur. Als ich unbemerkt zurückkam, standen alle, die bis zum Verschwinden gewartet hatten, noch auf dem Bahnhof, aber lachend und scherzend. Da lachte auch ich, und alle riefen jetzt lachend auf Wiedersehen, als der Zug nach einer Sekunde davonfuhr.

Damals habe ich zum ersten Mal das „Stirb und werde134 erlebt, das ein Wahrzeichen für mein ganzes Leben geworden ist und lächelnd fuhr ich der Zukunft entgegen. Das Backfisch war zurückgeblieben, fast physisch spürte ich es: ich war gereift.



 

128 Alfred Eckhardt, Kaufmann in Baden-Baden, geb. 14.02.1840 gest. 23.02.1926 in seiner Villa in Baden-Baden; 1 Sohn Alfred (Bobby)

129 Victoria, Königin von England und Irland. Kaiserin von Indien (1819-1901). Im März 1872 stattete Queen Victoria ihrer ebenfalls verwitweten, schwerkranken Schwester Feodora (Anna Feodora Auguste Charlotte Wilhelmine (* 1807 in Amorbach; † 1872 in Baden-Baden, Villa Hohenlohe am Michaelsberg)) erstmals einen rein privaten Besuch in Baden-Baden unter dem Pseudonym einer Herzogin von Kent ab. Kurz nach Queen Victorias Besuch war Feodora von Hohenlohe-Langenburg gestorben und in Baden-Baden bestattet worden. Im darauf folgenden Jahr hielt sich die englische Königin für drei Tage und im Frühjahr 1876 wieder für längere Zeit im Oostal auf. Mit ihrer jüngsten Tochter Beatrice und einigen wenigen Vertrauten wohnte sie in der Villa Hohenlohe. Am 27. März 1880 kam Queen Victoria zu ihrem letzten Besuch in die Kurstadt und erwarb sogar das Haus der verstorbenen Schwester, welches neun Jahre später allerdings wieder verkauft wurde (Quelle: Internet, Autorin Rika Wettstein, Baden-Baden). (Anmerkung: das Haus müsste demnach 1889 an Alfred Eckhardt verkauft worden sein). Disraeli hat 1875 in der Villa Hohenlohe mit Queen Victoria den Kauf der Suez-Kanal-Aktien eingeleitet. Die Villa wurde wahrscheinlich 1860 erbaut (Quelle: Inaugural-Dissertation Gabriele Häussermann 2004)

130 Anmerkung Marion Sehmsdorf: dort war auch ich 1914/15 M.S.

131 Graf Algarotti hatte in Venedig für den Kurfürsten von Sachsen eine Anzahl Gemälde, welche noch jetzt die Dresdener Galerie (Staatliche Kunstsammlungen Dresden) zieren, darunter als Hauptstück die Holbeinsche Madonna, angekauft (Anblick der Maria Holbein).

132 Adolf L'Arronge Hasemanns Töchter

133 Übersetzung von Marion Sehmsdorf: Ehre ernährt Künste

134 Zitat aus West-östlicher Divan von Johann Wolfgang Goethe



 

 

 

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